Kein Zweifel: Die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm waren eine erstaunliche Manifestation der Mobilisierungspotentiale sozialer Bewegungen in Deutschland. Nach Jahrzehnten der Baisse nicht bloss von Parteien, sondern auch des so genannten unkonventionellen politischen Engagements in Basisinitiativen, Buergerkomitees und Dritte-Welt-Gruppen hatten viele die Formen und das Ausmass des Heiligendammer Protestes hierzulande schon fuer unmoeglich gehalten.
Riesige Kundgebungen, Demonstrationen, ueber die in den Medien umfassend berichtet wird und aus dem gesamten Bundesgebiet anreisende Aktivisten: das schien dann doch eher typisch fuer protestbereite Franzosen, staatskritische Italiener, auch wie wir seit Tocqueville wissen basisaktive US-Amerikaner, nicht dagegen fuer die Verhaeltnisse in Deutschland. Insofern ist auch verstaendlich, dass die Gipfelproteste bisweilen als Einschnitt, als Wendepunkt und Zukunftszeichen gelten. Doch stehen singulaere, geschichtstraechtige Ereignisse entgegen eines weitverbreiteten Vorurteils zumeist nicht am Beginn einer neuen Entwicklung.
Viel eher sind sie Hoehepunkte, manchmal auch Abschluesse, jedenfalls aber das Resultat eines aelteren Wandels von Politikpraeferenzen, gesellschaftlichen Stimmungen und Mentalitaeten. Die sozialliberale Koalition basierte auf einer Reformeuphorie, welche die gesamten 1960er kennzeichnete, bald nach der Regierungsbildung aber schon wieder verebbte; die Kanzlerschaft Helmut Kohls war durch die konservative >Tendenzwende< ab 1973 kulturell vorbereitet worden; und die legendaeren Demonstrationen im Bonner Hofgarten waren eher der Abschluss des Bewegungsbooms als Impulse fuer ihre weitere Expansion. Gleiches gilt fuer Heiligendamm: Die Zeiten unbekuemmerten Aktienkapitalismus sind seit der Jahrtausendwende vorbei, als die Blase an den Wertpapierboersen platzte; Mehrheiten fuer die >buergerlichen< Parteien hat es bei bundesweiten Urnengaengen zuletzt 1994 gegeben; dass schliesslich die soziale Frage wieder an Bedeutung gewonnen hat und mit sozialstaatsfeindlichen Parolen keine Wahlen zu gewinnen sind, zeigte sich in aller Deutlichkeit bei Angela Merkels ueberraschender Beinahe-Niederlage im Herbst 2005, war aber schon die Quintessenz mancher Analyse der Bundestagswahl 2002 und ist nicht zufaellig seit etlichen Jahren ein vorhersag- bares Ergebnis saemtlicher Meinungsumfragen. Insofern markieren die Heiligendammer Ereignisse eher Altbekanntes, als dass sie etwas Neues einleiteten. Vor allem bestaetigen sie das Attraktivitaetsdefizit anstrengender Dauerengagements und die Praeferenz namentlich Jugendlicher fuer rhapsodische Wohlfuehl-Partizipation. Parteien im Bereich der kontinuierlichen Mitarbeit im uebrigen aber ebenso die sozialen Bewegungen wirken auch deswegen so abstossend auf die nachwachsenden Generationen, weil sie zahlreiche Entbehrungen, permanente Verfuegbarkeit und taegliche Organisationsarbeit verheissen, als Entschaedigung aber weder ueppige materielle Entlohnung noch ein hohes oeffentliches Ansehen zu bieten vermoegen. Wie viel attraktiver ist es da, fuer ein paar Tage nach Heiligendamm zu fahren, in einem Protestcamp zu zelten, abends bei Bier, Musik und Lagerfeueratmosphaere zu diskutieren, stets beseelt von dem Gefuehl, durch das eigene Tun etwas Gewichtiges zu bewirken [manifestiert im vieltausendkoepfigen Polizeiaufgebot] und im Dienst einer unzweifelhaft guten Sache zu stehen nach der Abreise dann aber wieder ungestoert seinem normalen Tagesablauf nachgehen zu koennen. Welche Partei mittelfristig von dem Protest profitieren wird, ist so sicher nicht. Fuer die Linkspartei spricht, dass sie ganz wesentlich Protestpartei ist, den Kurs ihrer Vorlaeuferorganisationen fortsetzend. Die PDS hatte bereits nach der Niederlage bei der Bundestagswahl 2002 verstaerkt die Naehe ausserparlamentarischer Bewegungen gesucht und sich waehrend der Montagsdemonstrationen im Sommer 2004 zum parteipolitischen Sprachrohr des aufkeimenden Protestes gemacht. Die WASG war noch eindeutiger ein Protestphaenomen und als Organisation ueberhaupt nur aufgrund der Unzufriedenheit mit der sozialdemokratischen Agenda-Politik gegruendet worden. Insofern ist die Linkspartei die scheinbar natuerliche Ansprechpartnerin der globalisierungskritischen Gipfelgegner. Kein Zufall auch, dass sie als einzige die zentralen Protestdeklarationen mittrug. Andererseits aber deckt gerade der Vergleich von Montagsdemonstranten und G8-Gipfelstuermern die Schwierigkeiten auf, vor die sich die Linkspartei schon bald gestellt sehen duerfte. Beide Gruppen eint nur der Protest, ansonsten haben sie nicht viel gemeinsam. Bei den G8-Protesten dominierten junge Demonstranten, Angehoerige der Mittelschicht, aus buergerlichen Elternhaeusern, postmaterialistisch, formal hochgebildet, oftmals Studenten, mit optimistischen individuellen Zukunftsaussichten. Aus den Montagsdemos sprach die ganze Verzweiflung einer exkludierten und deklassierten Sozialschicht, die sich aus dem Arbeitsmarkt herausgedraengt und von der Zukunft abgekoppelt sieht. Bei diesen kamen die >Fremdarbeiter<-Aeusserungen Lafontaines gut an, die in Heiligendamm Empoerung ausgeloest haetten. Unter ersteren sind rechtslastige Ressentiments gegen Migranten weit verbreitet, Polemiken gegen >Sozialschmarotzer< treffen hier auf offene Ohren, wie sich ueberhaupt alles um materialistische >Brot-und-Butter<-Themen dreht. Dagegen pflegen letztere ihr multikulturelles Selbstverstaendnis und fordern Gerechtigkeit nicht zuletzt im internationalen Kontext eine Perspektive, die den Montagsdemonstranten wiederum eher fremd ist. Diese kulturell einander voellig fremden Lebenswelten programmatisch zusammenzubinden und eine politische Strategie zu entwickeln, die beide Seiten zufrieden stellt, wird die Linkspartei noch vor elementare Probleme stellen. Enttaeuschungen erscheinen hierbei programmiert. Freilich: Dass eine neue Partei aus dem Nukleus der globalisierungskritischen Bewegung entstehen koennte, ist eher noch unwahrscheinlicher als ungetruebte Harmonie bei der Linkspartei. Dazu muessten sich in dieser Frage klare, polarisierende Fronten abzeichnen die es hier weniger gibt als anderswo, da doch gerade in der Aussenpolitik Menschenrechte und Entwicklungshilfen von allen Parteien als politische Grundprinzipien hochgehalten werden. Dazu muesste v.a. schliesslich das Problem der transnationalen Gerechtigkeit im Kontext der globalen Wirtschaftsverflechtung von einer relevanten Bevoelkerungsgruppe nicht nur als Randproblem, sondern als fundamentaler Konflikt, staerker: als existenzielle Zukunftsfrage ueberhaupt angesehen werden. Existenziell nicht nur fuer etwas Abstraktes, wie >die Erde<, sondern ganz konkret sinnlich wahrnehmbar fuer den Einzelnen selbst. Doch scheint dafuer, ganz salopp gesagt, die so genannte >Dritte Welt< einfach zu weit weg zu sein, als dass sie das Potential besaesse, die gesellschaftliche Konfliktstruktur um eine zusaetzliche Dimension zu erweitern und ein solides Fundament fuer eine neue Partei abzugeben. [Anm. d. Red: Der Autor ist Verfasser des Buches >Die Linkspartei. Zeitgemaesse Idee oder Buendnis ohne Zukunft?<]