Der Hegemann-Skandal liegt ein paar Monate zurück, hat die Kunstwelt und das Feuilleton jedoch nachhaltig erschüttert. Nichts ist original, alles ist irgendwoher geklaut, heißt es jetzt. Doch stimmt das?
Es ist durchaus angenehm, einen Preis zu bekommen. Als ich den Karl Sczuka-Preis 2009 erhielt, wusste ich zunächst nicht, was das überhaupt bedeuten soll. Ich hatte noch nie von dem Preis gehört. Dann erfuhr ich, dass es sich um eine bedeutende Auszeichnung für Audio-Art handelt und dass mit diesem Preis in der Vergangenheit Künstler wie Mauricio Kagel oder John Cage geadelt wurden.
Abbild des Neo-Individualliberalismus
Außerdem gab es viele Euros, was auch nicht unwichtig ist. Kunstkritiker, die meine Kunst zuvor als “Klamauk” oder “Kleinkunst” abgetan hatten, trauten sich das danach nicht mehr zu schreiben. Schade. Auf jeden Fall freute ich mich über den Preis und stellte auf diese Weise fest: Ich bin bestechlich.
In der Kunstszene rennen viele Menschen ziellos umher. Sie sind als Kurator, Künstler, Regisseur, Vermittler oder Autor tätig, entwickeln aber eigentlich keine identifizierbaren Qualitätskategorien für ihr Sujet. Alles geht und scheint irgendwie möglich. Manche der Kunstmenschen laufen aktuellen Trends hinterher, andere sind darauf spezialisiert, persönliche Netzwerke zu konstruieren, an denen niemand mehr vorbeikommt.
Es ist wie im richtigen Leben. Die Kunst wird zum Sammelsurium von Verschiedenheiten, ein zeitgenössisches Abbild des derzeit dominanten Neo-Individualliberalismus. Es gebe eh kein Original mehr, nur noch Kopien, behaupten melancholisch die Erfolgreichen und winken müde ab.
Professionelles Tiefstapeln
In der aktuellen aktuellen Ausgabe der SPEX spricht Chefredakteur Max Dax mit Helene Hegemann und Christoph Schlingensief über die Kunstsprache im Theater. Die zwei Autoren betonen, dass alle Künstler “klauen” würden, der Geniegedanke sei eh überholt.
Gleichzeitig stellen sie sich als Regisseur, bzw. Autorin nicht in Frage. Sie sammeln also zusammen, was ihnen die Postmoderne an Fragmenten oder Fertigbauteilen hinterlassen hat, behaupten anschließend, dass es eh nichts Originales oder Einzigartiges mehr gäbe.
Warum aber sammeln gerade sie? Wozu? Wer “erwählte” sie? Warum nicht du oder ich? Wo findet sich die eigentliche Motivation hinter ihrer Tiefstapelei? Steckt dahinter nur blanker Ehrgeiz oder eine autistische Egomanie? Ist es wahr, dass das Individuum nichts Ungehörtes, Ungesehenes und Unausgesprochenes mehr zeigen kann und alles Widerspenstige schließlich sowieso im Mainstream landet, wie Schlingensief behauptet?
Bloß nicht wie die anderen
Wenn das tatsächlich wahr wäre, dann müsste beispielsweise Valeska Gert (1892 – 1978) längst weltberühmt sein. Ist sie aber nicht. Ich denke, es gibt Wahrheiten und die sind oft erschreckend einfach: Was bedeutet es, wenn eine 17-jährige Autorin wortgetreu ganze Textpassagen eines 30-jährigen Autors kopiert, in welchen es heißt “stundenlang fickte er mir in den Mund” und sie in der Folge im gesamten deutschen Feuilleton als junges Genie gefeiert wird?
Es bedeutet, dass Vladimir Nabokovs Hauptdarstellerin Lolita heutzutage selbst schreiben muss. Nur so können die geilen, alten, heteronormativen Männer unschuldig bleiben und gleichzeitig ihre Machtpositionen sichern. Ich empfehle den geilen Säcken die neue CD meines Bruders Max (MUTTER: Trinken Singen Schiessen.) Dort heißt es im Song “Erlösung von oben”: “Ich möchte alles sein/ bloß nicht wie die anderen.” Das klingt eben nicht nach copy and paste. So klingt ein Original.
Warum finden Sie es denn schade, dass Ihre Kunst nicht mehr als Kleinkunst oder Klamauk bezeichnet wird? Das ist doch eigentlich eher negativ, oder?
Ich möchte alles sein bloß nicht wie die anderen klingt nicht wie ein Original, sondern wie der verzweifelt beim Rennen ums Anderssein, das zum Massenmerkmal unserer Zeit geworden ist, gehechelte Schrei derer, die als Kopien der Individualisten der 70er durch die Gegend laufen – oder auch als Patchworkteppiche aus mehreren Jahrzehnten, aber originell? Das kann man nicht durch Wollen und Streben erreichen, das ist man. Nicht weil man ein Genie ist, sondern weil man unabhängig und eigenständig denkt und arbeitet. Das ist wahnsinnig anstrengend und oft unbequem. Und macht ggf. einsam. Und diese Anstrengung ist es vielleicht, was einen dann wirklich berechtigte, sowohl eigenständig als auch postmodern schnipselnd zu arbeiten und dabei beachtet zu werden.
@senfi: Sicher ist/waren die Begriffe Kleinkunst/Klamauk negativ gemeint. Schade finde ich, dass dieser Kunstkritiker sich zukünftig vermutlich nicht mehr trauen wird, es so zu sagen. (bzw. ihn “Ehrungen” davon “überzeugen”, dass er eventuell nicht richtig liegt, bzw. sich seine ursprünglich Ansicht nun spalten könnte: in eine öffentliche und eine eigentliche…)
@LauraDaub: Du hast die Aussage des MUTTERsongs eigentlich perfekt übersetzt und findest den Text trotzdem nicht originell. Er drückt nämlich genau das aus, was du auch ausdrücken willst: das zwanghafte Streben/die Behauptung “individuell” und “einzigartig” zu sein (was Mainstream ist, wie du ja richtig feststellst.)
Deine Folgerungen aus dieser Erkenntnis liegen allerdings voll im gegenwärtigen Mainstream, da unterscheidest du dich von MUTTER: “Das kann man nicht durch Wollen und Streben erreichen, das ist man.(…) weil man unabhängig und eigenständig denkt und arbeitet.”
Eine unheimliche Festigkeit steht in der Behauptung “das ist man”. Also ist “man” offensichtlich einfach ein Genie oder nicht. Begabt/Unbegabt. Das glauben alle Parteien, natürlich besonders die FDP. Bei dir gedanklich gefolgt vom Glauben an “Unabhängigkeit und Eigenständigkeit.” Also genau der neo-individualliberale Gestus. So liegen deine Definitionen voll im gegenwärtigen neo-individualliberalen Konsens, sind ununterscheidbar vom Mainstream der Postmoderne.
Valeska Gert wollte NICHT alles sein und gleichzeitig NICHT wie die anderen sein. Sie wusste um die Untrennbarkeit der eigenen Individualität/des eigenen Selbst von den Individualitäten/Persönlichkeiten der/aller ANDEREN Individuen. Deshalb wirkt ihre Kunst heute viel stärker, wirkt “individueller”, “eigensinniger” als die Fragmente, mit denen sich postmoderne KünstlerInnen einerseits “Indivídualität” bescheinigen wollen und gleichzeitig um die Aufmerksamkeit der von ihnen verachteten Masse buhlen, die ihnen “Originalität” bescheinigen soll (womit sie gleichzeitig ihre große Abhängigkeit vom Mainstream demonstrieren.)
Empfehlung: http://www.martin-schmitz-verlag.de/Wolfgang_Mueller/Buch.html
Was authentisch ist und was nicht, das ist die große Frage, die immer dann besonders relevant wird, wenn die Gesellschaft an einem bestimmten Punkt angekommen ist, an dem sie sich der geltenden Vereinbarungen neu vergewissern muss. Das ist heute sicherlich der Fall. Deshalb danke für diesen Diskussionsanstoss!
Ein Problem des heutigen Menschen ist seine Identität. Er muss sich seiner selbst versichern können, und er findet sie immer weniger in den traditionellen Ritualen. Daraus resultieren m.E. viele der beschriebenen Symptome sowie krankhafte Ausuferungen in Kunst- und Medienwelten.
Verwechselt werden darf das nicht mit ernsthafter, aber auch mühsamer Weiterentwicklung unserer Kultur(en), d.h. das über Erreichtes Hinausgehen. Adorno schrieb einst: Wer Kunst nicht als das Fremde begreift, begreift Kunst überhaupt nicht (frei zitiert).
Nur auf diesem Weg komme ich zum “Original”, was auch ein Original ist. Es ist das “Orginal”, dass das lebt. Danke für den interessanten Beitrag.