Störfaktor Mensch? Gesundheitsschutz in der Industrie 4.0 vor, in und nach der ‘Corona-Krise’

Werden Regierungen und Unternehmen die ‘Corona-Krise’ als Gelegenheit nutzen, um das Wirtschaftssystem zu überdenken und entsprechend den Bedürfnissen der Menschen und der Umwelt umzugestalten? Oder wird der Shutdown für eine Radikalisierung des Kapitalismus genutzt? – und etwa zu einer beschleunigten Automatisierung führen, die das Risiko verringert, welches der anfällige Mensch (und die anfällige Umwelt) für den Kapitalismus darstellen? Die Sozialwissenschaftlerin Kerstin Guhlemann, die an der Schnittstelle von Gastgewerbe, Industrie 4.0 und Gesundheitsschutz forscht, sucht nach Antworten. Ein Interview.

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Der politisch verordnete Shutdown hat nur augenscheinlich dazu geführt, dass alle Arbeit niedergelegt worden ist. Wie nicht zuletzt die flächendeckende Schließung von Hotels und Restaurants zeigt: Die Läden müssen weiterhin gewartet, gereinigt und gemanagt werden. In dieser ‘toten Zeit’ (ohne regulären Kundenbetrieb) ist es theoretisch möglich, das bisherige Geschäftsmodell zu überdenken. Dies erinnert daran, dass die Shutdown-Option eine gezielte Strategie sein kann, wenn es um die geplante Erneuerung eines ‘Ladens’ oder ‘Systems’ geht: Man fährt alles runter, um in der Schlusszeit zu renovieren; während dessen findet weitgehend unsichtbar gemachte Arbeit statt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was für Arbeit findet nun in der Zeit des Pandemie-bedingten Shutdowns statt?

Die radikale Veränderung der Arbeitswelt, die aus dem plötzlichen Shutdown entstanden ist, hat – wenig überraschend – in erster Linie die bestehende Schere zwischen ‘guter’ und ‘belastender/prekärer’ Arbeit weiter geöffnet, trotz der Adelung letzterer mit dem Prädikat „systemrelevant“.

Die Logik der Neuorientierung folgte zwar in erster Linie dem unmittelbaren Schutz der Gesundheit, doch kamen direkt an zweiter Stelle ökonomische Fragen: Wie arbeite ich im Home Office möglichst effizient, fragten sich überall in Deutschland selbstorganisierte Bildschirmbeschäftigte, die daran gewöhnt waren, die Verantwortung für Zielvorgaben allein bei sich zu suchen. Wie kann ich unter Einhaltung der gebotenen Abstands- und Hygieneregeln mein Geschäft am Laufen halten, fragten sich kleine und große Firmen, die nicht schließen mussten, während die geschlossenen oder radikal reduzierten Branchen wie Gastgewerbe, persönliche Dienstleistungen und Einzelhandel fieberhaft nach neuen Einnahmequellen suchten.

Zu selten bis gar nicht wurden Fragen gestellt, die durch die Veränderungen eine neue Relevanz bekamen – Fragen nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf blieben flächendeckend das Problem der Beschäftigten, Fragen nach gesundheitsgerechter Arbeitsgestaltung wurden kurzerhand auf Ansteckungsprävention reduziert. Es ist so schade wie nachvollziehbar, dass Potenziale menschengerechter Arbeitsgestaltung in Krisenzeiten keine Priorität haben. Aber es wäre noch bedauerlicher, diese Potenziale auch nach dem Shutdown zu ignorieren. Offensichtlich müssen wir wachsam bleiben. Denn die Gefahr ist groß, dass – im Zuge eines ökonomischen Best-ofs digitaler und analoger Arbeitsbedingungen – Rückschritte in den Bereichen Arbeitsschutz und Arbeitsgestaltung als neue Normalität etabliert werden.

Restaurants, die während der Pandemie geschlossen worden sind, werden weitgehend durch algorithmisch optimierte Lieferdienste ersetzt. Der ansteckungsfreie Gastro-Palast kommt auf zwei Rädern zu uns – lediglich als Fantasie. Nach der kontaktfreien Übergabe des Essens sind wir angehalten in der ‘Schutzburg’, die das zu Hause bietet, auf Zeiten zu warten, in der wir möglicherweise doch wieder zum Essen ausgehen und etwa ganz reale Angebote einer Gastronomie 4.0 wahrnehmen können. Welche Indikatoren gibt es aktuell dafür?

Das Gastgewerbe hat in der Corona-Krise einmal mehr die Flexibilität der Branche offenbart. So haben Beherbergungsbetriebe, die schwerlich eine digitale Lösung finden konnten, vorrangig versucht, ihr Angebot auf andere Kundenkreise auszudehnen. Beispielsweise haben sie Tagesbüros für die aus den Firmen verbannten Beschäftigten ohne geeignete Home-Office-Möglichkeiten entstehen lassen. Darüber hinaus haben sie vereinzelt ihre Kapazitäten zur Verfügung gestellt, um Mängel an Krankenhausbetten oder Notunterkünften auszugleichen.

Neben dem grundsätzlichen Entdecken von Hygienekonzepten als neuem Verkaufsargument ist hier keine größere Änderung der Angebotsstruktur erwartbar. Anders die speisen- und getränkeorientierte Gastronomie: Großflächige To Go-Angebote, auch mit „echtem Geschirr“, Versand vorbereiteter Restaurantgerichte zum selber Aufwärmen, „touchless“ Speisekarten, digitale Weinproben und Partys mit virtuellen Getränken – die Bemühungen der Branche um konkurrenzfähige Shutdown-konforme Angebote sind ausgesprochen facettenreich, können aber die Verluste nicht völlig ausgleichen. Und nicht nur die Gastronomie kämpft um ihre Existenz: Der Gastro 4.0-inheränte Wegfall von Servicedienstleistungen trifft die ohnehin schon schlecht verdienende, trinkgeldabhängige Berufsgruppe der Servicebeschäftigten besonders hart.

Wie der Erfolg von Deliveroo oder Amazon zeigt, boomt die Digitalbranche in der gegenwärtigen Pandemie. Unter dem Gebot des Gesundheitsschutzes, gewinnt auch wieder die ‘Vision’ der Industrie 4.0 an Strahlkraft. Bekanntlich wurde die CeBIT (damals “die größte und international repräsentativste Computermesse” Deutschlands) als Plattform genutzt, um diese ‘Vision’ vorzustellen und stark zu machen. Die ‘Vision’ wurde bald von anderen Ländern wie den USA (“Industrial Internet”), Frankreich (“Usine du futur”), China (“China 2025”) und Japan (“Industrial Value Chain Initiative”) übernommen. Bezeichnend ist in diesem Kontext, dass Industrie 4.0 nach der Finanzkrise 2008 aus der Taufe gehoben worden ist – frei nach dem Motto: ‘Wenn wir mit Finanz jetzt an Grenzen stoßen, sollten wir neue Geschäftsfelder im Maschinenpark erschließen’. Könnten Sie skizzieren welche Rolle Arbeit*innen in der ‘Vision’ der Industrie 4.0 spielen?

Die Vision einer vernetzten, sich selbst steuernden Industrie 4.0, in der Arbeitsmittel, Maschinen, Räume und Produkte über das Internet Informationen austauschen und so den Produktionsprozess planen, steuern, ausführen und optimieren, kommt zunächst, trotz des nachträglich geforderten „Mensch im Mittelpunkt“, ohne den Menschen aus. In der Realität werden Menschen in diesen Prozessen immer noch gebraucht, um Teile zuzuliefern, den Prozess zu überwachen, Fehler zu beheben, Abweichungen zu kontrollieren und die fertigen Produkte zu weiterzugeben.

Von den Maschinen werden aktuell eher repetitive Prozesse übernommen, auch solche, die stark belastend oder mit Gefahrstoffen verbunden sind, beispielsweise Löten, Lackieren, Überkopfmontage. Aber es gibt hier und da auch vollautomatisierte Prozesse und Produktionslinien. Grundsätzlich kann mit der Umsetzung dieser Vision die Produktivität erhöht werden. Ein Industrieroboter braucht keine dreijährige Berufsausbildung, wird selten „krank“, nimmt keinen Urlaub, hat keine Kinder zu betreuen und kostet in nur drei Jahren Einsatz einen durchschnittlichen Stundenlohn von 5 Euro.

Wenn die Austeritätspolitik, die nach der Finanzkrise 2008 salonfähig wurde, Züge einer Entmenschlichung trug, wie etwa die neoliberale Restrukturierung des Gesundheitssystems zeigt, so kommt man nicht umhin eben diese Züge auch in der Industrie 4.0 festzustellen. Vor diesem Hintergrund erscheinen Sparmaßnahmen und Industrie 4.0 als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wie sehen Sie diesen Zusammenhang, insbesondere im Hinblick auf die Entwertung des Menschen in der Arbeitswelt?

Die digitale Transformation folgt auf betrieblicher Seite meist einer pfadabhängigen Logik. Die Technologien bieten durchaus auch vielversprechende Potenziale zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Zum Beispiel lassen sich Gefahrenwarnungen in die Arbeitsgeräte integrieren, Arbeitsplätze individuell in Echtzeit ergonomisch anpassen oder Arbeitsprozesse belastungsoptimiert planen.

Wo aber vor deren Einsatz bereits eine Kultur der Profitmaximierung auf Kosten der Beschäftigtengesundheit vorherrschte, werden diese Möglichkeiten sicher nicht genutzt. Darüber hinaus gibt es noch unbeabsichtigte negative Effekte: Wenn beispielsweise Arbeitsprozesse und Einsatzrouten durch Algorithmen optimiert werden, entfallen für die Beschäftigten nicht nur zeitraubende Planungsaufgaben, sondern auch flexibilitätsgenerierende Handlungsspielräume und damit eventuell benötigte Kurzpausen, Reaktionsmöglichkeiten auf kurzfristige Kundenanforderungen oder eigene Bedürfnisse.

In der digitalen Transformation der Arbeitswelten stellt sich häufig die Frage: steht der Mensch im Mittelpunkt oder im Weg? Ersteres scheint selten der Fall, letzteres trifft die Sache eher. Schließlich scheinen die meisten Tendenzen des digitalen Kapitalismus den ‘Störfaktor Mensch’ wegdigitalisieren zu wollen. Das heißt, es geht etwa darum, Menschen durch Maschinen zu ersetzen oder zu Erfüllungsgehilf*innen von Maschinen zu machen (Stichwort: Mensch als Roboter).

In einem Interview mit Personalverantwortlichen eines deutschen Industriebetriebs sagte man uns einmal im Beisein des Betriebsrates, der Mensch wäre eine reine Fehler- und Kontaminationsquelle und würde sobald technisch möglich aus den Prozessen entfernt werden. Dort waren die Prozesse bereits maschinell gesteuert, so dass die Beschäftigten kurzfristig von dem System zu ihrem Einsatzort bestellt wurden. In einem anderen Betrieb führt die Produktionslogik dazu, dass die Systeme den Zulieferern von benötigten Teilen halbstündige Zeitfenster zur Anlieferung zuweisen.

Man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich die Auswirkungen solcher Vorgaben auf den Arbeitsalltag von LKW-Fahrer*innen vorzustellen. Selbst in Handwerk und Pflege gibt es Berichte über automatisch generierte Routen oder Einsatzpläne. Die Anforderung der per GPS-Signal als am nächsten identifizierten Pflegekraft ist sicher rational logisch, kann aber auch zu einem völligen Missverhältnis in der Arbeitsverteilung führen. Das grundlegende Problem ist stets der Verlust von Handlungsautonomie, der eine stake psychische Belastungsquelle sein kann.

Es scheint geboten, über die Frage ‘steht der Mensch im Mittelpunkt oder im Weg?’ hinauszudenken. Denn der digitale Kapitalismus geht das Problem ‘Störfaktor Mensch’ nicht zuletzt auch dadurch an, dass er den ‘Störfaktor Mensch’ instrumentalisiert und zu einer Quelle der Akkumulation von Daten und Kapital macht. Die Arbeitswelten sollen auf die Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnitten sein. Neben derartiger ‘Personalisierung’ hat auch ‘Partizipation’ einen hohen Stellenwert: bei allen Prozessen soll der Einzelne eingebunden werden, nicht zuletzt um möglichst tiefe Datenprofile entstehen zu lassen. So wird die Subjektivität der Arbeiter*innen angezapft – als Kapitalwert an sich, aber auch als Instrument, um Maschinen zu optimieren und die Arbeit von Maschinen überhaupt zu ermöglichen, die etwa auf der Basis von akkumulierten Daten neue Produkte erstellen. Was bedeutet es für Sie, angesichts dieser Widersprüche die Humanisierung der Arbeit 4.0 zu denken und zu fordern?

Ich denke, hier muss man gedanklich trennen, zwischen dem Wirtschaftszweig der Sammlung, Aufbereitung und des Handels mit menschlichen Daten, in dem der Mensch in der Illusion des Konsumenten einer Gratis-Dienstleistung eigentlich das Produkt ist, und den Daten, die im Arbeitsprozess anfallen. In den meisten Fällen sind diese Daten leichter zu schützen als die Spuren, die Menschen bei einem durchschnittlichen Medienkonsum in ihrer Freizeit hinterlassen.

Zu einer Humanisierung der Arbeit gehört daher natürlich auch eine sowohl auf Seiten der Arbeitgeber*innen und Führungskräfte als auch der Beschäftigten gesteigerte Sensibilisierung im Umgang mit personenbezogenen und personenbeziehbaren Daten aus den Arbeitsprozessen. Dazu gehören beispielsweise Bemühungen um Software- und Hardwareanbieter*innen, die unter europäische Datenschutzrichtlinien fallen sowie durchdachte Konzepte zur Erhebung, Aufbewahrung, Speicherung und Löschung anfallender Daten.

In einfachen Worten: Dass der intelligente Handbohrer automatisch Daten erhebt, heißt weder, dass man diese nutzen sollte, um die Arbeitstempi der Beschäftigten zu vergleichen, noch, dass man zulassen sollte, dass der Handbohrer gleichzeitig die Vitaldaten der Beschäftigten aus den Sensoren in den Griffen an seinen Hersteller sendet.

In der durchdigitalisierten Arbeitswelt der Industrie 4.0 scheint auch Gesundheitsschutz eine Frage der algorithmischen Optimierbarkeit. Nebenbei gesagt, erscheint dabei die Gefahr der viralen Infektion auf ein Minimum reduziert – schließlich ist so gut wie alles durch Maschinen mediatisiert, während zwischenmenschliche Kontakte weitgehend reduziert sind. Ist das eine Fiktion oder ist in der Industrie 4.0 Gesundheitsschutz tatsächlich quasi automatisch gewährleistet?

Wenn wir hier gedanklich im Bereich der Produktion bleiben, verringern sich durch den Einsatz von 4.0-Technologien tatsächlich die Gefahren für die Beschäftigten, sei es, weil körperlich fordernde oder gefährdende Arbeiten automatisiert werden und sich die Tätigkeiten von körperlichen zu überwachenden / planenden Aufgaben wandeln, sei es, weil für die gleichen Prozesse schlicht weniger Personal benötigt wird.

Allerdings kommt es durch die Veränderungen insgesamt weniger zu einer Abnahme, sondern vielmehr zu einer Verschiebung der Gefährdungen von körperlichen zu psychosozialen – für die der Arbeitsschutz leider immer noch zu wenig funktionierende Handhaben und Routinen bereithält. Belastungen ergeben sich hier beispielsweise durch die wegfallende Anwendbarkeit von beruflichen Fachkenntnissen, wenn die ausführenden Arbeiten automatisiert werden. Auch Isolation ist ein Problem in leerer werdenden Produktionsanlagen, ebenso das „Pilotendilemma“ – der Zwang zur Daueraufmerksamkeit bei weitgehender Tatenlosigkeit – bei überwachenden Tätigkeiten und natürlich der bereits beschriebene Verlust von Handlungsautonomie. Es darf auch nicht vergessen werden, dass die mit den Entwicklungen einhergehende Arbeitsplatzunsicherheit oder ein -verlust eine immense Belastungsquelle bilden können.

Sie weisen in Ihrer Arbeit immer wieder darauf hin, dass eine nachträgliche Veränderung der technischen Systeme – und somit auch die Anpassung an Bedürfnisse von Arbeiter*innen – so gut wie nicht möglich ist, weil die Kosten dafür zu hoch seien. Die Kosten entstehen unter anderem auch durch Ausfallzeiten, in denen eine solche Nachjustierung möglich wäre. Nun hat der staatlich verordnete Shutdown eine solche Ausfallzeit generiert. Wie könnte sie nun genutzt werden, um die Arbeitsbedingungen in der Industrie 4.0 zu verbessern?

Selbstverständlich könnte eine Auszeit in Produktionsanlagen dazu genutzt werden, Arbeitsprozesse mit Hilfe der eingesetzten Technik menschengerechter zu gestalten. Denkbar wären hier sogar virtuelle Gesundheitszirkel, auf deren Basis dann eine Anpassung der Systeme und Prozesse hätte vorgenommen werden können. Allerdings können solche Prozesse nur auf Basis von Sicherheit und Stabilität funktionieren, nicht unter der Voraussetzung unsicherer Zukunftsaussichten, die in dieser Krise vorherrschen.

Dementsprechend überrascht es nicht, dass solche Bemühungen aktuell nicht sichtbar sind, zumal die Pandemie neben wirtschaftlichen Existenzbedrohungen neue und dringliche Probleme im Gesundheitsschutz mit sich gebracht hat, für die prioritär Lösungen gefunden werden mussten. Initiativen betreffen aktuell daher hauptsächlich die Abwendung neuer Gefahren durch Verbesserungen im Bereich Hygiene, keine allgemeinen Verbesserungen der Bedingungen.

Welche Probleme, die auch schon vor der Pandemie im Kontext des Gesundheitsschutzes spürbar waren, sollten fortan stärker berücksichtigt werden?

Geboten wäre hier zunächst ein Blick auf die Probleme, die die Pandemiemaßnahmen weiter verstärkt oder offensichtlicher gemacht haben. Erstens, problematische Arbeitsbedingungen in systemrelevanten Berufen, wo das Missverhältnis zwischen Leistung, Belastung, Arbeitszeit auf der einen Seite und Entlohnung – in vielen Fällen auch Ansehen – auf der anderen Seite, sicher nicht durch einmalige Bonuszahlungen aufgefangen werden kann. Zweitens, ungleich verteilte Arbeitsbedingungen beim Zwang zu ortsflexibler Arbeit, die den Beschäftigten vorher schon durch indirekte Steuerungsmechanismen ein nicht von allen zu leistendes Maß an Selbstorganisationsfähigkeiten und –möglichkeiten abverlangte.

Drittens, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die die Beschäftigten in Krisenzeiten ohne Absicherung hinterlassen. Viertens, besonders fragwürdige Arbeitsbedingungen bei besonders marktmächtigen global operierenden Unternehmen, die durch die Krise eher noch an Marktmacht gewonnen haben. Insgesamt muss trotz der aktuellen körperlich-viralen Bedrohung der Blick stärker auf die steigenden psychosozialen Belastungen gerichtet werden, die weiterhin mit der digitalen Transformation einhergehen.

Der Gesundheitsschutz ist schon vor der Pandemie mit Hilfe von Apps imaginiert und ausprobiert worden. In diesem Szenario liefern Arbeiter*innen ständig persönliche Daten. ‘Freiwillig’, wie häufig betont wird, ohne die inhärenten Zwänge zu reflektieren, zu denen auch gehört, dass es auch Arbeitgeber*innen um die Optimierung ihrer Performance geht, wenn sie sich im Konkurrenzkampf mit Kolleg*innen und Maschinen behaupten wollen. Das kommt natürlich auch Arbeitgeber*innen gut zupass. Gesunde Arbeiter*innen funktionieren besser als kranke. Dass Gesundheit auch digital optimiert werden kann – somit also auch Funktionsfähigkeit – zeigt sich im Kontext der Rüstungsindustrie 4.0, die parabelhaft Entwicklungen in der zivilen Industrie 4.0 vorwegnimmt. Hier werden etwa Cyber-Helme konstruiert, die es ermöglichen, Soldat*innen mehrere Tage wach und funktionsfähig zu bleiben. Der Tatort “Krieg im Kopf” hat solche Zukunftsarbeiter*innen während des Shutdowns einem Massenpublikum warnend vorgestellt. Brauchen wir solche Warnsignale, um die Digitalisierung des Gesundheitsschutzes kritisch zu hinterfragen oder laufen sie aktuell ohnehin ins Leere, weil sich in der gegenwärtigen Pandemie alle Prioritäten und Kriterien ohnehin verschobenen haben?

Die Möglichkeiten der Beeinflussung der Leistungsfähigkeit von Beschäftigten, beispielsweise durch Anpassung von Licht, Klima oder dem Aktivierungslevel der Aufgaben können sicher punktuell nützlich sein, zum Beispiel zur Vermeidung von Unfällen bei Fahrtätigkeiten oder zur Unterstützung anderer konzentrierter Tätigkeiten. Genauso ließen sich Daten aus Werables der Beschäftigten wie Armbändern nutzen, um ungünstige Belastungsspitzen zu erkennen, Arbeit gleichmäßig zu verteilen oder Pausen zu optimieren.

Allerdings bieten diese Tools eben auch die Möglichkeit der Überlastung, der digitalen Leistungskontrolle oder des Eingriffs in das Privatleben der Beschäftigten. Eine ständige Aktivierung führt zwar kurzfristig zu Leistungssteigerungen, mittel- und langfristig aber eher zu negativen Belastungsfolgen und Erkrankungen. Erschöpfungssignale dauerhaft technisch unterstützt zu unterdrücken ist im Grunde ähnlich übergriffig wie eine Anreicherung der Wasserspender mit Koffein, was sicher niemand gutheißen würde.

Nicht nur, aber auch während einer Pandemie könnten diese Erschöpfungssignale auch Erkrankungssignale sein, die unerkannt andere gefährden können. Eine entsprechende Sensibilisierung von betrieblichen und überbetrieblichen Akteur*innen ist daher dringend geboten, auch oder gerade in Zeiten anderer Prioritäten.

Anm. d. Red.: Die Fragen stellte die Berliner Gazette Redaktion. Das Foto oben stammt von Nærings- og fiskeridepartementet und steht unter einer Creative Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 2.0).

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