Kapitalismus oder Leben retten? Gesundheitspolitik und Arbeitskämpfe in der Pandemie

Jene, die das System mit ihrer Arbeit (auch während der Pandemie) stillschweigend am Laufen halten, werden als “Held*innen” verklärt. Dies leistet einer Entmenschlichung Vorschub:  von “Held*innen” wird erwartet, dass sie sich aufopfern und wie Maschinen ackern, statt zu streiken. Dies unterstützt nicht zuletzt das im Westen verbreitete Phantasma vom “Kapitalismus als intelligenten Computer”, dessen “Betriebssystem” die mit Arbeit verbundenen Reibungen und Störungen in Wohlgefallen auflöst. Die in Sydney lebende Wissenschaftlerin und Aktivistin Angela Mitropoulos will Arbeit anders denken. Ein Interview.

*

In Ihren Büchern Contract & Contagion: From Biopolitics to Oikonomia (2012) und Pandemonium: Proliferating Borders of Capital and the Pandemic Swerve (2020) plädieren Sie für ein “soziales Verständnis von Gesundheit und Krankheit”. Könnten Sie kurz erklären, was genau Sie hier unter “sozial” verstehen?

Es gibt zwei Punkte, die ich für wichtig halte. Erstens ist ein soziales Verständnis von Gesundheit und Krankheit eine Absage an die Prämisse der neoliberalen Gesundheitspolitik, nach der Gesundheit und Krankheit des Einzelnen als eine Frage der “Eigenverantwortung” und implizit der “persönlichen” Entscheidungen verstanden wird. Dieser Grundsatz der “persönlichen Verantwortung” verschleiert die materiellen Bedingungen, unter denen Menschen krank werden oder sich guter Gesundheit erfreuen.

Seit dem späten zwanzigsten Jahrhundert – und noch viel länger in Ländern wie den Vereinigten Staaten – hat die neoliberale Politik die Kommerzialisierung der Pflege, die Umwandlung des öffentlichen Gesundheitswesens in das private Versicherungswesen, die Bezeichnung von Patient*innen als Kund*innen und nicht zuletzt die Verlagerung des Risikos auf Einzelpersonen und private Haushalte vorangetrieben.

Wie ich in “Pandemonium” dargelegt habe, ist die Privatisierung des Gesundheitswesens in China seit den 1980er Jahren weitgehend aus den Diskussionen über die Pandemie verschwunden. In den Vereinigten Staaten hat dieses System der privaten Versicherung das teuerste und technologisch fortgeschrittenste Gesundheitssystem der Welt und den größten kommerziellen Einzelhandelsmarkt für Arzneimittel hervorgebracht. Es ist auch ein System, das die präventive Gesundheitsfürsorge untergräbt, hohe Raten an chronischen Krankheiten hervorbringt und daher furchtbar ist im Hinblick auf den Umgang mit einer Pandemie (insbesondere wenn die Auswirkungen von COVID-19 durch so genannte Grunderkrankungen verschlimmert werden).

Auch wenn die Privatisierung der Gesundheitsversorgung sicherlich eine Funktion des Kapitalismus ist, muss klar sein, dass die Idee der “persönlichen Verantwortung” moralisch-ökonomisch ist, da sie von konservativen Theologien der Sünde und der Erlösung abgeleitet ist, denen zufolge die Ursachen von Gesundheit und Krankheit mystifiziert und als eine Auswirkung des moralischen Verhaltens des Einzelnen betrachtet werden. Selektive Gesundheitsfürsorge verstärkt die ungleichen materiellen Bedingungen von Gesundheit – während ihre Ergebnisse wegerklärt werden, als seien sie die Folge von moralischem Versagen oder einfach Schicksal.

Zweitens wurde in der Geschichte der Sozialwissenschaften (und anderer Disziplinen wie Recht und Philosophie) “sozial” oft als Synonym für “national” verstanden. Das ist nicht die Bedeutung, in der ich es verwendet habe, aber es ist wichtig, die Umstände zu verstehen, unter denen es entstanden ist, und wie sich dieses Verständnis verändert hat. Im 18. Jahrhundert kam es zu einer Verschmelzung von “sozial” und “national”, weil die Sozialwissenschaften und insbesondere die mit der öffentlichen Gesundheit verbundenen Bereiche, wie die Epidemiologie, an der statistischen Kartierung von Bevölkerungen innerhalb der Grenzen eines definierten Staates beteiligt waren. In der Gesundheitspolitik wurde diese Annahme als eine klare Spaltung innerhalb der Verfügbarkeit von Gesundheitsversorgung übernommen – und diese Spaltung hat sich in den letzten Jahrzehnten noch verschärft.

Diese Selektivität sollte explizit gemacht und zurückgewiesen werden – in “Pandemonium” beschreibe ich dies als eine Unterscheidung zwischen der politischen Repräsentation des Demos und dem ökonomischen Konzept von Bevölkerungen. Jede*r sollte Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, wo er oder sie lebt und arbeitet, aber die Spaltung zwischen den Demos und den Bevölkerungen macht die (arbeitende) Bevölkerung entbehrlich, weil sie ihren Wert in Bezug auf die Produktivität erfährt. Die Beschränkung der Gesundheitsfürsorge auf die Bürger*innen ist eine Katastrophe für die öffentliche Gesundheit, und dies wird unter den Bedingungen einer Pandemie besonders deutlich.

In der gegenwärtigen Pandemie scheinen soziale Ansätze in der Gesundheitsversorgung durch “Quarantäne-Nationalismus” ausgeschlossen zu sein. Oder sehen Sie dennoch Anzeichen für ein soziales Verständnis von Gesundheit?

Ich denke, es gibt zwei, vielleicht drei Tendenzen, die sich überschneiden, um etwas außerhalb dieses nationalistischen Rahmens zu schaffen. Die offensichtlichste ist die Entstehung eines globalen Systems der Gesundheitspolitik, nämlich der Weltgesundheitsorganisation. Die WHO sollte nicht unkritisch behandelt werden. Wie andere Organisationen auch, ist sie oft von neoliberalen Ansätzen im Umgang mit Gesundheit und Krankheit beeinflusst worden und setzt sich aus nationalen Regierungen zusammen, ist in der Finanzierung von reicheren Regierungen abhängig. In der Vergangenheit hat sie manchmal versucht, Regierungen davon zu überzeugen, ihre Aktivitäten zu finanzieren, indem sie Ängste vor Krankheiten förderte, die Grenzen überschreiten oder aus armen Ländern in den globalen Norden wandern können.

Nichtsdestotrotz gab es während der Pandemie wichtige Divergenzen zwischen der WHO und den nationalen Regierungen, die die unterschiedlichen Interessen verdeutlichen. Die WHO hat, wie auch andere öffentliche Gesundheitsbehörden, dem Quarantäne-Nationalismus keinen Glauben geschenkt und in einigen bemerkenswerten Fällen darauf hingewiesen, dass dieser Kurs nicht wirksam zur Eindämmung der Krankheitsübertragung beitragen würde.

Gleichzeitig haben die sozialen Medien und das Internet die räumlichen Bedingungen für publikumslose Nationalist*innen verändert. Dies hat es zwar ermöglicht, Verschwörungs-Narrationen über die Entstehung der Krankheit in Umlauf zu bringen und gefährliche “Wundermittel” zu fördern, aber auch den Austausch von Informationen, Forschung und die Diskussion von Maßnahmen, die die Übertragung von SARS-CoV-2 wirksam unterbinden könnten. Die frühe offene Beschaffung von Genomsequenzen beispielsweise ermöglichte es, Tests wesentlich schneller zu entwickeln.

Ich möchte den anhaltenden Einfluss des nationalistischen Affekts nicht unterschätzen, denn für viele Menschen war die Krankheit erst dann ernst, als sie diejenigen traf, die wie sie selbst aussehen. Aber ich denke, dass sich vor allem unter den Beschäftigten des Gesundheitswesens ein Gespräch entwickelt hat, das durch die Betonung dessen, was wirksam ist oder Leben retten kann, sowohl Verschwörungstheorien als auch ineffektive Regierungspolitik kraftvoll zurückgedrängt hat.

Bevor wir uns eingehender mit den Möglichkeiten sozialer Ansätze in der Gesundheitsversorgung in der gegenwärtigen Pandemie befassen, sollten wir die Kritik am “Quarantäne-Nationalismus” erweitern. Er lebt vom Autoritarismus, verbunden mit der Privatisierung des Gesundheitswesens. Welches sind für Sie die problematischsten Widersprüche, die mit diesem Trend einhergehen? Und wie werden sie während der gegenwärtigen Pandemie sichtbar?

Überwachung, Inhaftierung und Abschiebung haben schon immer an der Schwelle zur Staatsbürgerschaft und zum Status als Rechtssubjekt gestanden, ebenso wie Selektivität im Gesundheitswesen. Es ist nie der Fall gewesen, dass neoliberale Regierungen die Bewegungen von Menschen erleichtert haben – das heißt, nicht außerhalb eines Systems, das diese Bewegungen in die Zirkulation von Waren oder Arbeit als Ware umwandelt. Auf einer Ebene scheint es also einen Widerspruch zu geben, aber nicht, wenn man diese scheinbar widersprüchlichen Tendenzen so versteht, dass sie darauf abzielen, den Kapitalkreislauf zu erleichtern.

Mein Argument in “Pandemonium”, wie schon in “Contract & Contagion”, ist, dass der Neoliberalismus endogene Wendepunkte hin zu einer autoritären Regierung (bis hin zum Faschismus) mit sich brachte, und dass viele davon unter kolonialen Umständen bereits existierten. Diese Wendepunkte liegen dort, wo die Schwelle des Mehrwerts liegt – und hier liegt die Bedeutung von Rassismus und Frauenfeindlichkeit, da diese höhere Ausbeutungsquoten scheinbar rechtfertigen (was durch geschlechtsspezifische und rassische Lohnunterschiede belegt wird).

Der sichtbarste Aspekt dieses Umstands war während der Pandemie die Abhängigkeit der eingesperrten Privathaushalte von der als notwendig erachteten Offline-Arbeit, die in der Regel schlecht bezahlt ist und in der Schwarze und Braune Menschen, darunter viele Frauen und Migrant*innen, in der Überzahl sind. Ein Großteil dieser Arbeit ist zunehmend gefährlich geworden, insbesondere in Ermangelung einer angemessenen persönlichen Schutzausrüstung. Was wir aber sagen können, ist, dass dieser Aspekt der Pandemiepolitik nur insofern funktioniert hat, als die Gefahr des Hungers, der Obdachlosigkeit und der Abschiebung über den Köpfen derjenigen schwebte, die die Arbeit derjenigen sicherten, die in der Lage waren, sich abzusondern und zur Online-Arbeit überzugehen.

Welches Potenzial haben Arbeitskämpfe, um diese Widersprüche sichtbar zu machen, anzusprechen und möglicherweise zu überwinden?

Wie wir diese Interdependenz verstehen und mit ihr umgehen, wird in den kommenden Monaten (und Jahren) Vieles prägen. Es gibt Vorschläge für einen neuen “Sozialvertrag” oder einen politisch-wirtschaftlichen Vertrag in einer prognostizierten Welt nach der Pandemie, der sich auf die Rückzahlung der durch Konjunkturpakete aufgelaufenen Staatsschulden und die Ausweitung des Gesundheits- und Sozialwesens während der Pandemie konzentriert. Dieser Ansatz verlangt eine Sichtweise auf Schulden, die nicht diejenigen opfert, die bereits am meisten geopfert haben.

In Ihrem Aufsatz Workers of the World Unite (2019) dekonstruieren Sie Behauptungen, dass Migrant*innen die Löhne nicht-migrantischer Arbeiter*innen senken. Damit greifen Sie in einen Diskurs ein, der das Wiederaufleben des Nationalstaates als Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung in den Vordergrund stellt. In der gegenwärtigen Pandemie kommt dieser Diskurs mit großer Wucht wieder auf. Da der “Quarantäne-Nationalismus” um sich greift und die separatistischen Untertöne der Abriegelung stärker werden, werden Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen gegeneinander ausgespielt. Wird jedoch nicht der phantasmagorische Grund dieser Taktik als solcher offenbart, der deutlich macht, dass der “Quarantäne-Nationalismus” eine gefährliche Illusion ist? Denn sind Migrant*innen als Arbeiter*innen heute nicht offen dort gefragt, wo sie in der Regel auch am meisten gebraucht werden – im Bereich der Grundversorgung und der Care-Arbeit?

Ich stimme zu, dass sich dies als eine gefährliche Illusion herausgestellt hat. Aber das wird die Entwicklung nicht aufhalten, genauso wenig wie in der Vergangenheit. Die sich abzeichnende Tendenz in den Mainstream-Gewerkschaften und in den Parteien, mit denen sie verbunden sind, insbesondere in ihren konservativen Flügeln, deren Mitglieder aus dem Repressionsapparat des Staates (Polizei, Grenzschutz etc.) kommen, geht in Richtung Korporatismus. Das heißt, migrantische Arbeiter*innen und Arbeitslose auszuschließen und prekären Arbeitnehmer*innen gegenüber weitgehend gleichgültig zu sein, und eine Abrechnung der Staatsschulden in einer Weise durchzusetzen, die diesen Repressionsapparat erweitert.

Das bedeutet nicht, dass der Korporatismus triumphieren wird. “Black Lives Matter” stellt sich ganz klar gegen diesen Trend – bei den Protesten sind Schwarze durch Begegnungen mit der Polizei oder Inhaftierungen einer größeren Gefahr für ihr Leben ausgesetzt, als würden sie dem Virus begegnen. Wie wir mit den Zusammenhängen zwischen Pandemie, Ausbeutung und Repression umgehen, ist von entscheidender Bedeutung. Diese Verbindungen werden nicht innerhalb nationaler Räume geschmiedet, sondern entlang der zerbrechlichen Linien der Versorgungsketten und des Ausmaßes der Solidarität.

Globalisierung hat für uns auch etwas mit “Weltrevolution” zu tun, auch im Sinne von “das Weltweite”, wie Karl Marx es gedacht und antizipiert hat. Dies wurde in den 1960er Jahren in Form von Arbeiter*innen- (und Student*innen-) Revolten im globalen Norden und Widerstandsbewegungen in den (ehemaligen) Kolonien greifbar. Eine solche “Weltrevolution” geht über die Grenzen des Nationalstaates hinaus. Und das ist der Kern der Sache. Dies wurde zum ersten Mal deutlich, als die Idee des Nationalstaates ab dem 18. Jahrhundert vollständig in den Mittelpunkt der Politik rückte. Die virale Verbreitung der Idee des Nationalstaates und des damit verbundenen Nationalismus schaffte es, das im Entstehen begriffene “Wir” der “global” Unterdrückten und Benachteiligten einzudämmen und die Energien dieses im Entstehen begriffenen “Wir” auf das Nationale umzulenken: Statt eines globalen Klassenkampfes flammte ein Kampf der Nationen auf. Es scheint, dass dieser Mechanismus auch heute noch wirksam ist. Sehen Sie in der gegenwärtigen Pandemie dennoch ein Potenzial für das Entstehen eines solchen transnationalen “Wir”? Und wie können Arbeitnehmer*innen in den Bereichen der Grundversorgung und der Care-Arbeit dazu beitragen?

Es ist wichtig, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass der Nationalstaat eine moderne Erfindung ist und kein “natürliches Phänomen”. Ich stimme auch zu, dass er in entscheidenden historischen Momenten Arbeiter*innenbewegungen einhegte (und spaltete). Was Ihre Frage betrifft, und abgesehen von meinen obigen Bemerkungen, so waren zwei der stärksten Momente, die ich während der Black Lives Matter-Proteste in den USA vor kurzem gesehen habe, die von Krankenhauspersonal, das in voller Schutzausrüstung vor einem Krankenhaus in New York City aufgereiht war und den Demonstrant*innen applaudierte, als sie vorbeigingen – die meisten Protestierenden trugen auch selbst eine Schutzmaske. Ein anderer Moment war, als ein Krankenwagen mit Sirenengeheul am Protestmarsch vorbeifuhr und die Fahrer*innen so ihre Solidarität bekundeten. Diese Momente sind ergreifende Illustrationen der Solidarität während der Pandemie, die überproportional Schwarzen das Leben genommen hat, und sie illustrieren weiterhin einen der vielfältigsten und größten Protest, der unter den Bedingungen eines massiven Anstiegs der Arbeitslosigkeit stattfand.

Die Maske ist eine Methode des Schutzes vor dem Virus und der Überwachung während der Proteste und repräsentiert gleichzeitig diejenigen, die ein soziales Verständnis von Fürsorge haben – und diejenigen, die es nicht haben, wie Trump, der sich geweigert hat, eine Maske zu tragen. Black Lives Matter entstand in den USA, ist aber dennoch in gewissem Maße global. Wie bei anderen antirassistischen Bewegungen der letzten Jahre, die sich auf Abschiebehaft konzentrieren, hat sie Etatkürzungen und den Boykott von Gefängnissen zu einer Priorität gemacht. Wichtig ist hier, dass sich bereits Solidaritäten herausgebildet haben, die erstens die Gesundheit und das Leben (nicht als Teil des wirtschaftlichen Kreislaufs) bewerten und zweitens die strategische Bedeutung des Eingreifens in die Materialitäten dieses Kreislaufs veranschaulichen, von Finanzinvestitionen bis hin zu Lieferketten, die an jedem Punkt unterbrochen werden können, von der Rohstoffgewinnung bis zum Verkaufsort.

In dem oben erwähnten Aufsatz schreiben Sie, dass “die ‘Bewegung’ in der ‘Arbeiter*innenbewegung’ keine Metapher ist”. Wie machen Pflege-, Wartungs-, Logistik- und Reinigungspersonal ihr Recht auf Freizügigkeit in der gegenwärtigen Pandemie geltend? Und wie wird dies zur Grundlage für das (Wieder-)Erstarken von Arbeiter*innenbewegungen?

Wie bei allen anderen Märkten wird der Arbeitsmarkt durch Verträge definiert. In einigen Fällen werden diese Verträge durch die Einwanderungspolitiken geprägt, die zum Beispiel die Bedingungen für den Status eines “Gastarbeiters” festlegen und zu Überwachungssystemen führen. Die wirkungsvollste Reaktion auf jedem Markt, einschließlich der Arbeitsmärkte, ist die Ablehnung oder der Bruch von Verträgen – klassisch ist dies der Streik, aber auch Boykott und Ausverkauf. Darüber hinaus wurden einige dieser Überwachungssysteme mit der Einführung der Tracking-Technologie erweitert, die bei der Eindämmung der Krankheitsübertragung deutlich weniger wirksam ist als die Verfolgung von abweichenden Meinungen oder der Überwachung von Arbeitnehmer*innen.

Ein anschauliches Beispiel sind die Vorschläge der Polizei in den USA, solche Systeme zu nutzen, um die Kontakte der bei Protesten festgenommenen Personen zu verfolgen. Um in diese Prozesse einzugreifen, ist nicht nur das Verständnis der Versorgungsketten erforderlich, sondern auch eine klare Aussage zu jedem Zeitpunkt über den Unterschied zwischen dem Schutz von Leben und dem Schutz des Kapitalismus. Die genaue Antwort, die darauf in jedem Fall gegeben wird, ist komplex, aber es ist eine Abrechnung, die meines Erachtens bereits stattfindet.

Ob es dem Korporatismus oder der steigenden Arbeitslosigkeit gelingen wird, dies zu untergraben, ist noch eine offene Frage – aber so oder so wird die Antwort darauf lauten, ob und wie den Arbeitslosen Sparmaßnahmen auferlegt werden und in welchem Umfang (oder unter Ausschluss von) irgendein “Gesellschaftsvertrag” zur Wiederherstellung von sozialem Frieden und sozialer Ordnung geschlossen wird. Wird es sozialen und industriellen Frieden ohne Gerechtigkeit geben?

Wie können (wieder-)entstehende Arbeiter*innenbewegungen zur Verbreitung eines “sozialen Verständnisses von Gesundheit und Krankheit” und zu einem “sozialen Ansatz” in der Gesundheitsversorgung beitragen?

Wie oben, und um es deutlicher zu sagen, gibt es einen scharfen Unterschied zwischen der Rettung von Leben und der Rettung des Kapitalismus. Diese Unterscheidung wird nur deshalb undeutlich, weil sich einerseits viele daran gewöhnt haben, dem Leben von Schwarzen und Braunen, Frauen, Migrante*innen und Menschen, die nicht dieselbe Nationalität haben, einen geringeren Wert beizumessen, und weil andererseits der Kapitalismus eine metaphysische Sicht des Lebens als einer Lebensweise gefördert hat, die in Wirklichkeit oft tödlich und gefährlich ist. Da der Kapitalismus noch nicht abgeschafft ist, stellt sich inzwischen die Frage, wie Risiken definiert und verteilt werden. Es ist möglich, diese anders zu kalkulieren, auf anderen Werten und einer anderen Bilanzierung von Verbindlichkeiten zu bestehen.

Wir fragen uns, ob und wie der erweiterte Begriff sowohl der Arbeiter*innenbewegung als auch der Arbeiter*innenschaft auch von denen auf der vermutlich anderen Seite des Spektrums mobilisiert werden könnte: nähmlich von Tech-Arbeiter*innen und den User*innen, die sich zunehmend als arbeitende Subjekte in einer sich wandelnden politischen Ökonomie wahrnehmen, die der große Datenpolizeistaat heute in Komplizenschaft mit den Big-Tech-Unternehmen fördert?

Wie vielleicht Ihre Frage durch die Einbeziehung von Tech-User*innen andeutet, besteht die erste Sache darin, zu verstehen, dass Arbeit auch dann existiert, wenn es sich vielleicht nicht um einen Lohn- oder Standardvertrag handelt. Der Einsatz von Software und Technologie bei der Überwachung, in Systemen der Inhaftierung, der Polizeiarbeit, der Abschiebehaft ist am offensichtlichsten. Technologiearbeiter*innen, nicht die Eigentümer*innen von Technologieunternehmen, bauen und warten diese Systeme. Sie wissen auch, wie sie funktionieren, und wissen (wenn auch nicht immer), wer sie gekauft hat oder benutzt.

Wir haben bisher noch nicht erlebt, dass Tech-Fachkräfte die enorme Macht nutzen, über die sie verfügen, zum Teil aufgrund der Arbeitsplatzkultur in der Techbranche, der Art und Weise, wie die Migrationspolitik Konflikte unterdrückt, und der Verträge, unter denen die meisten Tech-Fachkräfte arbeiten. Diese Dinge müssen angegangen werden, aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, wissen Tech-Arbeitnehmer*innen immer noch viel besser als Außenstehende, wie bestimmte Technologien funktionieren. Tatsächlich wissen alle Arbeitnehmer*innen, wie ihre Systeme funktionieren – oder sie wissen es nicht.

Kann es eine gemeinsame Grundlage für Kämpfe geben?

Ich würde sagen, dass “Gemeinsamkeiten” nicht so sehr ein Ausgangspunkt oder eine Annahme sein können – eben weil sie doch nur konstruiert werden. Womit ich meine, dass wir ehrlich zugeben müssen, dass die Lebensbedingungen nicht alle gleich sind, ebenso wenig wie die Risiken, und wir müssen die Dynamik verstehen, die Bewegungen in bestimmte Richtungen sowohl spaltet, als auch zusammenführt.

Es gibt dennoch eine klare Wahl zwischen dem korporatistischen Weg (bei dem die Interessen der Arbeiter*innen angeblich mit denen eines Unternehmens und dem wirtschaftlichen Nationalismus übereinstimmen) und jenen Ansätzen, die die Verteidigung der Schwächsten betonen und anerkennen: alle Einkommen (oder Löhne und Sozialeinkommen) werden auf den niedrigsten Punkt sinken. Dies ist keine moralische Position. Es ist eine strategische Position, die sich darauf konzentriert, wo die Schwelle des Mehrwerts an jedem Wendepunkt liegt.

Anm. d. Red.: Die Fragen stellte die Berliner Gazette Redaktion.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.