Ich war gepraegt durch die Einsamkeit des Aufwachsens in einer Kleinstadt an der Grenze zur damaligen DDR und zur Tschechoslowakei, einer intellektuell ziemlich trostlosen Gegend. Meine erste intellektuelle Freundschaft hatte ich waehrend der Zeit des Ersatzdienstes, den ich im Rahmen von Aktion Suehnezeichen in Chicago absolvierte. Mit Rudolf, der sich in der gleichen Situation befand, ging es um alles: Lebensentwuerfe und Lebensformen [Alternativen zur Kernfamilie], Gesellschaftsvisionen [wie ist ein nicht autoritaerer Marxismus moeglich?]. Es war eine Zeit, bei der jede Woche neue Ideen ueber moegliche Studienfaecher aufkamen und wieder verworfen wurden. Rudolf brachte schliesslich die Sozialpaedagogik ein, ich die Ethnologie. Wir studierten beide beides. Der gemeinsame Traum war Entwicklungshilfe.
Von dem Traum der Entwicklungshilfe bin ich dann schon waehrend der ersten Semester des Ethnologiestudiums abgerueckt. Hier wurde ich mit einer modernisierungs- und fortschrittskritischen Perspektive vertraut. Dagegen wurde, etwas naiv, die Wuerde des Anders-Seins gesetzt. Der Eigensinn und die Widerstaendigkeit aussereuropaeischer Kulturen wurde verklaert. Gleichzeitig fuehrte die allgemeine Kritik an Herrschaftsverhaeltnissen zu einer Solidarisierung mit den Armen und Ausgegrenzten. Die spaeter in Mode kommende Forderung, auch Oberschichten ethnographisch zu erforschen, war uns damals nicht in den Sinn gekommen.
Diese allgemeine modernisierungskritische Perspektive wurde mir fremd, als ich mich dann tatsaechlich zu Feldforschungszwecken in anatolischen Doerfern aufhielt – was nicht heisst, dass ich zur Fortschrittseuphorie zurueckkehrte. Ich wurde damit konfrontiert, wie der Sog zur Migration traditionale Lebenszusammenhaenge sozusagen von innen aushoehlte und entwertete. Das doerfliche Leben, das bei aller Haerte und Zumutung die Wuerde des einzelnen in einer Weise hochhielt, wie es der staedtischen Gesellschaft nie gelingt, wurde mit fliegenden Fahnen eingetauscht gegen ein Leben in den trostlosen gecekondus Istanbuls oder Ankaras.
Was mich an der Ethnologie interessierte, war die Entschluesselung der Perspektive des Anderen. Wenn man beginnt als Ethnologe in einer anderen Gesellschaft zu arbeiten, ist man ueberwaeltigt vom Ausmass der Differenz. Vor allem ist man irritiert, wenn etwas als selbstverstaendlich oder normal gesehen wird, was einem selbst als skandaloes erscheint – wie die Ungleichheit der Geschlechter oder Institutionen wie die Blutfehde. Mit der Zeit verschiebt sich die Perspektive. Man entdeckt die Logik, die dem Handeln der Anderen unterliegt. Ihr Verhalten beginnt mit anderen Worten Sinn zu machen. Und je mehr man dies entdeckt, desto weniger selbstverstaendlich werden die eigenen kulturellen Vorannahmen. Das bedeutet nicht, dass man in das Fremde eintaucht – oder das auch nur will. Aber man sucht nicht nur Erklaerungen fuer das Verhalten des Anderen, sondern beginnt, sich selbst zunehmend Rechenschaft fuer das eigene Verhalten abzulegen. Man beginnt sozusagen mit dem Blick des Anderen auf das Eigene zu sehen. Dies ist die unglaubliche Chance und das eigentlich Aufregende an der Ethnologie.
Aber es gibt noch eine andere Seite, die mich an dieser Wissenschaft fasziniert. Es waren immer die schwierigen Seiten des Anderen, die mich beschaeftigten. Ich setzte mich mit Phaenomenen auseinander, die ich sperrig fand. Eine romantische Ethnologie der Zivilisationsflucht war mir sehr fremd. Mein erstes Buch war ueber eine Massenvergewaltigung in Berlin; es folgten dann die Buecher, in denen ich versuchte, die Binnensicht der Arbeitsmigration darzustellen, und in den letzten Jahren setze ich mich mit dem Islamismus auseinander. Mit der nachvollziehenden Behandlung, die die ethnographische Rekonstruktion charakterisiert, verliert man die Einfachheit der Distanzierung. Es wird immer weniger moeglich, den Anderen sozusagen als Monster zu stilisieren, als den ganz Anderen. Es ist die Gemeinsamkeit bei aller Differenz, die beunruhigend ist – und die uns auch noch einmal auf andere Weise mit uns selbst konfrontiert.
Kurz: Was mich fasziniert, ist das Hin und Her zwischen dem Eigenen und dem Fremden; zwischen dem Gemeinsamen und der Differenz – die Verfremdung des Eigenen oder das Gemeinsame in der Differenz.
Orte, in die ich grosses Vertrauen setze, sind die grossstaedtischen Raeume. Grossstaedte sind, anders als Kleinstaedte oder Doerfer, nicht das Eigentum einer ethnischen Gruppe. Sie beziehen ihr Selbstverstaendnis daraus, Metropolen, Weltstaedte zu sein. Und das bedeutet, dass in ihnen neue Formen des Umgangs moeglich werden – jenseits von Hegemonial- und Dominanzanspruechen. Durchaus bezeichnend ist, dass viele Migranten, die Schwierigkeiten haben, sich als Deutsche zu bekennen, sich ohne Probleme als >Berliner< definieren und ihre Liebe zur Stadt ausdruecken. Dies ist die Chance fuer die Entstehung von neuen Bindungen und Loyalitaeten.