Im Rahmen meiner Dissertation habe ich mich mit lateinamerikanischen Autoren aus den Bereichen Kultur- und Kommunikationswissenschaft, Soziologie und [Stadt-]Anthropologie beschaeftigt und ihre Analysen von Strukturen und soziokulturellen Phaenomenen des Kontinents seit den 1980er Jahren untersucht. Dabei fiel mir auf, wie nachdruecklich der Begriff Moderne im Spiel war, ein Begriff, der zur gleichen Zeit in Europa und Nordamerika immer kritischer betrachtet wurde. Laengst war die Moderne hier nicht mehr nur Synonym fuer die Befreiung der Individuen aus den starren Rollenmustern traditioneller Gemeinschaften und fuer die Chance, die Zukunft frei zu gestalten, sondern auch fuer Sinnverlust, Vereinzelung und Reduktion auf Effizienz.
Durch die Beschaeftigung mit >Grenzen des Wachstums< [Club of Rome, 1972] war die gesamte Denkrichtung der Moderne, die ganz auf Ausdehnung, Steigerung und Vervollkommnung ausgerichtet ist, bereits grundsaetzlich infrage gestellt worden. Zudem machte die postkoloniale Kritik darauf aufmerksam, dass das besondere Gefuehl der Moderne, sich frei und immer fortschreitend entwickeln und entfalten zu koennen, mit der materiellen und kulturellen Kolonisierung fremder Erdteile erkauft worden war. So stellt Stephen Greenblatt [>Marvelous possessions< 1991] die Kolonisierung der indigenen Kulturen Ameri¬kas durch die spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert als >kulturellen Kannibalismus<, als einen grossen Akt der Ausdehnung durch Einverleibung dar, und Walter Mignolo [>The darker side of the Renaissance< 1995] arbeitet heraus, wie Amerika damals nicht nur mit der Anwendung von Gewalt durch Europa als Kolonialgebiet einverleibt wurde, sondern auch durch die Unterwerfung unter die eigene Zeitvorstellung. Diese war anfangs vom christlichen Fest¬kalender und dann im zunehmenden Masse von der Herausbildung einer linearen, chronologischen und in Richtung Zukunft offenen Idee von Zeit gepraegt, welche sich in Absetzung vom zirkulaeren Zeitverstaendnis der indigenen Voelker formte. Demnach ist die moderne Idee von Hoeherentwicklung aufs Engste verbunden mit dem Wunsch, sich gegenueber Gesellschafts¬vorstellungen zu erheben und durchzusetzen, die auf >Tradition< aufbauen, das heisst bestimmte Rollenmuster immer wieder neu durchlaufen. Auch die spaetere US-amerikanische Auspraegung von Modernedenken, die schon Frederick Jackson Turner in seiner >frontier hypotheis< [1893] beschrieben hatte, hat demnach mit dem Gefuehl zu tun, sich immer erfolgreich in neue Gebiete ausdehnen zu koennen. Dieses Gefuehl beruht auf der erfolgreichen Expansion nach Westen. Vor dem Hintergrund derart kritischer Hinterfragung der Moderne erscheint es ungewoehnlich, dass lateinamerikanische Autoren ab den 1980er Jahren beginnen, von ihrer >nicht zeitgenoessischen Moderne< [Jesus Martin-Barbero], >peripheren Moderne< [Jose Joaquin Brunner, Beatriz Sarlo] oder einfach von >unserer Moderne< [Jose Joaquin Brunner, Nestor Garcia Canclini] zu sprechen. Als grundsaetzliche Parameter werden die rasanten Verstaedterungstendenzen der letzten Jahrzehnte genannt – Mexiko-Stadt etwa hat mit seinen geschaetzten 20 Millionen Einwohnern laengst die europaeischen Dimensionen von Grossstadt hinter sich gelassen – und die kulturelle Einbindung in >moderne< Denk- und Repraesentationsweisen durch die Alphabetisierung und insbesondere den Zugang zu Medienformen wie Radio, Satelliten¬fernsehen und Internet. Unter dem [Ein]Druck dieser Phaenomene werden immer mehr Lateinamerikaner aus den unhinterfragten Rollen ihrer Traditionen gerissen. Was die neue Debatte um die Moderne in Lateinamerika indes grundlegend von der klassischen westlichen Vorstellung unterscheidet, ist die Abkehr von einer binaeren Sichtweise auf die Moderne als Abloesung und Gegenpol zur Tradition. Statt die Rhetorik von der Tradition als zu ueberwindendem Ausgangspunkt und der Moderne als anzustrebendem Zielpunkt der Entwicklung zu uebernehmen, wie sie sich in den Begriffen >Rueckstaendigkeit<, >Modernisierung<, >Entwicklungslaender< und >Dritte Welt< zeigt, gehen lateinamerikanische Autoren dazu ueber, zu beschreiben wie die Traditionen an den Schnitt¬punkten mit der Moderne nicht einfach hinter sich gelassen, sondern mehr oder weniger kreativ umgedeutet und auf immer wieder veraenderte Weise neu angeeignet werden. Die Moderne wird hier nicht als Ueberwindung der Tradition verstanden, sondern als neue Wahl- und Kombinationsmoeglichkeit verschiedener traditioneller und neuer Elemente. Unter diesem Eindruck werden die Faktoren >Zeit< und >Raum< neu betrachtet, die die westliche Moderneideologie erfolgreich standardisiert zu haben geglaubt hatte. Eine >Multiplizitaet von Logiken< [Brunner] und eine Vielzahl von Zeit¬vor¬stellungen, Zeitverlaeufen, Rhythmen und Zeitperioden wird festgestellt, die sich nicht einfach nacheinander abloesen, sondern ueberlagern, durchdringen und gegenseitig beeinflussen, so dass sich nicht nur verschiedene >Raeume< unterscheiden, sondern ein Ort in sich vielfaeltig ist. Dieser >Zeitenmix< [Fernando Calderon] macht die lateinamerikanische Moderne aus. Mit dieser kreativen Umdeutung des Moderne-Begriffs erreichen die Autoren unterschiedliche Dinge. Zum einen erschaffen sie sich so ein passendes wissenschaftliches Analyse¬instrumentarium zur Bestimmung der Prozesse und Phaenomene ihrer aktuellen Kulturen und Gesellschaften. Darueber hinaus durchbrechen sie das klassische westliche Raster der Moderne, in dem die historischen Verlaeufe und die gegenwaertigen Strukturen der westlichen Gesellschaften als Norm fungieren und sich als universelle Messlatte ausgeben, so dass jegliche Andersheit nur als Abweichung, Mangel und >Rueckstaendigkeit< wahrge¬nommen werden kann. Indem die lateinameri¬kanischen Autoren den Begriff Moderne fuer ihren Kontinent aneignen, machen sie deutlich, dass Lateinamerika nicht mehr einfach mit den Etiketten >Traditionalitaet< und >Rueckstaendigkeit< versehen werden kann. Sie zeigen auf, dass jede neue zeitliche Epoche und ihre Logik den Kontinent weniger dem Bild des Westens angleichen, als dass die eigene Komplexitaet in den Gesellschaften und Kulturen erhoeht wird. So wird dem Westen seine lange Zeit unhinterfragte Rolle als einzige Definitionsmacht fuer die Moderne genommen und stattdessen verdeutlicht, dass die Gegenwart nur in pluralen Raum- und Zeitvorstellungen begriffen werden kann, als >Gegenwart im Plural< sozusagen. Diese Einsicht hat das Potential, weit ueber Lateinamerika hinauszuwirken. So kann etwa in Bezug auf die Globalisierung ein Umdenken einsetzen. Diese waere dann weniger mit dem Muster der Verwestlichung als dem der Komplexitaets¬steigerung zu betrachten.