Westliche Dominanz ist seit Jahrhunderten eine politische, kulturelle und letztlich auch ökonomische Bedingung, unter der weite Teile der Welt leiden und gegen die sich emanzipatorische Bewegungen wie die Dekolonisierungskämpfe auflehnen. Antiwestliche und antikoloniale Rhetorik wird jedoch auch von autoritären und imperialen Akteur*innen genutzt, um reaktionäre Herrschaftsstrukturen zu stärken. Saltanat Shoshanova und Marina Solntseva zeigen am Beispiel Russlands, wie diese Vereinnahmung funktioniert und wie wir ihre toxischen und unterdrückerischen Auswirkungen entschärfen können. Ein Leitfaden für Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen.
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Im heutigen politischen Klima sind die Polarisierung der Meinungen und die Komplexität der Argumente kennzeichnend für unsere Zeit. Dennoch waren wir, zwei dekoloniale Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen, überrascht, als wir erfuhren, dass Walter Mingolo – einer der führenden dekolonialen Denker, Mentor und langjähriger Kollege von Madina Tlostanova (die ihrerseits einen bedeutenden Einfluss auf das dekoloniale Denken im postsowjetischen Raum hat) – beschlossen hatte, Russland als dekolonialen Staat zu bezeichnen (Mignolo, 2023). Igitt! Ein solcher Schlag gegen den dekolonialen Diskurs macht es schwieriger, für die dekoloniale Option zu argumentieren. Unsere Kolleginnen und Kollegen, wie z.B. Selbi Durdieva (2023), haben bereits akademische und semi-akademische Texte verfasst, in denen sie Mignolos Position kritisieren, aber wir hatten das Bedürfnis, einen einfach zu handhabenden, argumentativen Leitfaden zu erstellen, der Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen hilft, Fragen zu beantworten wie „Ist Russlands Krieg nicht dekolonial?“ und „Warum kann Türkmenbaşy nicht als dekolonialer Herrscher betrachtet werden?“
Wie können wir einen dekolonialen Diskurs von einem nicht-dekolonialen Diskurs unterscheiden? Es gibt einige Überlegungen, die klare und überzeugende Argumente für diese Debatten liefern.
Russland war und ist ein Kolonialstaat
Mignolo beschönigt Russland und rechtfertigt seinen Krieg in der Ukraine, indem er die kolonialen und imperialistischen Aspekte von Russlands historischem und gegenwärtigem Handeln herunterspielt oder ignoriert. Dabei offenbart Russlands imperiales und sowjetisches Erbe seinen kolonialen Charakter. Die Anwendung kolonialer Logik auf nicht-russische Subjekte ist offensichtlich. Die Erzählung von der ‚Zivilisierung der Wilden‘, die erzwungene Sesshaftigkeit von Nomad*innen und die Auslöschung lokaler Sprachen und Kulturen, wie im kasachischen Kontext, veranschaulichen diese koloniale Denkweise und Praxis (Cameron, 2018).
Mignolo schreibt, dass Nationalstaaten wie China, Russland und Iran „vor ihrer Gründung keinen Kolonialismus erlebt haben“ (Mignolo, 2023). Es ist jedoch wichtig anzuerkennen, dass Russland, insbesondere während der Sowjetzeit, verschiedene Formen des Siedler*innenkolonialismus praktiziert hat. Ein bemerkenswertes Beispiel ist die Praxis der so genannten Osvoenie – eine koloniale Strategie, die geologische Erkundungen und die Aneignung von Land durch Initiativen wie die „Kultivierung von Neuland“ (Dmitrievskaya, 2023) beinhaltete. Durch diesen Prozess wurden diese Gebiete effektiv umgestaltet, umkodiert und als Teil des sowjetischen Staates beansprucht. Kurz gesagt, der Rahmen des sowjetischen Siedlerkolonialismus (Kassymbekova and Chokobaeva, 2023) ist entscheidend für das Verständnis des heutigen Russlands.
Antiwestlich nicht mit dekolonial verwechseln
Wladimir Putin macht sich einen starken antiwestlichen Diskurs zu eigen und positioniert Russland als „Führer einer neuen antikolonialen Bewegung, die traditionellen konservativen Werten verpflichtet ist“. Er stellt den westlichen Kolonialismus als gemeinsame Bedrohung dar und verbindet Russlands Kampf gegen den Westen mit „Afrikas Kampf für Unabhängigkeit und gegen den Kolonialismus“ (Putin, 2022). Er behauptet: „Viele Jahre lang haben westliche Ideologen und Politiker der Welt erzählt, es gebe keine Alternative zur Demokratie. Damit meinten sie natürlich das westliche Modell, das sogenannte liberale Demokratiemodell. […] Dieser Weg hat sich seit der Kolonialzeit herausgebildet, als seien alle Menschen zweitklassig, während sie die Ausnahme sind. Das geht seit Jahrhunderten so und hält bis heute an.“
Was für ein ‚wunderbares‘ Manifest! Aber kann man es dekolonial nennen? Sicher nicht. Während der westliche Kolonialismus Kritik verdient und Afrikas anhaltender Kampf um Unabhängigkeit und Entkolonialisierung Unterstützung verdient, muss Putin in den Spiegel schauen. Seine anti-westlichen Ideen sind nicht dekolonial. Stattdessen tarnt Putin nur Russlands eigene nationale und imperiale Ambitionen als dekolonial.
Sogar Madina Tlostanova spricht von der Notwendigkeit einer doppelten Kritik: „Wenn in der Vergangenheit viele dekoloniale Denker*innen zu einer doppelten Kritik sowohl des Westens als auch der lokalen (neo-)kolonialen Strukturen neigten, so wird jetzt alles auf eine Kritik nur des Westens vereinfacht. Inzwischen werden seltsame autoritäre Regime am Rande der Moderne von ihnen fast gerechtfertigt“ (Interview mit Tlostanova, 2023).
Interessanterweise räumt Mignolo selbst ein, dass „Dekolonialität kein staatlich reguliertes Projekt ist und sein kann, und dass Dekolonialität daher nicht mit Ent-Westlichung verwechselt werden darf“ (Mignolo, 2023), versäumt es aber, den Diskurs über Russland als dekoloniale Kraft zu dekonstruieren.
Die ‚marxistische Fassade‘ nicht mit Dekolonialität verwechseln
Die Sowjetunion labelte sich selbst und ihre Außenpolitik als ‚antiimperialistisch‘, während sie koloniale Machtbeziehungen vom russischen Zentrum zur nicht-russischen Peripherie aufbaute (@de_colonialanguage, 2024). Bis heute dient dieser ‚antiimperialistische‘ Diskurs als Deckmantel, um Russlands nationale, imperiale und koloniale Expansion zu verschleiern.
Die Sowjetunion brauchte und fand Verbündete im Globalen Süden. In einigen dekolonialen Diskursen Afrikas und Südamerikas wird daher noch immer der Dank an die Vergangenheit für die Verfolgung einer ‚antiwestlichen‘ Politik und die Förderung der Idee einer multipolaren Welt zum Ausdruck gebracht. In ähnlicher Weise waren die historischen Verbindungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Sowjetunion von einer gemeinsamen linken Kritik am transnationalen Kapital geprägt.
Diese Vergangenheit spiegelt sich jedoch weniger in dekolonialen Positionen wider. Ein seltenes Beispiel ist das Ausstellungs- und Forschungsprojekt „Echos der Bruderländer“ (2024). Auch wenn das moderne Russland noch Spuren sozialistischer und marxistischer Ideen trägt und von einer Restwolke ‚linken‘ Denkens umweht zu sein scheint, hat die Ideologie des heutigen Russlands wenig mit linken Kollektivpraktiken gemein. Und selbst in der Sowjetunion waren diese linken Praktiken häufig eher projiziertes Potential als gelebte Realität.
‚Völkerfreundschaft‘ nicht mit Dekolonialismus verwechseln
Russland ist es gelungen, sich nicht nur hinter einer ‚marxistischen Fassade‘, sondern auch hinter dem internationalistischen Mythos der ‚Völkerfreundschaft‘ zu verstecken. Während die Sowjetunion den Mythos der ‚Völkerfreundschaft‘ propagierte, etablierte sie gleichzeitig koloniale Abhängigkeitsverhältnisse. Die Russen galten als die überlegene Nation unter den anderen. So bezeichnete Josef Stalin die Russen während des Zweiten Weltkriegs als das wichtigste Rückgrat der Sowjetunion. In einer Rede im Jahr 1945 bezeichnete er das russische Volk als die ‚hervorragendste Nation‘ unter allen Nationen der Sowjetunion. Nicht-russische Nationen konnten der Sowjetunion nur beitreten, wenn sie die russische Führung bestätigten, und jeder Ausdruck nationaler Identität konnte als Beleidigung empfunden werden. Die Zerstörung der nationalen Eliten begann 1937 und dauerte bis zu Stalins Tod 1953. Das klingt nicht gerade nach Freundschaft, oder?
Leider hat sich daran nicht viel geändert. Im April 2024 eröffnete die so genannte Non-Profit-Organisation Eurasia ein Büro in Armenien und bald werden ähnliche Büros in Moldau, Belarus, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan eröffnet, mit dem Hauptbüro in Moskau. Offiziell wurde diese gemeinnützige Organisation gegründet, um ‚die Interessen der Bürger im postsowjetischen Raum‘ durch Programme für Jugendliche, Lehrer*innen, Journalist*innen usw. zu fördern. Eurasia hat auch eine Kampagne gestartet, um „neue Botschafter Eurasiens“ zu finden. Die Narrative scheinen immer dieselben zu sein.
Multipolarität nicht mit Entkolonialisierung verwechseln
Mignolo argumentiert, dass die „Spezialoperation Russlands in der Ukraine im Jahr 2022“, die seiner Meinung nach eine Reaktion auf die Provokationen der NATO mit Hilfe der ukrainischen Regierung war, einen bedeutenden Wandel in der Weltordnung markiert. Diese neue Ordnung nennt er „die multipolare Welt“ (Mingolo, 2023). Erstens verwendet er den Kreml-Euphemismus ‚Spezialoperation‘ und bezeichnet die Aktionen in der Ukraine nicht als das, was sie sind: ein Angriffskrieg. Zweitens behauptet er die Ankunft einer multipolaren Weltordnung und nennt sie dekolonial. Aber lassen wir uns von der ‚multipolaren‘ Idee nicht täuschen! Auch wenn sie wie eine Ente aussieht, wie eine Ente schwimmt und wie eine Ente quakt, ist sie keine Ente.
Die Idee der Multipolarität wurde von dem rechtsextremen Philosophen Aleksandr Dugin aufgegriffen, der in seiner „Vierten Politischen Theorie“ (2012) schreibt, dass „die Idee einer multipolaren Welt, in der die Anzahl der Pole und Zivilisationen gleich ist, der Menschheit eine breite Palette kultureller, philosophischer, sozialer und spiritueller Alternativen bieten wird“. Auf den ersten Blick klingt das gut: eine Vielfalt von Weltmächten und die Anerkennung der Bedeutung kultureller und religiöser Unterschiede. Obwohl einige den Eurasianismus als „Vorläufer der postkolonialen Theorie“ (Nikolay Smirnov) bezeichnen, ist die Multipolarität in Dugins Denksystem Teil der reaktionären antiwestlichen Rhetorik und unterstützt die koloniale ‚neoeurasianistische‘ Ideologie des heutigen Russlands (Laruelle, 2008).
Während Dugin von der Idee der Multipolarität spricht, leitet er auch das traditionalistische Zargrad-Institut und eine politische Schule, die nach dem Philosophen Iwan Iljin benannt ist, der übrigens sowohl mit den Faschist*innen Italiens als auch mit den Nazis Deutschlands sympathisierte (Budraĭtskis, 2016). Lassen Sie sich also nicht von der ‚multipolaren‘ Idee täuschen. So wie sie vom Kreml aufgegriffen wurde, kann sie als Deckmantel für Autoritarismus und regelrechte Faschisierung dienen, wie Kavita Krishnan (2022) argumentiert.
‚Nicht-Russisch‘ nicht mit dekolonial verwechseln
Die bloße Tatsache, dass eine Person nicht russisch ist, z.B. Menschen aus ehemaligen Sowjetrepubliken, bedeutet nicht automatisch, dass sie dekoloniale Ansichten vertritt; es ist wichtig, die von ihr geäußerten Ideen sorgfältig zu analysieren. Zum Beispiel sind Esen Usubaliev aus Kirgisistan, der die Idee einer ‚neuen Weltordnung‘ unterstützt, oder Mika Badalyan aus Armenien, der sich für den Aufbau einer Volksdiplomatie zwischen den eurasischen Ländern einsetzt, nicht dekolonial motiviert. Auch wenn jemand, wie der kasachische Dichter Olzhas Suleimenov, das Machtzentrum von Russland nach Kasachstan verlagert und gleichzeitig neoeurasische Ideen vertritt, ist er nicht unbedingt ein dekolonialer Aktivist.
Wie Mohira Suyarkulova argumentiert, können bestimmte ‚antikoloniale‘ Aktionen zentralasiatischer Herrscher, die sich vordergründig gegen westliche Dominanz richten, gleichzeitig aber national-autoritäre Strukturen stärken, nicht automatisch als dekoloniale Aktionen bezeichnet werden. Türkmenbaşy, der das ‚europäische‘ Ballett verbot, Islam Karimow, der die nationale Souveränität Usbekistans gegen Moskau verteidigte, und Sadyr Zhaparov, der eine Goldminengesellschaft verstaatlichte, die zuvor kanadischen Investor*innen gehörte, sind nach wie vor autoritäre Herrscher.
Es ist daher wichtig, nicht nur darauf zu achten, wer spricht, sondern auch, was er*sie sagt. Wenn jemand reaktionäre und unterdrückerische Machtstrukturen unterstützt, trägt er*sie dazu bei, die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die unsere Welt ausmachen, zu reproduzieren und zu verstetigen, und kann daher nicht als dekolonial bezeichnet werden.
Ein umfassender dekolonialer Kampf von unten
Mit diesem Leitfaden haben wir zahlreiche Belege dafür geliefert, wie das dekoloniale Denken von Figuren wie Putin, Dugin und sogar Mignolo selbst vereinnahmt wird. Zum Beispiel trat Mignolo dem Rat für den Dialog der Zivilisationen bei, einem Programm (gesponsert von dem Oligarchen Vladimir Yakunin, gegen den inzwischen Sanktionen verhängt wurden), das das Rhodos-Forum organisierte, eine jährliche Veranstaltung mit einer überwiegend antiwestlichen Agenda. Gleichzeitig wurde er in die Jury für das Decolonial Memorial in Berlin eingeladen, ein relativ neutrales und unkritisches Projekt, das demnächst vor dem Berliner Global Village eingeweiht werden soll. Dies deutet auf eine Annäherung an die Strukturen und Mächte hin, die er einst kritisierte.
Es ist jedoch wichtig anzuerkennen, dass es echte dekoloniale Bewegungen gibt, die gegen Russlands Kolonialismus kämpfen. Es gibt sie in Zentralasien, im Südkaukasus und sogar innerhalb Russlands, zum Beispiel in Baschkortostan, der Republik Sacha. Diese Bewegungen werden von einheimischen Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen geführt und bleiben in der westlichen akademischen Welt weitgehend unsichtbar. Der Staat hat die Macht dieser Bewegungen erkannt, denn die Behörden haben sie kürzlich als ‚separatistisch und extremistisch‘ gebrandmarkt und mit der Verabschiedung eines ‚Gesetzes über antirussische separatistische Bewegungen‘ ins Visier genommen. Dieses Gesetz spiegelt die repressive Logik der Gesetze gegen die so genannte ‚internationale LGBT-Bewegung‘ wider, die sich gegen Homosexuelle und Aktivist*innengruppen in Russland richten.
Es wäre jedoch falsch, zeitgenössisches dekoloniales Denken auf einen Bottom-up-Ansatz zu reduzieren. Es ist viel breiter und vielfältiger und umfasst unterschiedliche Perspektiven, Methoden und Standpunkte. Die Idee des kollaborativen Exkolonialismus (‚ex‘ von ‚exit‘) deutet zum Beispiel darauf hin, dass Siedler*innen und indigene Völker in Australien sich die Hände reichen und gemeinsam nach Praktiken suchen und diese entwickeln, um die postkoloniale Realität zu verlassen (Bignall, 2024).
Wie lässt sich überprüfen, ob dekoloniale Debatten emanzipatorisch sind? Sie können einen einfachen Intersektionalitätscheck durchführen. Putin, Dugin und ihre Befürworter*innen werden den Feminismus und die Queer-Bewegung nicht unterstützen, weil ihre vermeintliche ‚Dekolonialität‘ nur ein Teil reaktionärer Ideologie und Machtpropaganda ist und nichts mit sozialen Kämpfen zu tun hat. Emanzipatorische dekoloniale Debatten hingegen sollten die Perspektiven verschiedener unterprivilegierter Gruppen einbeziehen, systemische Unterdrückung thematisieren und auf den Prinzipien von Solidarität und Horizontalität aufbauen. Wenn dekoloniale Debatten diese unterschiedlichen Sichtweisen nicht einbeziehen, dienen sie eher Machtbestrebungen als einer wirklichen Dekolonisierung.