Das Gedächtnis der Flüsse: Giftmüll, Ungleichheit und geteilte urbane Zukünfte

Vielschichtige Collage: Der Fluss Mapocho, wichtigster städtischer Nebenfluss von Santiago de Chile, fließt auf 110 Kilometern durch 16 der 32 Gemeinden der Provinz; aus den Hochhäusern sprießen Wasserleitungen; die Grünflächen an den Ufern gehen nahtlos in Müllhalden über; die urbane Vorzeige-Landschaft wird jäh unterbrochen von heruntergekommenen Sozialwohnungen, an deren Ufern Graffiti-Protestschilder prangen: „por mas y mejor democracia... la derecha noooo...“ („für mehr und bessere Demokratie... die Rechte noooo...“); Umweltgerechtigkeitsaktivistin aus Violeta Paus‘ Dokumentarfilm „Siluetas de agua“ (2021). Artwork: Colnate Group, 2024 (cc by nc)
Artwork: Colnate Group, 2024 (cc by nc)

Wasser, insbesondere fließendes Gewässer wie Flüsse, hat einen besonderen Charakter. Es ist kreislaufartig und vernetzt, wie alle Infrastrukturen des Lebens: Es gibt eine bestimmte Menge Wasser auf der Erde, das in verschiedenen Körpern und Formen zirkuliert, aber es ist immer dasselbe Element, das zurückkehrt, selbst wenn es zu verschwinden scheint. Das gilt auch für die Flüsse, die unsere Städte mit der Welt verbinden und umgekehrt, wie das Kollektiv Sin Fama ni Gloria in seinem Beitrag zur Reihe „Kin City“ zeigt, der den Kampf um Wasser als Gemeingut in Chile und der Stadtpolitik am Mapocho-Fluss ins Blickfeld rückt.

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Erst vor wenigen Wochen, nach heftigen Regenfällen in Zentralchile, kursierten in den sozialen Medien Bilder von Bewohner*innen der Gemeinde Petorca, die die Wiederkehr des gleichnamigen Flusses feierten. Mit Applaus, Hupkonzerten und Jubelrufen wurde das der Fluss begrüßt, der seit 1997 aufgrund einer chronischen Dürre verschwunden war. Die Dürre war nicht nur auf ausbleibenden Regen und die Auswirkungen des Klimawandels zurückzuführen, sondern vor allem auf die exzessive Nutzung der Wasserressourcen durch die Avocado-Exportindustrie.

Das Wassergesetz, das seit 1981 auf der Grundlage der Verfassung von 1980 in Kraft ist und während der zivil-militärischen Diktatur eingeführt wurde, hat in Chile eine einzigartige Situation geschaffen, indem es Wasser zu einem privaten, vom Land unabhängigen Gut erklärt, dessen exklusive Nutzung sich Unternehmer*innen zum Nachteil der lokalen Bevölkerung aneignen können. Der Fall Petorca ist nur einer von vielen, in denen Menschen, Tiere und Vegetation in Chile unter den Folgen der Aneignung und Verschmutzung von Wasser leiden.

Kämpfe um Wasser

Der Vorschlag für einen neuen Verfassungstext, der am 4. September 2022 zur Abstimmung stand und abgelehnt wurde, versuchte dies zu ändern. Die neue Charta war das Ergebnis eines in der Geschichte des Landes beispiellosen Verfassungskonvents, der sich unter anderem aus Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, der indigenen Völker, der institutionellen politischen Parteien und Umweltaktivist*innen zusammensetzte. Der Verfassungsentwurf wurde als Reaktion auf den Aufstand breiter Bevölkerungsschichten gegen das neoliberale Modell der Akkumulation durch Enteignung ausgearbeitet, der im Oktober 2019 begann und in dessen Mittelpunkt die Wiederherstellung des öffentlichen Rechts auf Zugang und Nutzung von Wasser stand. Weit entfernt von der radikalen Vision der Privatisierung der Wassernutzung sieht der neue Vorschlag den Schutz des Wasserkreislaufs und des Wassers in all seinen Zuständen und Phasen durch den Staat vor und erkennt seine Bedeutung für die Ausübung der Menschenrechte und der Rechte der Natur an.

Im Jahr 2023 wurde ein neuer Verfassungstext vorgeschlagen, der wiederum vom Volk abgelehnt wurde. Dieser Vorschlag wurde hauptsächlich von Vertreter*innen der rechtsextremen und rechtsgerichteten Parteien sowie der derzeitigen Regierungsparteien ausgearbeitet. Art. 16 Nr. 35 lit. i lautet: „Das Wasser in allen seinen Zuständen und in seinen natürlichen Quellen oder in den vom Staat geschaffenen Anlagen ist ein nationales öffentliches Gut. Folglich gehören seine Nutzung und sein Eigentum der gesamten Nation. Dessen ungeachtet können Wassernutzungsrechte begründet oder anerkannt werden, die es ihren Inhaber*innen gestatten, diese Gewässer zu nutzen und zu genießen und über diese Rechte in Übereinstimmung mit dem Gesetz zu verfügen, sie zu übertragen und abzutreten“. Mit diesem Vorschlag kehrt das Wasser, das als käufliche Ressource betrachtet wird, auf den Weg der Privatisierung zurück, der in der Verfassung von Augusto Pinochet verankert ist, die trotz der beiden vorgeschlagenen Alternativen immer noch in Kraft ist.

Erinnerungen an Sorgearbeit und Umweltverschmutzung

Der Dokumentarfilm „Siluetas de agua“ (2021) von Violeta Paus prangert die dramatischen Situationen an, die sich aus dieser beklagenswerten verfassungsrechtlichen Regelung ergeben, und zwar anhand von drei emblematischen Fällen: der Wasserkrise in Petorca, der Verschmutzung des Wassers durch übermäßigen Abfall im Hafen von Valparaíso und der so genannten ‚Opferzone‘ von Quinteros und Puchuncaví – bekannt als das Tschernobyl Chiles –, wo das Wasser durch chemische Abfälle aus dem Industriekomplex Ventanas verseucht ist. Paus begleitet drei Frauen, die das Leben unter Umweltgewalt verkörpern, denn es sind vor allem Frauen, die sich organisiert haben, um die Lebensbedingungen der Bewohner*innen dieser drei Orte anzuprangern und zu verbessern. Der Dokumentarfilm porträtiert sie als spezifische Figuren einer kollektiven Verwüstung und nähert sich ihnen durch eine chorische Erzählung: Die Leinwand ist in drei Segmente unterteilt und zeigt die Gesichter von drei Frauen gleichzeitig – ein ästhetischer Kunstgriff, der die strukturelle Dimension des Konflikts und die prekären Lebensbedingungen hervorhebt, eingerahmt von einer Kamera, die Fragmente einfängt, die aus einem größeren Panorama gerettet wurden, das systematisch unterdrückt wird. Es handelt sich um eine Übung der Sichtbarmachung, aber auch um die Schaffung eines Gedächtnisses: das Gedächtnis der Frauen, die Tiere, Pflanzen und Kinder pflegen und aufziehen; das Gedächtnis des vergifteten Wassers, des fehlenden Wassers, des Wassers, das ihnen verweigert wird.

Eine andere Erinnerung, in diesem Fall an den Fluss Mapocho, den wichtigsten städtischen Nebenfluss von Santiago de Chile, der auf einer Länge von 110 Kilometern 16 der 32 Gemeinden der Provinz durchfließt, wurde in den letzten Monaten in der Ausstellung „Oír-Río“ (Höre-Fluss) des Künstlers Máximo Corvalán-Pincheira präsentiert. Das Werk, das im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Staatsstreichs in Chile im Nationalen Museum der Schönen Künste eingeweiht wurde, bestand aus der Installation eines Wasserlaufs, der den Mapocho-Fluss nachbildet.

Die Stimmen städtischer Gewässer

Die Schlichtheit des Werkes steht im Gegensatz zu seiner politischen Kraft, die von mindestens drei Aspekten getragen wird: erstens dem sinnlich-ästhetischen Aspekt, der bereits im Titel der Ausstellung zum Ausdruck kommt und dazu einlädt, den Stimmen des städtischen Wassers aufmerksam zuzuhören, die durch die Wasserbauarbeiten an den Kanälen verschwunden sind oder im Lärm der Stadt untergehen. Zweitens der ökologische Aspekt, der durch die sichtbare Kreisform des Wassers unterstrichen wird, das eine Stahlrampe hinunterfließt, in einen Brunnen fällt und wieder nach oben befördert wird. Dieser einfache Vorgang offenbart die bekannte, aber schwer zu verstehende Tatsache, dass es auf der Erde eine bestimmte Menge Wasser gibt, das in verschiedenen Körpern und Formen zirkuliert, aber immer dasselbe Element ist, das zurückkehrt, selbst wenn es zu verschwinden scheint, wie im Fall der Flüsse.

Und schließlich der eher lokalpolitische Aspekt, der sich auf die traumatische Erinnerung an den Fluss Mapocho bezieht, der während des größten Teils des 20. Jahrhunderts nicht nur eine Müllhalde war, sondern in den während der Diktatur auch menschliche Körper geworfen wurden. Diese Erinnerung greift die Schriftstellerin Nona Fernández in ihrem Roman „Mapocho“ (2002) auf, dessen Protagonist wiederum der städtische Fluss ist, der zum Abwasserkanal und zur Müllhalde des Todes geworden ist. In diesem Fluss schwimmt der Geisterkörper der Protagonistin des Romans, die weder die Stadt noch den Fluss verlassen kann, weil die Erinnerung sie immer wieder zurückbringt, so wie sie uns alle immer wieder zurückbringen wird, bis die ökologische und politische Gerechtigkeit vollständig verwirklicht ist und die Reproduktion der vielfältigen Lebensformen, die die Erde bewohnen, gewährleistet ist.

Stummes Zeugnis kolonial-kapitalistischer Gewalt

Die neue ästhetische Bedeutung des Mapocho-Flusses spiegelt nur seine historische Bedeutung wider, ein Fluss, der sich wie ein stummer Zeuge der sozialen und wirtschaftlichen Dynamik durch die Stadt schlängelt. Einst Lebensader und Handelszentrum der Reche-Mapuche-Gemeinschaften, hat sich der Fluss im Laufe der Jahrhunderte drastisch verändert. Heute führt der Mapocho nicht nur Wasser, sondern auch die Abfälle einer kolonial-modernen Gesellschaft, deren Fortschritt eine Last von Verschwendung und Ungleichheit produziert und mit sich bringt. Von seiner Quelle in den Anden, wo das kristallklare Wasser zwischen schneebedeckten Gipfeln hinabfließt, bis zu seinem Lauf durch die Gemeinden der Hauptstadt spiegelt der Mapocho-Fluss eine starke und spürbare Dichotomie wider. Flussaufwärts, wo elegante Residenzen und gepflegte Plätze die Ufer säumen, scheint der Fluss städtischen Wohlstand und Ordnung widerzuspiegeln. Wenn der Fluss ins Tal fließt und das Stadtzentrum durchquert, ändert sich sein sozioökonomischer Charakter drastisch.

In den Armenvierteln flussabwärts wird der Mapocho nicht nur zu einem Fluss, sondern auch zu einer offenen Abwasserkanalisation. Hier spiegeln sich die Unsicherheit und das Fehlen einer angemessenen Infrastruktur in der Anhäufung von Müll und Unrat in seinem Wasser und an seinen Ufern wider. Der Fluss ist nicht nur durch Abfälle verschmutzt, sondern auch durch die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, die die Extreme der Stadt voneinander trennt. Unter den Brücken, die ihn überqueren, an den Rändern, wo Land und Wasser zusammentreffen, lebt eine unsichtbare und marginalisierte Bevölkerung: verlassene Kinder und Jugendliche, die in diesen Räumen eine prekäre Zuflucht finden, die der Fotograf Sergio Larraín in den 1950er Jahren so einfühlsam festgehalten hat. Heute, mehr als siebzig Jahre später, hat sich wenig geändert. Inmitten der Überreste einer Gesellschaft, die voranschreitet und vergisst, sind diese Kinder mit der Härte des täglichen Überlebens konfrontiert.

Im Schatten der Stadt

Der Fluss Mapocho ist somit ein starkes Symbol für die urbanen, ökologischen, politischen und sozialen Widersprüche. Er ist eine greifbare Erinnerung an die Kluft, die diejenigen, die im Überfluss leben, von denen trennt, die im Schatten der Stadt oder in der Vergessenheit ums Überleben kämpfen. Der Mapocho ist nicht nur ein Wasserlauf, sondern auch ein lebendiges Zeugnis der kollektiven Erinnerung und der offenen Wunden einer Stadt, die darum kämpft, ihren Traum vom Fortschritt mit der marginalen Existenz der großen Mehrheit in Einklang zu bringen.

Das Flussbett, das die chilenische Hauptstadt durchquert, gleicht einer offenen Narbe, umgeleitet und zementiert. Eine Narbe, die Licht und Dunkelheit, Reichtum und Armut trennt und (neu) markiert und uns mit ihren Gerüchen und Geräuschen herausfordert. Sie fordert uns heraus, Lösungen zu finden, um diese Unterschiede auszugleichen, die Würde wiederherzustellen und dem Fluss Mapocho seine ursprüngliche Rolle als Quelle des Lebens und der gemeinsamen Erinnerung zurückzugeben. Was in den Flüssen fließt und klingt, ist das, was wir nicht immer sehen, hören oder fühlen wollen, was weder Buchstaben noch Gesetze auslöschen können: In den Flüssen wohnt der Strom des Gemeinsamen.

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