
Medical Gaslighting beschreibt die Entwertung, das Anzweifeln oder Herunterspielen von Symptomen oder Bedenken von Patient*innen durch medizinisches Personal – ein Problem, das vor allem marginalisierte Gruppen betrifft und schwerwiegende Folgen haben kann: Betroffene erhalten falsche Behandlungen, meiden Ärzt*innen oder verlieren das Vertrauen in ihr eigenes Körpergefühl. Merle Bochmann, Thordis Schreiber, Nele Konradine Finger und Nico Taibner untersuchen die geschlechtsspezifische Dimension dieses gesellschaftlichen Problems.
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Obwohl das Konzept des Medical Gaslighting erst in den letzten fünf Jahren entwickelt wurde, geht der Begriff Gaslighting auf die 1930er Jahre zurück. Er stammt aus dem gleichnamigen Theaterstück „Gas Light“ von Patrick Hamilton. In diesem Stück manipuliert ein Ehemann seine Frau, indem er sie glauben lässt, sie werde verrückt: Er dimmt die Gaslaternen im Haus und leugnet, dass sich deren Helligkeit verändert. Diese psychologische Manipulation geht so weit, dass seine Frau sogar an ihren eigenen Sinneseindrücken zweifelt. Ihr Vertrauen in die eigene Wahrnehmung wird so gezielt untergraben.
Heute geht es weniger um die Manipulation eines einzelnen Strippenziehers als um ein systemisches Problem. Wenn Symptome nicht in die vorgegebenen diagnostischen Kategorien passen oder sich nicht sofort mit standardisierten Methoden erfassen lassen, werden sie oft nicht ernst genommen – trotz der Tatsache, dass diese Methoden erhebliche Wirkungslücken haben, da sie oft nur an bestimmten Körpern und Bevölkerungsgruppen entwickelt wurden. Wenn dazu noch Stress, Arbeitsdruck und Voreingenommenheit kommen, führt das dazu, dass Ärzt*innen die Aussagen von Patient*innen nicht ernst nehmen.
T.s Geschichte
T. leidet an Subhämophilie A. Hämophilie, in der Öffentlichkeit besser bekannt als Bluterkrankheit, bezeichnet das Fehlen oder die Verminderung des Faktors VIII, der für die Blutgerinnung verantwortlich ist. Neben anderen Symptomen führt diese Erkrankung bei den Betroffenen vor allem zu häufigeren Blutergüssen und deutlich stärkeren Blutungen. Es gibt verschiedene Unterformen der Hämophilie. Die Subhämophilie A ist eine besonders schwere Form, von der man lange glaubte, dass sie nur Männer betrifft. Ohne rasche und adäquate medizinische Behandlung können hier schwere Blutungen auch bei relativ leichten Verletzungen tödlich verlaufen. T. hat seit ihrer Diagnose mehr als einmal Medical Gaslighting erlebt oder wurde sogar lebensgefährlich falsch behandelt. Denn die Tatsache, dass Subhämophilie A bei allen Geschlechtern vorkommen kann, ist vielen Mediziner*innen gar nicht bewusst. „Die Symptome der gleichen Krankheit können bei Frauen und Männern unterschiedlich sein. Eine unzureichende Diagnose führt zu einer Ungleichbehandlung, weil die Menschen dann keine adäquate Therapie erhalten”, sagt Prof. Dr. med. Ute Seeland.
Als T. 2021 auf dem Nachhauseweg von einem Auto angefahren wird, erleidet sie eine Gehirnerschütterung und innere Blutungen. Sie bittet sofort um einen Krankenwagen. Als der Krankenwagen eintrifft, übergibt sie dem Sanitäter einen Notfallpass mit allen wichtigen Informationen über ihre Erkrankung. Daraus geht klar hervor, dass T. Subhämophilie A hat und entsprechend behandelt werden muss. „Irgendwann zwischen dem Sanitäter, der meinen Notfallpass mitgenommen hat, und der Notaufnahme wurde in meine Patientenakte geschrieben, dass ich eine Faktor-V-Gerinnungsstörung habe, was bedeutet, dass mein Blut zu dick ist” – das genaue Gegenteil von T.s tatsächlicher Erkrankung.
Die Folge war ein schwerer Behandlungsfehler. 24 Stunden lang wurden T. verschiedene blutverdünnende Medikamente verabreicht, bis die Mutter den Fehler bemerkte. Das hätte für T. tödlich enden können. Immer wieder musste sie das medizinische Personal darauf hinweisen, welche Medikamente sie nehmen durfte und welche nicht. Auch diese Machtasymmetrie, bei der Patient*innen nicht zugetraut wird, auf Augenhöhe über Behandlungsvorschläge zu sprechen, trägt zu Medical Gaslighting bei.
Die Annahme, dass Subhämophilie eine Krankheit ist, die Frauen nicht betreffen kann, hat bei T. dazu geführt, dass ihre Krankheit fast nie diagnostiziert wurde. Auch hier waren ihre Erfahrungen von Medical Gaslighting geprägt. Als ihre Mutter mit Subhämophilie A diagnostiziert wurde, wurde zunächst nur T.s Bruder getestet. T. selbst wurde erst auf Drängen ihrer Mutter untersucht. „Damals war es Konsens, dass die Genmutation von der Mutter auf den Sohn und dann vom Sohn auf die Tochter vererbt wird, also wurde mein Bruder auf die Gerinnungsstörung getestet. Mich wollten die Ärzte zuerst nicht testen, aber nachdem meine Mutter darauf bestand, wurde auch ich untersucht.“
Marginalisierte Gruppen in der klinischen Forschung
Dr. Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, erläutert, wie lange der „weibliche Blick” in der medizinischen Forschung und Lehre gefehlt hat – und teilweise immer noch fehlt. Die unterschiedliche Wahrnehmung von Krankheiten bei Frauen erkläre sich dadurch, dass sich die Forschung bis vor wenigen Jahrzehnten ausschließlich auf den männlichen Körper konzentriert habe. Zudem sei die geschlechtsspezifische Medizin erst in den letzten 10 bis 15 Jahren in die Weiterbildungsordnung für Ärzte aufgenommen worden. Auch in der Studienordnung müsse die geschlechtsspezifische Medizin künftig stärker verankert werden als bisher. „Es wurde zu wenig gelehrt, deshalb gibt es immer noch Ärztinnen und Ärzte, die das Thema noch nicht verinnerlicht haben”, so Groß.
Prof. Dr. med. Ute Seeland betont aber auch positive Entwicklungen in der medizinischen Lehre. „Der männliche Blick war in der Medizin vorherrschend. Durch unsere Arbeit weichen wir das langsam auf.” Auf dem Kardiolog*innenkongress in Mannheim sei das Programm so aufgebaut, dass die Geschlechterverteilung in den Sitzungen ausgewogener ist. „Wir wollen diverse Perspektiven und diverse Ideen”, sagt Seeland.
Ein Grund für den Ausschluss von Frauen aus der klinischen Forschung sind die schwerwiegenden Folgen des Contergan-Skandals in den 1960er Jahren. Seitdem hat sich die Einbeziehung von Minderheiten in medizinische Studien stark verändert. Inzwischen ist es kaum noch möglich, ein Dossier bei den Zulassungsbehörden einzureichen, wenn nicht auch Daten zur Wirkung der getesteten Substanz auf den weiblichen Körper vorliegen.
Dennoch ist die Geschlechterverteilung in den verschiedenen Studienbereichen noch nicht optimal. Tendenziell werden in Studien zur Herzinsuffizienz 25-30% weniger Frauen als Männer rekrutiert. Zudem liege das Problem der Repräsentation von Minderheiten nicht primär im Einschluss dieser Personengruppen, sondern in der Analyse und differenzierten Behandlung. Nicht nur für Frauen sei es wichtig, eine spezifische Auswertung der Studienergebnisse zu erhalten.
Eine geschlechtergetrennte Untersuchung in klinischen Studien liefert im Idealfall Erkenntnisse über unterschiedliche Nebenwirkungen und Dosierungsbedingungen je nach körperlichen Gegebenheiten der Proband*innen. Diese Erkenntnisse können zu einer gerechten und sicheren Verschreibung von Medikamenten oder anderen Behandlungsmethoden führen, die auf die jeweilige Person abgestimmt sind.
Forschungsfördernde Organisationen auf EU-Ebene, in Kanada und den USA fordern seit einigen Jahren Wissenschaftler*innen auf, geschlechtsspezifische Daten zu erheben. Laut Prof. Dr. Oertelt-Prigione geht es nun vor allem darum, die oft noch fehlende Transparenz in der Datenanalyse hinsichtlich geschlechtsspezifischer Unterschiede einzufordern. „Es gibt noch viel zu tun und viele offene Fragen in der Forschung. Aber die erhöhte Aufmerksamkeit führt zu spezifischen Auflagen in der Forschungsförderung, die zu einer vermehrten Produktion von gendersensiblen Daten führen. Und das kommt letztlich den Patientinnen und Patienten zugute“, so Oertelt-Prigione.
Medical Gaslighting und die queere Community
Bei der Recherche zum Begriff Medical Gaslighting stößt man unweigerlich auf die Beispiele Endometriose und PCOS. Dies ist verständlich, da es sich um Krankheiten handelt, von denen Männer kaum betroffen sind. Die medizinische Forschung ist nach wie vor stark auf den weißen, männlichen, nicht behinderten „Einheitskörper” ausgerichtet, so dass das Wissen über diese Krankheitsbilder unzureichend bleibt. Der Weg zur Diagnose ist oft lang und Betroffene erleben immer wieder, dass ihre Schmerzen als einfache Menstruationskrämpfe oder psychosomatische Stressreaktionen abgetan werden.
Trotz zunehmender Aufklärung in den letzten Jahren bleibt die Situation für Betroffene schwierig. Christiane Groß erklärt, wie sich das gesellschaftliche Bewusstsein für Krankheitsbilder wie PCOS und Endometriose in den letzten Jahren verändert hat. „Wir sprechen grundsätzlich mehr über die Geschlechtsspezifität und die Nachteile, die Frauen haben, weil ihr Blick an vielen Stellen gefehlt hat. Jetzt, wo mehr Frauen in Spitzenpositionen kommen, wird es etwas einfacher. Aber es ist immer noch schwierig, weil die meisten Spitzenpositionen sowohl in der Politik als auch im Gesundheitswesen immer noch von Männern dominiert werden”.
In der Diskussion um Endometriose und PCOS wird jedoch oft übersehen, dass auch Transmänner oder nicht-binäre Personen betroffen sein können. Zudem wird oft eine sehr gegensätzliche Sprache verwendet. Beide Krankheitsbilder werden als “Frauenkrankheiten” bezeichnet und der Begriff “Medical Gaslighting” wird daher oft synonym mit “Frauengesundheit” verwendet. Doch schon Marianne Legato, die Pionierin der Gendermedizin, die die erste Definition dieser Disziplin verfasst hat, betont ausdrücklich, dass Gendermedizin keine Frauenmedizin ist. Vielmehr gehe es darum, geschlechtsspezifische Unterschiede zu erforschen, um eine umfassendere medizinische Versorgung für alle zu gewährleisten. Seeland merkt hierzu an: „Zu den marginalisierten Gruppen gehören Frauen, ältere Menschen, aber auch People of Color oder Menschen mit Behinderungen”.
Auch Mitglieder der Queer-Community gehören zu den Gruppen, die in der Medizin diskriminiert werden. Um ihrer Diskriminierung entgegenzuwirken, hat Samson Grzybek die Organisation Queermed gegründet. Die Idee geht auf ein gleichnamiges Projekt in Österreich zurück. Queermed ist ein Portal, auf dem queere Personen Ärzt*innen empfehlen können, die diskriminierungssensibel sind.
Die Empfehlung erfolgt über einen Fragebogen. Der Fragebogen erfasst neben Basisinformationen wie Praxisadresse und Kontakt zur behandelnden Person auch die Zugehörigkeit zu Personengruppen wie trans, inter- und nicht-binäre Menschen, Schwule, Lesben, aber beispielsweise auch Menschen mit Autismus oder Betroffene sexualisierter Gewalt. Damit sollen möglichst viele Dimensionen von Diskriminierung erfasst werden. Denn, so Samson Grzybek: „Selbst wenn Ärzt*innen queerfreundlich sind, können sie dennoch ableistisch oder rassistisch sein”.
Dass queere Menschen beim Arzt diskriminiert werden, bestätigt auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in ihrer 2021 veröffentlichten Studie zu Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen. So berichten lesbische und bisexuelle Frauen, dass sich ihre Behandlung verschlechtert, wenn sie ihre Sexualität offenbaren. Laut einer Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte gaben zudem 26 Prozent der Trans-Personen, die in den letzten zwölf Monaten Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch genommen haben, an, Diskriminierung erlebt zu haben. Damit gehört Deutschland zu den Ländern mit dem höchsten Anteil in der EU.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass Ärzt*innen oft vorurteilsbehaftet sind oder mangelndes Fachwissen zu transspezifischen Themen besitzen. Grzybek betont, dass insbesondere ältere Ärzt*innen oft an diskriminierenden Weltbildern festhalten, die sie vor Jahrzehnten während ihrer Ausbildung erlernt haben. Unter anderem deshalb wird bei Urolog*innen oder Gynäkolog*innen oft die Behandlung verweigert, auch wenn es die eigene Anatomie erfordern würde. All dies führt dazu, dass queere Menschen im Zweifelsfall seltener zum Arzt gehen und wichtige Diagnosen später gestellt werden können.
Wird die Medizin künftig gerechter?
Auf jeden Fall bleibt noch viel zu tun. Geschichten wie die von T. zeigen, welche Folgen es für Patient*innen haben kann, wenn ihre Aussagen von medizinischem Personal nicht ernst genommen werden und medizinisches Fachpersonal nicht geschlechtssensibel geschult wird. Christiane Groß und der Deutsche Ärztinnenbund fordern unter anderem deshalb eine paritätische Besetzung der Berufskammern, die es bisher nicht gibt. Außerdem müsse sich in der Politik die Einsicht durchsetzen, dass Forschungsgelder nur dann vergeben werden dürfen, wenn eine geschlechtersensible Forschung gewährleistet ist.
Samson Grzybek würde sich mehr Unterstützung von Patient*innen im Fall von Diskriminierung wünschen. Es gebe zwar Meldestellen, aber viele Patient*innen wüssten nicht von ihnen. Hinzu komme, dass einige dieser Meldestellen bei den Ärztekammern angesiedelt seien. Das führe zu einem Interessenskonflikt, weil die Kammern einerseits Ansprechstelle für Patient*innen sein sollen, andererseits aber auch Lobbyarbeit für Ärzt*innen machen. „Es gibt noch keine neutrale dritte Position, die Patient*innen gebührend unterstützen könnte”, so Grzybek. Diese Forderung unterstützt auch Sabina Schwachenwalde, Ärzt*in und Autor*in des Sachbuchs „Ungleich behandelt“: „Es braucht eigentlich unabhängige Meldestellen, die eben genau auf Diskriminierung im Gesundheitssektor spezialisiert sind”.
Trotz der Arbeit, die noch vor uns liegt, ist die Sensibilisierung für Geschlecht und Geschlechtersensibilität in der Medizin laut Christiane Groß auf einem guten Weg. „Es hat sich unglaublich viel verändert, vor allem in den letzten fünf bis zehn Jahren. Und manchmal habe ich gedacht, das ist wie ein Rufer in der Wüste. Aber es hat sich wirklich etwas verändert. Und das stimmt mich optimistisch.“