Gas aus Sibirien: Wie können wir ‚Wirtschaftsbeziehungen‘ dekolonisieren?

Oleksij Radynski: „Where Russia Ends“ (2024). Bildrechte: Oleksij Radynski
Oleksij Radynski: „Where Russia Ends“ (2024). Bildrechte: Oleksij Radynski

Russlands umfassende Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 hat nicht zuletzt das komplexe Geflecht geoökonomischer und geopolitischer Interdependenzen zwischen Russland, der Ukraine und dem Rest der Welt deutlich gemacht. Die Energie- und Ressourcenbeziehungen zwischen Russland und der EU, insbesondere Deutschland, wurden zu einem zentralen Thema. Wenig Beachtung fand hingegen der koloniale Charakter der Gaslieferungen, die der Industrie in Deutschland eine Blütezeit bescherten. Die Ausstellung „Leak. Das Ende der Pipeline“ ermöglicht eine Auseinandersetzung mit diesem bis heute nicht aufgearbeiteten Thema, wie Maria Tkachenko zeigt.

*

Gas ist ein wesentlicher Bestandteil der heutigen deutsch-russischen Beziehungen. Seit Beginn der Zusammenarbeit in den 1960er Jahren bis zum Februar 2022 haben beide Länder diese Beziehung immer als eine wirtschaftliche bezeichnet. Zeitweise war es notwendig, die Zusammenarbeit in einen politischen Kontext zu stellen – das Prinzip „Wandel durch Handel“ etwa behauptete, dies sei der Weg zu einer friedlichen Koexistenz in der polaren Welt des Kalten Krieges (Patrick, 2022). Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde Handel zu einem wirksamen politischen Instrument zur Demokratisierung einer totalitären Gesellschaft erklärt.

Trotz der offensichtlichen Politisierung der Gasbeziehungen zwischen Russland und Deutschland wird diese Dimension von beiden Ländern hartnäckig geleugnet, insbesondere seit dem Start des Nord Stream-Projekts. Nord Stream 1 wurde nach dem russisch-georgischen Krieg (2008) und den ukrainisch-russischen Gaskonflikten (2005-2006) geplant, gebaut und in Betrieb genommen. Die Arbeiten an Nord Stream 2 begannen 2015 nach der Annexion der Krim durch Russland, der Stationierung russischer Truppen in der Ostukraine, dem Eingreifen in den Krieg in Syrien und den dort begangenen Kriegsverbrechen.

Sowohl die früheren Abkommen als auch Nord Stream haben Reaktionen der internationalen Gemeinschaft hervorgerufen. Die USA haben sich immer gegen die Energieabhängigkeit der EU-Länder von der UdSSR/Russland gewehrt. Dies geschah natürlich aus wirtschaftlichem und politischem Eigeninteresse: Die Energieabhängigkeit der EU-Länder von den USA sollte erhöht werden. Derweil haben die mittel- und osteuropäischen Länder argumentiert, dass der Bau einer Pipeline unter Umgehung ihrer Territorien – beide Nord Stream-Pipelines verlaufen unter der Ostsee – den Kreml von den Beschränkungen seiner aggressiven Politik ihnen gegenüber befreien würde (Deutsche Welle, 2022). Deutschland (als eine der führenden Nationen und eine der mächtigsten Volkswirtschaften) und Politiker*innen in der Europäischen Union haben diese Argumente jedoch nicht ernst genommen und die sogenannten ‚Wirtschaftsbeziehungen‘ ausgebaut.

Nach dem ‚Ende der Geschichte‘

Der vollständige Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 hat die energiepolitische Abhängigkeit Deutschlands von der Russischen Föderation eindringlich vor Augen geführt. Die Geschichte und Analyse dieser Abhängigkeit war Gegenstand zahlreicher Artikel in den internationalen Medien. In der westlichen Welt des liberalen Pazifismus nach dem ‚Ende der Geschichte‘ schien der Glaube an die Möglichkeit der Kooperation mit autoritären Regimen und deren Kontrolle durch wirtschaftliche Verflechtung das beste Rezept gegen Kriege zu sein. Die Praxis, deren erster Akt das ‚Pipeline-Gas‘ war, (schien) perfekt zu funktionieren: Russland würde nicht gegen internationale Normen verstoßen, um weiterhin Handel zu treiben und Gewinne zu erzielen.

Im August dieses Jahres schaffte es Nord Stream 2 wieder in die Schlagzeilen deutschsprachiger Zeitungen. Im September 2022 legten Unbekannte Sprengsätze, durch deren Detonation drei der vier Pipelinestränge beschädigt wurden. Derzeit sind weder Nord Stream 1 noch Nord Stream 2 in Betrieb, was aber nicht allein an der Zerstörung der Pipelines liegt. Nord Stream 2 wurde nie zertifiziert und für den Betrieb zugelassen, und Nord Stream 1 hat die Gaslieferungen eingestellt, nachdem Russland vollständig in die Ukraine einmarschiert war und die europäischen Länder sich weigerten, für diese Dienstleistung in Rubel zu bezahlen.

Die Ermittlungen führten zu einem Haftbefehl gegen einen Staatsbürger der Ukraine. Im August beschäftigten sich die Medien vor allem mit der angeblichen Flucht des Verdächtigen aus Polen in die Ukraine sowie mit Spekulationen über das Wissen und die Verantwortung von Präsident Wolodymyr Selenskyj für den Bombenanschlag. Doch sowohl Journalist*innen als auch Ermittler*innen tun sich schwer, Licht ins Dunkel zu bringen. In der Oktober-Ausgabe von LeMonde Diplomatique wurde ausführlich nachgezeichnet, wie die Ermittlungen letztlich von allen europäischen Akteur*innen aus Loyalität gegenüber den USA blockiert beziehungsweise verhindert werden.

Wir haben einen Fehler gemacht“

Viele Artikel wurden geschrieben, um zu erklären, was Deutschland in Bezug auf Russland nicht verstanden hat und warum es für das autoritäre Russland viel einfacher ist, ohne wirtschaftliche Beziehungen zu Deutschland und Europa zu funktionieren, als für Deutschland, ohne billiges Gas, Öl und Kohle. Auch die historische Verantwortung Deutschlands gegenüber der Ukraine – sowohl während des Zweiten Weltkriegs als auch in jüngerer Zeit – und seine zögerliche Reaktion auf die Annexion der Krim und die Besetzung der östlichen Regionen wurden deutlich artikuliert, wenn auch nicht im Mainstream.

In Deutschland äußerten Beamte, Funktionäre und Politiker*innen öffentlich Sätze wie „wir haben einen Fehler gemacht“, „Nord Stream 2 war ein Fehler“, „wir haben vieles falsch gemacht“ (Patrick, 2022). Was folgte daraus? Manuela Schwesig zum Beispiel wurde öffentlich für ihr Engagement für Nord Stream 2 kritisiert, allerdings weniger, um klare politische Verhältnisse zu schaffen, sondern zumeist aus Eigennutz der politischen Gegner*innen Schwesigs, die ihre Machtposition als Ministerpräsidentin des Landes Mecklenburg-Vorpommern angreifen wollten. Eine kritische Aufarbeitung und Analyse imperialer Praktiken, etwa durch eine Enquete-Kommission und breite gesellschaftliche Debatten, fand nicht statt. Und all jene, die seit Jahren Lobbyarbeit für russische Interessen in der deutschen Außen- und Innenpolitik betreiben, wurden nicht zur Verantwortung gezogen.

Entdeckung des Urengoi-Gasfeldes

Die Ausstellung „Leak. Das Ende der Pipeline“ von Philipp Goll, Oleksiy Radynski und Hito Steyerl, die von April bis September 2024 im Museum der bildenden Künste Leipzig zu sehen ist, thematisiert ebenfalls die Gasbeziehungen zwischen Russland und Deutschland. In ihrer Arbeit verwenden die Künstler*innen eine Sichtweise, die sich radikal von den etablierten medialen Lesarten und Diskursen über die Gasbeziehungen zwischen diesen Ländern unterscheidet.

Der Diskurs, den ein Imperium aufbaut und durchsetzt, wird total, und wenn eine Nation oder mehrere Nationen das Pech haben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein (d.h. die Unabhängigkeit von Imperien zu erlangen), verschwindet sie als Subjekt der Geschichte und wird Teil des Imperiums. Die Ausstellung von Goll, Radynski und Steyerl erzählt mehrere Geschichten. An einer Wand finden Betrachter*innen eine Chronologie der Gasverträge zwischen Deutschland und Russland: „Timeline: Das Ende der Pipeline“ von Philipp Goll. Die Chronologie reicht vom Kauf der Rohre durch das zaristische Russland von der deutschen Firma Mannesmann an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis zur ‚Ausnüchterung‘ Deutschlands im Jahr 2022.

Der Schlüssel zu dieser Chronologie ist die Entdeckung des Urengoi-Gasfeldes in den 1960er Jahren, dessen schier ‚unerschöpfliche‘ Reserven und die Bereitschaft Russlands, sie zu einem angemessenen Preis zu verkaufen, für die Industrien in Westdeutschland und anderen europäischen Ländern attraktiv waren, die dringend Ressourcen für ihre eigene ehrgeizige Entwicklung benötigten. Die treibenden Kräfte hinter dem anschließenden Gasabkommen waren auf westdeutscher Seite Banken und Großunternehmen (Mannesmann war ein aktiver Akteur in diesem Prozess). Die politische Elite des Landes gehörte nicht zu den lautesten Befürworter*innen dieses Abkommens. Einerseits argumentierte die Wirtschaft, dass der Staatsapparat sich nicht in freie Wirtschaftsbeziehungen einmischen sollte.

Auf der anderen Seite begegnete die westdeutsche Politik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges allen Initiativen der Sowjetunion auf internationaler Ebene mit Misstrauen. Man erwartete einen möglichen Angriff der sowjetischen Streitkräfte vom Territorium Ostdeutschlands aus und befand sich in ständiger Alarmbereitschaft. Die USA, die als Supermacht und Führer der ‚freien Welt‘ einen imperialen Einfluss auf die politischen Prozesse in Westeuropa ausübten und Erfahrungen mit Konflikten mit der UdSSR auf dem Territorium von Drittstaaten hatten, standen unterdessen allen Beziehungen demokratischer Länder zur UdSSR ablehnend gegenüber (Schattenberg, 2022).

Wer Handel treibt, kämpft nicht“

Der Wendepunkt in dieser Geschichte war der Amtsantritt Willy Brandts als Bundeskanzler, der durch seinen Kniefall vor dem Denkmal des Aufstandes im Warschauer Ghetto bekannt wurde, und seine aktive Suche nach Wegen der Aussöhnung mit Ostdeutschland und den Ländern des Warschauer Paktes. Letztlich setzte sich die Auffassung der wirtschaftlichen Interdependenz durch, nach dem Motto: „Wer Handel treibt, kämpft nicht“ (Patrick, 2022).

Dieser Ansatz entbehrt nicht einer gewissen Logik, verkennt aber gleichzeitig den politischen Kontext und lässt die Konsequenzen außer Acht. Ende der 1960er Jahre lebte die Welt in Angst vor einem möglichen Atomkrieg; die demokratischen Staaten, die den Absichten der UdSSR skeptisch gegenüberstanden, rüsteten in Vorbereitung auf einen dritten Weltkrieg ständig auf. Ein Hindernis für die UdSSR im Rüstungswettlauf war der Mangel an Devisen für den Kauf spezifischer ausländischer Ausrüstungen, für die es in der Union kein Äquivalent gab. Mit der Unterzeichnung des ‚Jahrhundertvertrages‘, wie die Presse den Gasvertrag zwischen der UdSSR und Deutschland nannte, verpflichtete sich das mitteleuropäische Land, die Union auf Jahrzehnte mit Devisen zu unterstützen. Was konnte da schief gehen?

Ein weiterer wichtiger Punkt, den Goll in seiner Chronologie hervorhebt, ist die ökologische Dimension dieser Beziehungen. Einerseits wurden die Gasbeziehungen zwischen (West-)Deutschland und (der UdSSR) Russland unter anderem mit dem Wunsch Willy Brandts begründet, dass ‚der Himmel über dem Ruhrgebiet wieder blau werden müsse‘ und daher der Einsatz von Gas anstelle von Kohle als effiziente Lösung angesehen wurde. Andererseits waren die Europäer*innen nicht an den Kosten für den Bau einer Gaspipeline, die Gasförderung, den Bau von Pipelines in Nordrussland und andere damit zusammenhängende Infrastrukturen interessiert, und die sowjetischen Behörden kümmerten sich wenig um die Ökosysteme Sibiriens. In den 1970er Jahren erschienen jedoch Arbeiten, die die ökologische Katastrophe der Region analysierten. Goll verweist insbesondere auf das Buch „Die Zerstörung der Natur in der Sowjetunion“ des Dissidenten Boris Komarov (mit bürgerlichem Namen Ze‘ev Wolfson), in dem die Zerstörung des Ökosystems der Tundra und die Verschmutzung des Baikalsees beschrieben werden.

Kolonialpraktiken vs. Überlebenspraktiken

Herzstück der Ausstellung ist der Film „Where Russia Ends“ von Oleksij Radynski. In seinen Interviews erzählt Radynski, dass die Idee für den Film aus Filmen entstand, die im Archiv von Kyivnaukfilm gefunden wurden. Dieses Material wurde in den 1980er Jahren gedreht, aber nie zu einem fertigen Film verarbeitet. Das Archivmaterial zeigt Landschaften in Sibirien, Episoden aus dem Leben der Ureinwohner*innen und Aufnahmen der Interaktion zwischen Mensch und Tier in der Region. Es gibt auch Aufnahmen von der Produktion: Arbeiter*innen schweißen Rohre, legen Infrastruktur an etc. Es ist nicht bekannt, welche Absichten die Autor*innen dieser Aufnahmen letztlich verfolgten. Wenn man sich jedoch den Kontext vergegenwärtigt – die Zeit der Stagnation und Unterdrückung der nationalen Kulturen in den Republiken –, können sich die Zuschauer*innen, insbesondere jene, die in den Ländern der ehemaligen UdSSR aufgewachsen sind, die erzählerische Begleitung dieser Aufnahmen vorstellen.

Bei der Arbeit mit dem Material wendet Radynski die Technik der Umkehrung an, bei der ein Objekt neu erfunden und seine Aussage verändert wird, während seine ursprüngliche Form (teilweise) erhalten bleibt. Das von Ukrainer*innen gefilmte Material über Sibirien und seine Bewohner*innen, Reichtümer und Landschaften wird von einem Soundtrack begleitet, der die Betrachter*innen in die Geschichte der Besetzung der Region und der Kolonialpraktiken Russlands einführt: Von der Umbenennung lokaler ethnischer Gruppen (Tungusen statt Ewenken, Hezhen statt Goldene, Luoravetlanen statt Tschuktschen) bis hin zur Gleichgültigkeit gegenüber den Lebensräumen und Wanderungen der lokalen Fauna, die das Überleben sowohl der Tiere als auch der indigenen Bevölkerung bedrohte.

In den Materialien zu seinem Videoprojekt weist Radynski darauf hin, dass er sich während der Arbeit an der Erzählung mit Angehörigen indigener Völker beraten hat, was es ihm ermöglichte, dem Namenlosen – in diesem Fall mit entstelltem Namen – Raum zu geben, um seine Geschichte zu erzählen. Die Tonspur in Form von Tagebuchaufzeichnungen informiert die Betrachter*innen auch über die Versuche der Völker Sibiriens, 1990 politische Subjektivität zu erlangen, als eine Region Sibiriens nach der anderen ihre staatliche Souveränität erklärte. Zum besseren Verständnis: Alle nationalen Republiken, die später ihre Unabhängigkeit erklärten und sich vom imperialen Zentrum abspalteten, durchliefen diese Phase. Die Regionen Russlands erklärten ihre staatliche Souveränität, um ihre politische Subjektivität zu erweitern oder, wie im Fall von Tatarstan und Itschkeria, um unabhängig zu werden. Russland unter Präsident Jelzin stoppte die Emanzipation der Regionen, gab Tatarstan zurück und begann einen Krieg mit Itschkeria.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Filmcrew aus der Ukraine in den 1980er Jahren selbst unter (sowjetischer) Besatzung stand und ihre Sichtweise die imperiale Sichtweise Russlands auf Sibirien widerspiegelte. Es war eine Art symbolische Besetzung des Landes, das physisch von der gemeinsamen Metropole eingenommen wurde. Die zeitgenössische Audiosequenz, die das Archivmaterial in einen Lehrfilm verwandelt, der die Geschichte der Besatzung und des Genozids an den indigenen Völkern des Nordens erzählt, durchbricht den Kreislauf der kolonialen Entropie und postuliert stattdessen eine koloniale Solidarität.

Wem ‚gehören‘ die Bodenschätze?

Radynski positioniert seinen fertigen Film als antikoloniales Roadmovie. Damit ist die zentrale Idee des gesamten Werks im Ausstellungsraum präsent: Sibirien und die Ethnien dieser Region stehen unter russischer Besatzung. Sibirien mit all seinen Bodenschätzen gehört nicht Russland, sondern wird von seiner herrschenden Klasse nach kolonialer Logik ausgebeutet, indem sie der Kolonie alles wegnehmen, was wertvoll oder nützlich sein könnte, und ihr Land eher als Lagerhaus denn als zu pflegende Heimat nutzen. Mit dieser Idee leistet der Künstler einen Beitrag zur aktuellen Debatte über die Dekolonisierung Russlands. Zum Ausdruck kommt der Wunsch, den besetzten Völkern und ethnischen Gruppen die Möglichkeit zu geben, politische Subjektivität zu erlangen. Zudem stellen sich Fragen wie „Was ist der Sieg der Ukraine im ukrainisch-russischen Krieg?“ und „Was ist der Verlust Russlands?“

Der Versuch, Strategien zur Vermeidung ähnlicher Kriege in der Zukunft zu entwickeln, führt die westliche imperiale Welt dazu, sich ein Russland ohne imperiale Ambitionen vorzustellen. Die Position, die physische Teilung der Russischen Föderation in unabhängige Staaten zu fordern, hat Anhänger*innen in der ganzen Welt, aber sicherlich nicht mehrheitlich in Russland. Der Vorwurf, der Westen wolle Russland aufteilen, ist eine der ältesten Säulen der Kreml-Propaganda. Ein anderer Vorschlag im Westen lautet, Russland nicht zu teilen, sondern zu demokratisieren, zu dezentralisieren und allen Völkern politische Subjektivität in föderalen Territorien oder Autonomien zu gewähren, und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis. Die Befürworter*innen dieser Position bieten kein realistisches Protokoll für die Umwandlung des imperialen Russlands in eine Gemeinschaft souveräner autonomer Staaten, aber sie führen aktiv Argumente gegen den Zusammenbruch der Russischen Föderation an.

Zu diesen Argumenten gehören: Die Welt wird nicht einen, sondern mehrere Staaten mit Atomwaffenarsenalen haben; der Zerfall bedeutet Chaos an der Macht und Kampf um die Macht; die Wahrscheinlichkeit von Bürgerkriegen steigt. All diese Faktoren, so die Anhänger*innen der zweiten Theorie, werden für die nationalen Minderheiten viel schlimmere Folgen haben als das Leben in einem demokratischen Staat (den es derzeit nicht gibt). Es ist ernüchternd, dass es in der Bevölkerung Russlands, selbst unter den Vertreter*innen der ethnischen Gruppen, keine Forderung nach Sezession und Unabhängigkeit gibt. Schließlich ist es unmöglich, Unabhängigkeit zu erlangen, ohne den Wunsch danach zu haben. Es ist bekannt, dass die russischen Behörden die Medien kontrollieren, so dass es keine Gewissheit über die An- oder Abwesenheit politisch aktiver Bürger*innen der Nationalföderationen gibt und keine Möglichkeit, ihre Ansichten und Bestrebungen ohne Zensur zu erfahren.

Gleichzeitig finden sich im Internet Interviews mit politischen Akteur*innen in Sibirien aus den späten 1980er und frühen 1990er Jahren, Projekte zeitgenössischer nicht-weißer Aktivist*innen, die vor dem Regime Wladimir Putins ins Ausland geflohen sind, und ihre Visionen von der Zukunft ihrer Region in einem demokratischen und dezentralisierten Russland, das den Ländern erlaubt, ihre eigenen Regierungen zu wählen, eine unabhängige internationale und nationale Politik zu verfolgen und ihre eigenen Sprachen, Religionen und Kulturen zu praktizieren. Verzweifelt klang der Traum des sibirischen Aktivisten von der Anerkennung seiner Region als internationales Territorium, in dem UN-Blauhelme ihre Truppen stationieren würden. Vor dem Hintergrund dieser Debatte klingt Radynskis Ansatz direkt und damit radikal. (Zusammenfassung von Texten und Interviews von Saltajev, 2023; Schtepa, 2019; Tarasov, 2013; Sulyandziga & Berezhkov, 2023)

Akt der Freundschaft“

Der dritte Teil der Ausstellung, „Leakage“ von Hito Steyerl, zeigt auf einer großen Wand Bildschirme, durch die sich Bilder wie eine flüssige oder gasförmige Substanz in Rohren bewegen. Das Hauptthema des Gezeigten ist die Bildung eines Diskurses um diese Pipeline als ‚Akt der Freundschaft zwischen dem deutschen und dem russischen (sowjetischen) Volk‘. Ein wichtiges Werkzeug für den Bau ist die Kultur. So kooperierten private Unternehmen wie die Mannesmann AG und die Deutsche Bank, die Ruhrgas AG mit dem Kulturministerium der UdSSR, um Ausstellungen russischer (sowjetischer) Kunst zu organisieren und in Deutschland zu zeigen. Kunst aus Deutschland wurde wiederum in der Sowjetunion ausgestellt. Diese Kulturprojekte wurden als ‚Kulturpipeline‘ (sic!) bezeichnet, die beide Kulturen einander näher brachten und den Gasverträgen einen Mehrwert verliehen.

Eine Besonderheit in diesem Ausstellungsbereich ist die Rekonstruktion eines vierminütigen WDR-Fernsehbeitrags. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen Beamte aus Deutschland und der Sowjetunion, die begeistert über die Vorteile der Zusammenarbeit diskutieren. Am Ende des Videos fragt der Beamte aus Deutschland seinen Kollegen, ob er einen Witz über ‚die Tschuktschen‘ kenne. Dann fügt er hinzu, dass er nicht wisse, ob er solche Witze erzählen dürfe, weil ‚die Tschuktschen‘ sie nicht mögen, so wie ‚die Friesen‘ keine Witze über ‚die Friesen‘ mögen. ‚Die Friesen‘ sind eine ethnische Gruppe, eine Urbevölkerung der Küstenländer Deutschland, Niederlande und Süddänemark, die in Deutschland den Status einer nationalen Minderheit und Schutz genießt. Seit 2007 kämpft die Partei Die Friesen für eine politische Vertretung der Friesen in der Regierung, wurde aber im vergangenen Jahr aufgelöst. Sogenannte Friesenwitze gehören zur Gruppe der chauvinistischen Witze über Vertreter*innen anderer Völker/Nationalitäten, in denen diese als dumm und primitiv erscheinen.

Wenn ich Golls Timeline lese und Radynskis Film anschaue, verstehe ich, dass die Künstler*innen es mit einer weiteren Geschichte des Kolonialismus zu tun haben, in der die Metropole gewonnen hat und den Diskurs vollständig kontrolliert. Deshalb gibt es keine Diskussion über die Besetzung dieser Völker und ihres Landes. Etwas überraschend ist, dass die herrschenden Klassen Westdeutschlands sich der kolonialen Gewalt bewusst waren, was sie nicht daran hinderte, Mitwisser*innen und Nutznießer*innen zu sein.

Ost-Erweiterung des Lebensraums“

Der Kontext, in dem das Werk von Hito Steyerl und alle Aussagen über die Abhängigkeit Deutschlands von Russland und seine Weigerung, ein bedingungsloser Verbündeter der Ukraine im Kampf gegen die Invasion Russlands zu werden, stehen – dieser Kontext zwingt uns nicht zuletzt dazu, auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und den Platz, den das Territorium der Ukraine in den kolonial-imperialen Fantasien der Nazis einnahm, zurückzukommen. Während der Wunsch nach einer ‚endgültigen Lösung der Judenfrage‘ (und ihre erfolgreiche Umsetzung an allen Orten der Massenerschießungen und Todeslager) international diskutiert wird, war ein weiteres, für Adolf Hitler nicht minder wichtiges und erstrebenswertes Ziel, ‚das ukrainische und weißrussische Land in einen idealen Lebensraum für die idyllische Bewirtschaftung durch deutsche Bauern‘ zu verwandeln.

Zu diesem Zweck sollte die ukrainische und weißrussische Bevölkerung radikal reduziert werden (es ist kein Geheimnis, dass Hitler Pläne hatte, die Bevölkerung der ukrainischen Großstädte auszuhungern), während die Überlebenden wie Sklaven behandelt werden sollten. Dieser Plan wurde nicht ausgeführt, weil Hitler seine Meinung änderte. Sein Plan, die kommunistische Regierung in Moskau zu stürzen und dann Moskau und St. Petersburg zu zerstören, scheiterte, die Rote Armee begann vorzurücken und die besetzten Gebiete zurückzuerobern, und er hatte daher nicht die Zeit und die Mittel, einen Massenmord dieses Ausmaßes durchzuführen (Snyder, 2010). Dieser koloniale Traum der Nazis ist in Deutschland weder breit diskutiert noch aufgearbeitet worden. Dieses Versäumnis hat schließlich moderne Deutsche hervorgebracht (Traverso, 2022), die den Russen wegen all dem, was sie ihnen im Zweiten Weltkrieg angetan haben, nicht zu nahe treten wollen. Bei den von den Sowjets besetzten Ukrainer*innen und Weißruss*innen ist dieses Schuldgefühl einfach nicht vorhanden, und es fällt schwer, keine imperiale Überlegenheit gegenüber den so genannten kleinen Nationen zu vermuten.

Vor kurzem wurde bekannt, dass der Bundestagsabgeordnete der AfD (Alternative für Deutschland), Jörg Dornau, einen landwirtschaftlichen Betrieb in Belarus besitzt. Für die Arbeit auf seinem Hof beschäftigte Dornau politische Gefangene in Belarus. Der AfD-Politiker besuchte den Hof regelmäßig und überwachte den Fortgang der Arbeiten. Die Zusammenarbeit begann im Jahr 2020, dem Jahr der revolutionären Proteste gegen Alexander Lukaschenko, der erneut die Wahlen gefälscht hatte. Kein Wunder, dass die rechten Kräfte in Sachsen (dem Bundesland, dem Dornau als Abgeordneter angehört) darin kein Problem sehen: Weißrussland in ein Agrarparadies zu verwandeln und die Arbeit der Gefangenen zu kontrollieren, ist eine buchstäbliche Neuauflage von Hitlers Plänen für die Länder Mittel- und Osteuropas.

Gemeinsam Kolonien ausbeuten

Letztlich zeigt die Ausstellung, indem sie mit künstlerischen Mitteln die Geschichte der Abhängigkeit eines freien, demokratischen und liberalen Deutschlands von einem autoritären und despotischen Russland erzählt, wie leicht sich Imperien verständigen und gemeinsam Kolonien ausbeuten können. Und sie verweist damit auf einen größeren Zusammenhang – nämlich darauf, wie Kolonialität und Imperialität in einer Welt, die auf wirtschaftlichen Profit ausgerichtet ist, fortbestehen und diese Interessen flankieren können.

Da der koloniale Charakter des Gasvertrags zwischen Russland und Deutschland in keinem der journalistischen oder akademischen Dokumente erwähnt wurde, die ich bei der Vorbereitung dieses Artikels gelesen habe, bin ich versucht, optimistisch zu sein und zu sagen, dass die künstlerischen Beiträge von Goll, Radynski und Steyerl eine Bresche in den internationalen Diskurs der Blindheit, der Ignoranz und des absichtlichen Schweigens über die Tatsache geschlagen haben, dass Sibirien von Russland besetzt ist und dass das Gas dort nicht Russland gehört. Die Zeit wird zeigen, ob das wahr ist oder nicht. Die Ukrainer*innen können nur den moralischen politischen Imperativ von Oleksij Radynski wiederholen: Alle von Russland besetzten Gebiete werden eines Tages befreit werden.

Anmerkung der Redaktion: Die Bibliographie des Beitrags findet sich hier. Die ukrainische Fassung des Beitrags ist bei ArtsLooker verfügbar.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.