Freie Platzwahl für alle? Wie migrantisierte Künstler*innen in einem Nationalstaat ihren Platz finden

Denis Esakov: “Belonging are Not”. TAKE aSEAT. MAKE aSHIFT, Kulturfabrik Moabit, Berlin. Foto: Denis Esakov, 2025.
Denis Esakov: “Belonging are Not”. TAKE aSEAT. MAKE aSHIFT, Kulturfabrik Moabit, Berlin. Foto: Denis Esakov, 2025.

Unsere missliche Lage lässt sich nicht allein auf die dystopische Realität demokratischer Institutionen und das Fehlen einer auf gegenseitiger Fürsorge und kollektiven Praktiken basierenden Utopie reduzieren. Denn während sich die meisten sozialen Akteur*innen an ihrem Engagement in Kriegen messen, beschäftigen sich Basisgemeinschaften mit Antikriegsvorstellungen, Widerstand und alternativen Lebensweisen. Das Ausstellungsprojekt „TAKE aSEAT. MAKE aSHIFT“ demonstriert diese Möglichkeit. In ihrem Artikel reflektieren die Ausstellungsorganisator*innen Irina Denkmann, Denis Esakov und Marina Solntseva über das Projekt.

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Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, was mit der documenta passiert ist. Nachdem kollektive Praktiken und nicht-westliche Erkenntnistheorien 2022 ihren Platz eingenommen hatten – siehe documenta fifteen, die vom in Jakarta ansässigen Künstlerkollektiv ruangrupa kuratiert wurde und das zentrale Konzept von ‚Lumbung‘ als künstlerisches und wirtschaftliches Modell verfolgte, das auf den Prinzipien der Kollektivität basiert –, kehrte die documenta zu einem stark kontrollierten und regulierten Raum zurück, der bestimmten staatlichen Ideologien unterworfen war. Hier müssen wir uns die Fragen stellen: Was geschieht mit dem sozialen Raum? Schrumpft er wirklich und wird homogener und fokussierter? Wird er zunehmend vom Staat kontrolliert? Was ist mit der Kurator*innengruppe und den Künstler*innn geschehen? Die documenta zeigt uns ganz deutlich, in welche Richtung sich der Staat bewegt: Er will immer stärker eingreifen.

Gefühl des Zusammenbruchs

Die Straßen Berlins sind mit Plakaten der deutschen Armee, der Bundeswehr, übersät. Sie suggerieren, dass wir uns für ‚etwas wirklich Sinnvolles‘ engagieren sollten: Krieg (siehe das Bundeswehr-Plakat „Mach, was wirklich zählt“). Deutschland unterstützt mit Waffen und Medien Massenmord und reproduziert damit immer wieder koloniale Gewalt. Und damit steht dieser Nationalstaat nicht allein da: Die Vereinigten Staaten, Russland und viele andere haben aufgehört, sich für ihre imperialen Ambitionen zu schämen, und koloniale Politik und Handlungen zum offiziellen Modus Operandi unserer Zeit erklärt. Warum skandieren die Menschen auf den Straßen Berlins immer wieder „Zeig mir, wie deine Demokratie aussieht“? Woher kommt dieses Gefühl des Zusammenbruchs?

Es scheint, als sei dieses Gefühl zu laut geworden. Es ist nicht mehr nur ein Gefühl, sondern spiegelt die Struktur des Alltags wider: institutionelle, nationale, klimatische, energetische, migrations- und militärische Zusammenbrüche. Finanzströme werden auf Kosten der Kultur reduziert. Gleichzeitig werden Militärfabriken in Wohngebiete wie Wedding in Berlin gebracht (siehe: die Linke). Wenn doch nur Künstler*innen die Einzigen wären, die derzeit von Institutionen enttäuscht sind! Der Kreis der Menschen, die von den aktuellen Ereignissen schockiert sind, ist viel größer. Diese Angst und dieses Misstrauen durchdringen das gesamte soziale Gefüge.

‚Kein Artwashing des Völkermords!‘

In diesem Text untersuchen wir, wie die Künstler*innen von „TAKE aSEAT. MAKE aSHIFT“, die vom 20. September bis zum 18. Oktober 2025 in der Kulturfabrik Moabit zu sehen sind, über Fragen zu kollektiven und gemeinschaftsbasierten Praktiken, feministischen Perspektiven, Mehrsprachigkeit, anderen Archiven und einem dekolonialen Fokus in Zentral- und Nordasien, im Kaukasus und in Osteuropa reflektieren.

Leo Efet, ein Multimedia-Künstler mit krimikaraimischen Wurzeln, hinterfragt das deutsche Monsterwort ‚Existenzberechtigungsschein‘. Die schwere Last der Bürokratie, der er in Deutschland begegnete, verwandelte sich in visuelle Poesie, gemischt mit der Zerbrechlichkeit des Herzens und Reispapier. Gleichzeitig versteht das maqaal collective visuelle Poesie und Sprache als eine kraftvolle Form des Widerstands. Das maqaal collective verfolgt eine andere Strategie: Die strengen Statistiken auf den Fenstern listen kalt alle Ereignisse gegen die Menschlichkeit auf, die in den letzten zwei Jahren in Deutschland stattgefunden haben. Mit ihren Aktionen und Farben verkünden sie: ‚No genocide artwashing‘ (Kein Kunstwaschen von Völkermord).

Leo Efet: “Existenzberechtigungsschein”. TAKE aSEAT. MAKE aSHIFT, Kulturfabrik Moabit. Foto: Denis Esakov, 2025.
Leo Efet: “Existenzberechtigungsschein”. TAKE aSEAT. MAKE aSHIFT, Kulturfabrik Moabit. Foto: Denis Esakov, 2025.

Die Arbeit „BELONGINGS are NOT“ von Denis Esakov untersucht wiederum, wie aggressiv und absurd die Formationen ‚nationaler Zugehörigkeit‘ sein können. Die schwarzen Ledergürtel im Militärstil durchdringen den warmen Raum der Kulturfabrik Galerie. Umgeben von Sofas, Tigerdecken und Lampen erstrecken sie sich vom Boden bis zur Decke, dominieren den Raum und versperren die Sicht – ähnlich wie autoritäre Regime.

Schnittpunkt kolonialer Praktiken Deutschlands und Russlands

In „Tongues are Growing from Light & Dust“ bleibt das Kollektiv de_colonialanguage seiner Praxis der Intervention und seinem interaktiven Ansatz treu. Ein Objekt-Spiel-Alphabet lädt die Besucher dazu ein, die in den Berliner Vororten (Wünsdorf) gesammelten Stücke zu ‚lesen‘ und mit ihnen eine Wort-Satz-Installation zu komponieren. Auf diese Weise werden die Besucher selbst zu Autoren. Eine Aktion, die die Aufmerksamkeit auf den militärisch-kolonialen Kontext lenkt, den das Alphabet mit sich bringt.

Diese Objekte und Objektteile wurden an einem ganz bestimmten Ort gesammelt: An diesem Ort überschneiden sich die Geschichte der DDR, des Ersten Weltkriegs, der sowjetischen Armee und der tatarischen, arabischen, indischen und afrikanischen Gefangenen des Half-Moon-Camps und des Weinberge-Camps. Während des Ersten Weltkriegs wurden 10.000 Tatar*innen, also Muslim*innen aus Russland, im Kriegsgefangenenlager in Wünsdorf festgehalten (siehe dazu den Dokumentarfilm „How to spell empire“ von Markus Schlaffke). Während der Zeit der DDR errichtete das sowjetische Militär an derselben Stelle seinen Stützpunkt, wodurch die koloniale Erinnerung und der tatarische Friedhof aufgegeben wurden. Heute ist dieser Ort ein Wald.

Dies bringt uns zum Schnittpunkt deutscher Kolonialpraktiken und ihrer Logik der Lager – einschließlich ihrer Kontinuität in der heutigen deutschen Politik – mit den extraktivistischen und kolonialen Praktiken des Russischen Reiches, der Sowjetunion und des heutigen Russlands. In beiden Debatten wird eine kritische Betrachtung aus dekolonialer Perspektive vermieden und man versteckt sich zu lange hinter der Fassade der ‚Freundschaft der Nationen‘. Nun werden diese Beziehungen ebenso wie die zwischen kolonialen, extraktivistischen Praktiken, den Beziehungen zwischen Mensch und Natur, der Museumsproduktion und der Sprache sichtbar.

Verbindung zu nicht-menschlichem Leben

Viktoriia Şăltăr untersucht die Beziehung zwischen Menschen und Landschaften. Sie nahm an der de_colonial language residence „Voices Otherwise“ teil und visualisierte den tschuwaschischen Mythos der drei Sonnen in einer Performance auf dem Alexanderplatz. Der Titel ihres Werks „YALT“ bedeutet Licht und dessen Fähigkeit, einen zu umhüllen, wenn es verschwunden ist. Was passiert, wenn Naturkräfte nicht mehr vorhanden sind? Diese Frage findet auch in der forschungsbasierten Installation „Beyond the Surface and into the Depth“ von Eldar Tagi und Lena Pozdnykova Widerhall. Sie zeigt den Zusammenhang zwischen dem Kaspischen Meer, dem ökologischen Kollaps und dem Stör, der seit Langem wegen seines schwarzen Kaviars, einem Luxusprodukt in Russland, gejagt wird.

Die Sensibilität für die Natur und ihr Wohlergehen sowie der Wunsch der Menschen, sich um sie zu kümmern, finden sich auch in Nilüfer Musaevas Werk „Homecoming“ wieder. Ihre Reise in das Dorf ihrer Familie, Khinalig in Aserbaidschan, führte zu mehreren Publikationen und Reflexionen über museologische Prozesse und Sprache. Ein weiteres Beispiel ist Nazira Saduaqas sanftes und zartes Buch „My Grandmother´s Honey Talk“. Es ist eine Sammlung intimer Erinnerungen in tiefen Blau- und Bronzetönen über eine kreolisierte Mischung aus kasachischer und russischer Sprache. Gleichzeitig ist es eine kraftvolle Wiederaneignung, die die Großmutter der Künstlerin für sich selbst geschaffen hat (siehe Deutsche Welle).

Alternative Wissenssysteme

Der Kontext des sozialen Zusammenbruchs ist also geprägt von verschiedenen künstlerischen Ansätzen, Sprache zu betrachten und mit ihr umzugehen. Gerade jetzt, da sich der Kapitalismus zu einer Aufmerksamkeitsökonomie wandelt, ist es entscheidend zu verstehen, wie alternative Wissenssysteme und Fähigkeiten entwickelt werden können. Leroy Bergers Plastikinstallation „Native Tongues Defiant“ ist eine imaginäre Brücke zwischen den Überresten einst disziplinierter Sprachen und den Versuchen, das Wissen über sie inmitten der Migration zu bewahren. Der Sakha-Künstler schnitzt überdimensionale Wörter in den Sprachen Komi, Tuvan, Burjat und Kalmück aus Plexiglas und Holz zusammen mit ihren Schatten. Das Ergebnis präsentiert den Körper einer Sprache als Gefäß für Erinnerungen und Narben. Ein weiteres Beispiel für den inneren Widerstand der armenischen Sprache innerhalb der kolonialen Systeme Russlands ist die Untersuchung des Schreibens als Akt des feministischen Widerstands (siehe Menuas „Performative Poetics“).

Schließlich werden mit „Palm“ der Bouillon Group und „Hunger“ von Salome Potskhverashvili zwei künstlerische Positionen gezeigt, die sich mit Kämpfern gegen die Unterdrückung durch Russland auseinandersetzen. Das Video „Palm“ thematisiert die Vertreibung abchasischer Bewohner, die in den 1990er Jahren aufgrund politischer Konflikte nach Georgien kamen. In Potskhverashvilis Video werden die jüngsten Ereignisse vom Februar 2025 gezeigt: Anschaulich wird ein Tag des 285-tägigen Hungerstreiks für Gerechtigkeit dargestellt, der viel zu lange gedauert hat. Die Notwendigkeit, sich zusammenzuschließen, Bestrebungen zu bündeln und Widerstand gegen Auslöschung zu leisten, verbindet alle Werke miteinander.

Bouillon Group: “Palm”. TAKE aSEAT. MAKE aSHIFT, Kulturfabrik Moabit. Foto: Denis Esakov, 2025.
Bouillon Group: “Palm”. TAKE aSEAT. MAKE aSHIFT, Kulturfabrik Moabit. Foto: Denis Esakov, 2025.

Die Vorstellung von Institutionen und richtigen Wegen ist zusammengebrochen. Während sich Institutionen unterschiedlicher Größe an ihrem Engagement in Kriegen messen, beschäftigen sich Basisgemeinschaften mit Antikriegsvorstellungen, Widerstand und alternativen Lebensweisen. Zwischen der dystopischen Realität der Institutionen und dem Fehlen von Utopien gibt es einen Raum für gegenseitige Fürsorge und kollektive Praktiken.

Politik des Archivs

„Kriegstüchtigkeit bedeutet, dass Menschen bereit sind, andere zu töten“, sagte Şeyda Kurt im Interview mit dem Freitag. In dem Interview wirft sie Fragen auf: Wie konnte es dazu kommen, dass Krieg wieder ‚in Mode‘ gekommen ist? Was bedeutet „Militarisierung nach innen”? Und warum scheinen feministische Praktiken der Ko-Organisation, Fürsorge und Pflege – die Logik der „Carrier Bag Theory of Fiction“, wie Ursula Le Guin sagen würde – plötzlich ihre Gültigkeit zu verlieren, wenn patriarchalische Heldenerzählungen zurückkehren?

Wenn Nationalstaaten die Schrauben anziehen, gewinnen Praktiken des nicht-institutionellen Daseins, der Selbstorganisation und der gegenseitigen Unterstützung zunehmend an Bedeutung. Diese Praktiken prägen eine neue Realität inmitten des Zusammenbruchs und bieten Auswege aus vielfältigen Krisen. In ähnlicher Weise können wir die Frage nach dem Archiv stellen. Dies gilt insbesondere für Archive, die aus den epistemologischen Räumen zusammenbrechender Imperien hervorgehen. Was sollen wir tun, wenn das sowjetische oder russische Archiv jahrzehntelang sein Wissenssystem so aufgebaut hat, dass viele Gruppen, Perspektiven und lokales Wissen ausgeschlossen wurden? Was, wenn das westliche Archiv dieses imperiale und koloniale Wissen lediglich reproduziert und vervielfältigt hat?

Was tun Menschen mit gemischter Identität, Nepantlas (siehe Gloria Anzaldúas „Borderlands/La Frontera: The New Mestiza“), Migrant*innen, Menschen zwischen den Systemen und Welten, die schon immer die Erfahrung des liminalen Raums gemacht haben und wissen, wie sie ihr eigenes Wissen archivieren und unter kolonialen Systemen überleben können? Sie sammeln das Archiv ihrer Fähigkeiten: die Erfahrung der gemeinsamen Organisation, der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens.

Wer traut sich, Fragen zu stellen?

Der Titel unseres Projekts „TAKE aSEAT. MAKE aSHIFT“ enthält zwei Aussagen, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Sich hinzusetzen und tatsächlich etwas zu verändern, erscheint uns jedoch als konsequenter Schritt. Zunächst müssen wir zusammenkommen. Unabhängig von unserem geografischen Standort können wir uns zusammensetzen, wenn wir einander zuhören können. Nehmen Sie Platz, mitten im Zusammenbruch, und bewirken Sie eine Veränderung. Das mag poetisch klingen, doch in diesem Fall sind diese Worte nicht romantisch gemeint. Sie dienen vielmehr dazu, die Fähigkeit zu bewahren, sich die Abwesenheit von Raum für andere Sprachen vorzustellen und zu bezeugen. Im Gegensatz zur gewaltsamen Dominanz von Strukturen über die Menschheit.

In seinem alten Interview „L’Abécédaire de Gilles Deleuze“ diskutiert Gilles Deleuze die Frage der Philosophie. Was ist eine Frage in der Philosophie? Sein Hauptargument ist, dass sich die Massenmedien nicht mit Fragen beschäftigen. Sie fragen nach Meinungen, anstatt Probleme aufzuwerfen. Laut Deleuze kann eine echte Frage nicht beantwortet werden. Man kann das Problem nur wahrnehmen, nach Lösungen suchen und weitere Fragen stellen. Eine Befragung hingegen kann beantwortet werden. Wie geht es Ihnen? Was halten Sie von der Vereinigung Europas? Oder von seinem Zusammenbruch? Brauchen wir eine neue Armee? Einen neuen Krieg?

Hier sind unsere Fragen: Was sind imaginäre Institutionen? Wie können wir unser unabhängiges Verlagsprogramm entwickeln? Wie können wir auf nicht-akademische Weise lernen, wenn koloniale Wissenssysteme versagen? Wo finden wir diesen Raum des gemeinsamen (Nicht-)Lernens? Wie kann ein soziales Netzwerk aufgebaut und vor allem aufrechterhalten werden? Wie können wir die Stimmen derer verstärken, die sich in vielen translokalen Räumen mit kolonialen Strategien auseinandergesetzt haben?

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