Um ehrlich zu sein: Ich denke, meine Entscheidung, nach Frankreich zu gehen, nahm ihren Anfang, als ich sechs Jahre alt war – 1978 – und erstmalig ans Westende der franzoesischen Welt, ins Finistere kam. Ich wollte dort schlichtweg nicht mehr weg und wenn ich dann angesichts meiner noch sehr beschraenkten Autonomie hinsichtlich existentieller Entscheidungen doch weg musste, wollte ich vor allem wieder hin. Auch zwischenzeitlich unternommene Versuche, pragmatische [beruflich-opportunistische] Andersorte zu waehlen, hatten nie durchschlagenden Erfolg, Entzugs- und Entzauberungsvorhaben scheiterten und die schliesslich etablierte Loesung, einen relevanten Teil des Jahres auf drei bis vier Teilstuecke verteilt am Ende der Welt zu verbringen, >eigentlich< aber woanders zu leben, hat auch nicht gefruchtet.
Also habe ich eine Geschichte zu erleben gesucht, die das Auswandern als pragmatische Notwendigkeit erscheinen liess und betrieb die konsequente Zurichtung der Lebensgestaltung auf ein franzoesisches Modell hin, als Hebel, der schliesslich die Auswanderung im Sinne einer daseinspraktischen Gebotenheit stemmen konnte. So lebe ich also heute mit meiner Familie in der Naehe von Brest in einem Dorf am Meer, arbeite in Paris an der Uni, habe noch einen Sohn aus erster Ehe in Deutschland, den ich alle paar Wochen besuche, und arbeite in diversen Projekten im deutsch-oesterreichischen Raum mit. Im Schnitt macht das 1400 km pro Woche ausserhalb der Sommermonate und ein Leben im Zwischen der Kulturen. Und das Zwischen, die Passage, die existentielle Mobilitaet, das Un-Eine und Un-Eindeutige – das sind auch philosophisch meine Interessen, selbstverstaendlich mit einer gewissen Affinitaet fuer franzoesische Philosophen.
Nun gehoerte zu dieser Verallgegenwaertigung des Franzoesischen [an der Zimmerwand, auf dem Tisch und im Weinregal, im CD-Player] natuerlich auch der Spracherwerb. Und die Sache mit der Sprache war fuer mich, zunaechst auf binnensprachlicher Ebene, immer schon eine spannungsbehaftete Sache: Denn da wirkte von Beginn an eine Differenz zwischen Vaterland [Oesterreich] und Mutterland [Deutschland], zwischen Staatsangehoerigkeit [Oesterreich] und Wohnort [lange Zeit Deutschland] – und zwischen Muttersprache [Deutsch] und kultureller Identitaet [Oesterreich]. Ich bin im Jaenner geboren, nicht im Januar, so steht es im meinem Pass. In dieser Konstellation des >Sowohl-als-Auch<, die zugleich immer etwas vom >Weder-Noch< hatte, bekam Frankreich, bzw. das besagte Westende des Finistere, vom Kindesalter an alle Eigenschaften eines gleichermassen imaginaeren und realen Fluchtpunktes zugeeignet - und strahlte in die austroallemannische Bipolaritaet als die Grosse Andere Differenz aus, die irgendwie zu orientieren vermochte - und mithin in dem oben beschriebenen Gechichtenschreiben muendete. Schulisch zwangen die Umstaende allerdings zunaechst zum Englisch-, dann die Eltern zum Lateinlernen. Aber ich wollte Franzoesisch lernen. Erster Akt: ein alljaehrlicher Sommerjob in einem franzoesischsprachigen Ferienclub just im Zentrum des Fluchtpunkts machte es moeglich, dies quasi empraktisch anzugehen, freilich in einem wenig von der Aesthetik des korrekten Sprachgebrauchs inspirierten Modus. Doch bald war es eigentlich kein Problem mehr, ueber alles zu sprechen, in geteilter Praxis mit den Kollegen vor Ort vereint und von schwelgender Deixis flankiert liessen sich Fragen der Surfschulorganisation ebenso elaboriert diskutieren wie Bezeugungen der innigen Verbundenheiten zwischen den Geschlechtern austauschen. Und auch wenn ich heute wohl nicht mehr ohne latente Scham wuerde hoeren koennen, was ich damals an Wort- und Satzkonstruktionen generiert habe – irgendwie war ich >drin< in der Sprache. Anders in der erst dann folgenden franzoesischen Sprachausbildung in der Schule, diversen Instituts Français etc., die zwar der Sprache eine Norm und konventionelle Form gab [wo also gewusst wurde, was >richtig< war, nie aber der Eindruck entstand, dass etwas echt sei], und die angestammte Sprachheimat eher festschrieb, als sie in eine das Wort verdienende Mehrsprachigkeit hinein aufzuloesen. Denn diese >Ausbildung< machte die andere Sprache erst zu einer ANDEREN Sprache, indem sie sie objektivierte und zerlegte, zu etwas Aeusserlichem machte und mich noetigte, den unbedarften Aufenthalt in der Sprache abzubrechen und den Spracherwerb paedagogisch-systematisch diszipliniert aufs Neue anzugehen. Danke, ganz ohne Ironie, dennoch an all die, die mir dazu verholfen haben, meinen rudimentaer bleibenden do-it-yourself-Sprachanarchismus rueckabzuwickeln und heute einigermassen regelnah zu sprechen. Erst die Mischung aus dem praktischen Leben im franzoesischen Kulturtext und der Arbeit am Text und mit der Sprache [das Schreiben von Texten, Unterrichten, Uebersetzen...] hat dann mit der Zeit etwas in Gang gebracht, was ich provisorisch als Einfindung in die Sprache bezeichnen wuerde: ein zunaechst punktuelles, dann sich zunehmend verselbstaendigendes Erfahren der neuen, alternativen Grammatik des Blicks auf die Welt als andere Moeglichkeit, das Empfundene, Gedachte auf Begriffe zu bringen. Ein Beispiel: Bei der Uebersetzung einer meiner auf Deutsch verfassten Texte ins Franzoesische begann dieser Text lebendig zu werden, suchte sich gewissermassen ein neues semantisch-syntaktisches Flussbett, da er sich in einer neuen begrifflichen Welt einzurichten genoetigt sah, sodass ich den franzoesischen Text wiederum ins Deutsche uebersetzt habe und - einen neuen Text vorfand. Mache ich jetzt oefter - und es ist ein aufschlussreicher Vorgang der Selbstaufklaerung ueber das Moegliche in der eigenen Denkwirklichkeit. Interessant auch das Gefuehl, in seiner Muttersprache zu stocken, weil die Formulierung eines Gedankens anscheinend ohne ein bestimmtes Wort der >Fremd<-Sprache nicht auszukommen scheint, eben dieses Wort aber nicht einfach uebersetzbar ist und das Denken in einen Modus der verselbstaendigten Schleifenbildung geraet - mit zuweilen unerwartetem Austrag. Bei meinen Kindern beobachte ich zwei Stadien der Mehrsprachigkeit: anfangs die Uebersetzungsstrategie, also die Uebertragung von der Muttersprache [deutsch] aus in die >Fremd<-sprache [franzoesisch] und zurueck - inklusive mehr oder weniger geschmeidigem Abdriften, weil eben nicht alles die zwischensprachliche Passage uebersteht bzw. waehrend dieser Passage Sinntransformationen durchmacht und die Distribution stilistischer oder semantischer Schwerpunkte Verschiebungen erleben kann. In einem zweiten Stadium beginnt dann eine Art Alternativsprachstrategie, die die zwei Sprachen nebeneinander belaesst und entweder in der einen oder der anderen agiert, in gewissermassen situationsspezifischer Ganzheitlichkeit und gekoppelt mit einem merklichen Habituswechsel. Das ist die Strategie meiner siebenjaehrigen Tochter, und sie laeuft letztlich auf die Bildung alternativer Identitaeten hinaus, zwischen denen gewaehlt und durch das Vermoegen der Wahl [durch die Faehigkeit, jederzeit vom einen ins andere Sprachuniversum sich selbst zu uebersetzen] auch zunehmend vermittelt werden kann. So gesehen kann man mithin eines festhalten: Uebersetzung hat nicht umsonst mit dem Uebersetzen im Sinne der Ueberfahrt zu tun. Und wie man das Schiff durch die Passage zu steuern weiss, wie man also im Zwischen bekannter Kon-Texte sich zu orientieren weiss, wer man in diesem Zwischen bleibt und wird, hat entscheidenden Anteil daran, ob, wie und wo man ankommt und - vielleicht noch wichtiger - wie man weiter oder zurueckkommt.