Erweiterung des Politischen: Die künstlerische Praxis der Avantgarde im „Osten“

In den Diskussionen um die Autonomie der Kunst im Sozialismus ist die Rolle der Arbeiter*innen, die in sogenannten Schreib-Zirkeln organisiert waren, bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Die Künstlerin Rena Raedle, die seit 20 Jahren in Serbien lebt, geht auf dieses wenig untersuchte Phänomen ein und eröffnet inspirierende Perspektiven im Spannungsfeld von Kunst und Politik.

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Das Phänomen der Zirkel schreibender Arbeiter*innen in der DDR ist in der deutschen Literaturwissenschaft nach 1989 nur wenig untersucht worden. Außerhalb des Personenkreises der direkt an der Kulturarbeit rund um die Zirkel Beteiligten fand kaum eine Auseinandersetzung mit dieser aus der Arbeiterkultur stammenden literarischen Praxis statt. Dabei existierte ein ausgefeiltes Bildungssystem, das zum einen Handreichungen für die Kursleiter*innen bot, zum anderen interessierten Schreibenden Möglichkeiten der Weiterbildung und Professionalisierung eröffnete. Der wechselseitige Austausch von Erfahrung, Wissen und Handwerkszeug zwischen professionellen Schriftsteller*innen und Laien war hoch institutionalisiert.

Im Folgenden wird skizzenhaft die Praxis von Sergej Tretjakow und die der Zirkel schreibender Arbeiter in der DDR mit der These vom Scheitern der Avantgarde in Beziehung gesetzt. Im Vordergrund stehen dabei die Widersprüche, die sich für künstlerische Verfahrensweisen eröffnen, die sich um die Auflösung der Trennung zwischen autonomer und heteronomer Kunst bemühen. Zum Ende wird erläutert, warum künstlerische Praxis im Sozialismus mit der Politik in ein Konkurrenzverhältnis geriet und versucht, die heikle Frage zu beantworten, ob die Avantgarde auch im „Osten“ gescheitert ist.

Die Forderung nach einer Kunst, die mit der Lebenswelt der Menschen verbunden ist, war von Künstler*innen der Avantgarde im frühen 20. Jahrhunderts gestellt worden. Die in den Industrieländern einsetzende Massenproduktion von Konsumgütern hatte bekanntlich auch für die Kunst-und Kulturproduktion Folgen. Die Kunst musste sich zunehmend dem Markt unterwerfen, mit immer neuen Stilen, Moden, Gesten und Tabubrüchen für sich werben, oder eben versuchen, eine andere Antwort zu geben.

Strömungen in der Avantgarde

Dafür setzte sich ein Teil der Künstler*innen der Avantgardebewegung ein; sie wollten eine sozial nützliche, der zunehmenden Entfremdung entgegengesetzte künstlerische Praxis entwickeln. Unter Schriftsteller*innen, Künstler*innen, Theaterleuten und anderen Intellektuellen wurden damals weltweit scharfe Debatten darüber geführt, welche Rolle Kunst in der anstehenden gesellschaftlichen Veränderung spielen sollte.In den 1920er Jahren polarisierten sich reformorientierte und revolutionäre Strömungen in intellektuellen Kreisen genauso wie in der Arbeiterkultur.

Wie in einem Artikel von Dietrich Mühlberg in der Broschüre „Reiz und Phänomen: Die Literatur der schreibenden Arbeiter“ nachzulesen ist, orientierten sich die schreibenden Arbeiter entweder in Richtung Sozialdemokratie oder gruppierten sich um die Kommunistische Partei. In der Arbeiter*innenbewegung waren kulturelle Aktivitäten fester Bestandteil politischer Mobilisierung. Die Sozialdemokratie der Weimarer Republik verstand kulturelle Bildung eher in der Tradition der Aufklärung; die Arbeiterschaft sollte sich die Errungenschaften der bürgerlichen Kultur aneignen und ihr ästhetisches Urteil verfeinern, um zu einem vollkommeneren Menschen zu werden.

Die führenden Köpfe der kommunistischen Partei dagegen sahen die Aufgabe der Kultur in erster Linie als Waffe im Klassenkampf und Propagandamittel, das seine Wirkung durch die eindringliche Darstellung gesellschaftlicher Widersprüche erzielen sollte. Diese sollten aus erster Hand durch die Arbeiter selbst vermittelt werden, die als Arbeiterkorrespondent*innen und Arbeiterfotograf*innen in Wort und Bild in den verschiedenen linken Medien über die Missstände in den Betrieben und der Gesellschaft berichteten. Auch professionelle bildende Künstler*innen im Umkreis der KPD wurden aktiv, organisierten sich und veröffentlichten sozialkritische Grafiken, bissige Karikaturen und Fotomontagen in linken Massenmedien wie dem Malik-Verlag, der AIZ, und dem KPD-Satireblatt „Der Knüppel“.

Zerstörung der bürgerlichen Institution Kunst

Die Abkehr der Avantgardebewegungen vom Paradigma der Zweckfreiheit und Wirkungslosigkeit der Kunst erklärt der Literaturwissenschaftler Peter Bürger in seiner 1974 erschienenen „Theorie der Avantgarde“ damit, dass die Institutionalisierung der bürgerlichen Idee der Autonomie der Kunst Ende des 19. Jahrhunderts im Ästhetizismus zur Vollendung gekommen war. Damit war der Weg frei für eine kritische Bearbeitung der Konventionen der akademischen Tradition. Die historische Avantgarde forderte mehr als das: Sie wollte die Zerstörung der bürgerlichen Institution Kunst und die „Aufhebung der Kunst in die Lebenspraxis“.

Diese war nur zu verwirklichen durch die Verbindung der Kunstschaffenden mit den gesellschaftlichen revolutionären Bewegungen.Die Realisierung dieser Forderung nach dem Umsturz der Verhältnisse verlief bekanntlich in den Staaten des „Westens“ und „Ostens“ unterschiedlich. Bürgers These war, dass sie im „Westen“ in mehrfacher Hinsicht scheiterte: Da die Revolution ausblieb, kam es nicht zu der von der Avantgardebewegung angestrebten Umwälzung aller Lebensverhältnisse. Anstatt der Auflösung der bürgerlichen Institution Kunst erfolgte deren Ausbau und Befestigung. Die künstlerischen Mittel und Errungenschaften der Avantgarde wurden ihrer historischen politischen Funktion entkleidet, innerhalb des Modernismus kanonisiert und der Kunstbegriff ständig erweitert, ohne dass dabei die Autonomie künstlerischer Praxis angetastet wurde.

Die russische Avantgardebewegung und deren Entwicklung konstruktivistischer und produktionistischer Ansätze nach der Revolution zog Bürger für die „Theorie der Avantgarde“ nur am Rande in Betracht. Ihm ging es in erster Linie darum, die falsche Verwirklichung des Projekts der Avantgarde in der kapitalistischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts zu konstatieren: Der Wunsch nach Befreiung der schöpferischen Potenziale der Kunst zur Gestaltung der Wirklichkeit realisiert sich in der Massenproduktion ästhetischer Waren durch die Kulturindustrie. Mit seiner radikalen These vom Scheitern der Avantgarde provozierte er in den 70er Jahren linke westliche Intellektuelle, die sich in einer ungebrochenen Tradition mit den Denker*innen historischen Avantgarde sahen und sich als Teil einer revolutionären Bewegung verstanden.

Vereinigung von Kunst und Leben

Unbearbeitet bleibt bei Bürger die Frage, ob oder zu welchem Grade die Forderung der Avantgarde nach einer nicht-entfremdeten, in die soziale Praxis integrierten, heteronomen künstlerischen Praxis in den sozialistischen Staaten verwirklicht wurde. Im Folgenden wird versucht,eine Antwort auf diese schwierige Frage zu skizzieren. Die Berichte des Schriftstellers Sergej Tretjakow über seine Arbeit mit den Dorfkorrespondent*innen geben Einblick, wie die Umsetzung der von der Avantgarde deklamierten Vereinigung von Kunst und Leben in der literarischen Praxis aussah.

Tretjakow gehörte zu den Vertretern der „Literatur des Fakts“, die in der Zeitschrift Nowy LEF (1927/28) ihre Theorien zur sowjetischen Literatur veröffentlichten.Sie forderten Methoden ein, mit deren Hilfe sich Schreibende des gesellschaftlichen und künstlerischen ideologischen Ballasts entledigen sollten, um sich den konkreten Fakten oder Dingen anzunähern. Tretjakow hatte schon in seinem Text von 1923 „Kunst in der Revolution und Revolution in der Kunst“ das Wiederaufleben einer kontemplativen Kunst und Literatur kritisiert, die nichts weiter als Gefühlsbewegungen beim Publikum hervorrufe. Ihm ging es nicht um die Demokratisierung der „alten“ Kunst gemäß der damaligen Losung „Kunst für alle“, sondern um die Entwicklung und Perfektion der Schaffenskraft, die in jedem stecke.

1928 folgte er dem Aufruf der Kommunistischen Partei an die Schriftsteller, die Durchsetzung der Kollektivierung der Landwirtschaft zu unterstützen,und nahm an einem vom Schriftstellerverband und vom Zentrum für landwirtschaftliche Kollektive organisierten Programm teil. In den Jahren zwischen 1928 und 1930 verbrachte er mehrere Monate auf dem Kolchos „Kommunistischer Leuchtturm“ nahe Stawropol in der nördlichen Kaukasusregion, wo er versuchte, die unter den Schriftsteller*innen der Nowy LEF diskutierten Thesen und Vorschläge umzusetzen.

Abgehoben und ignorant

Seine Berichte erschienen in den sowjetischen Medien und wurden in deutscher Übersetzung im Malik-Verlag mit dem Titel „Feld-Herren. Der Kampf um eine Kollektivwirtschaft“ veröffentlicht.In einem Vortrag für die „Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland“ in Berlin stellte Tretjakow im Januar 1931 sein Konzept für eine „operative“ künstlerische Praxis vor, das er aus seinen Erfahrungen im Einsatz auf der Kolchose herleitete. In seinem später in „Das Neue Rußland“ veröffentlichten Text „Der Schriftsteller und das sozialistische Dorf“ ging er auf die Beziehung zwischen Künstler*innen und Menschen ein, die im Kolchos arbeiteten:Er beobachtete die abgehobene Haltung und Ignoranz der „Künstler-Touristen“, die sich von romantisierenden Vorstellungen vom Kolchosleben leiten ließen und auf der Suche nach Stereotypen und exotischen Motiven für ein Sujet seien, das sie sich von vornherein in den Kopf gesetzt hätten.

Die soziale Wirklichkeit des Kolchos könne schwerlich durch das Porträt eines möglichst forsch dreinblickenden, bärtigen Kolchos-Aktivisten in Öl dargestelltwerden. Künstler*innen müssten dagegen eine organische Einheit mit dem Leben und der Arbeit der Bauern eingehen. Bei einem seiner Besuche bekam Tretjakow selbst zu spüren, dass die als Ausflügler wahrgenommenen Künstler den Kolchosbauern eher eine Last waren, als dass sie einen Gewinn bedeuteten: Die Zentrale in der Stadt wollte ihm zunächst den Besuch des„Kommunistischen Leuchtturms“ ausreden.

Aus der Position des unbeteiligten und unwissenden Beobachters zu schreiben erschien ihm zwecklos, denn er wollte das Geschehen im Kolchos aus der Perspektive der Bäuerinnen und Bauern schildern. Mehr noch, er sah die künstlerische Praxis als eine ins Geschehen direkt eingreifende Tätigkeit. Dazu musste er selbst Teil der Prozesse werden. Er eignete sich Grundkenntnisse in der Landwirtschaft an und begann,sich dauerhaft in der Gemeinschaft zu engagieren. Im Kombinat wurde er in den Rat gewählt mit der Aufgabe, kulturelle Aktivitäten und Bildungsprogramme zu organisieren. So wurde er als Herausgeber der Kombinatszeitschrift Вызов (Herausforderung) tätig, baute ein Netz aus Dorfkorrespondent*innen auf und bemühte sich darum, die Zeitschrift einerseits zum Kommunikationsmedium innerhalb des Kolchos zu machen,und andererseits über sie eine Verbindung zur Außenwelt herzustellen.

Schreiben als kollaborative Praxis

Interessant an Tretjakows Position ist, dass er im Streit um Funktion, Methode, Form und Gegenstand revolutionärer und sozialistischer Kunst die Funktion und Methode in den Vordergrund stellte. In seiner Praxis änderte sich die Funktion der Kunst mit der Rolle des Künstlers. Je nach den Umständen war er mal Lehrer, mal Lernender, hier Organisator, dort Kritiker. Er reagierte auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft und bemühte sich, seine Fähigkeiten als Schriftsteller zur Verfügung zu stellen, um den Geschichten Anderer Gehör zu verschaffen, immer darauf bedacht, den Tatsachengehalt nicht zu „verkünsteln“.

Er wollte als Organisator und nicht als allmächtiger Autor den Inhalten zur Form verhelfen, und verwies immer wieder darauf, dass die Form der neuen Kunst nicht definitiv, sondern im Entstehen begriffen sei. An ihrer Erarbeitung waren nicht nur Professionelle beteiligt, sondern alle, die dazu bereit waren. Es handelte sich um ein Experiment kollaborativer Praxis, dessen Ausgang unter formalen Gesichtspunkten zwar ungewiss war und in die Zukunft verwies, dessen gesellschaftliche Wirkung aber im Austausch mit den Kolchosniki im Hier und Jetzt realisiert wurde.

Tretjakow und seine Mitstreiter*innen konnten sich bekanntermaßen gegenüber der normativen Ästhetik, wie sie in den politischen Organen der UdSSR vertreten wurde, nicht durchsetzen. Tretjatkow selbst stellte in seinem Text fest, dass noch kein Werk der Arbeiterkorrespondenten den großen Durchbruch beim Publikum geschafft hätte. Dies klingt, als müsse er seine Praxis rechtfertigen, und tatsächlich ging Georg Lukács 1932 zum Angriff gegen die Reportagetechnik und Materialästhetik bei Schriftstellern wie Bertolt Brecht, Ernst Ottwalt und Willi Bredel über.

Die Rolle der Schreib-Zirkel

Nun lässt sich fragen, ob der Erfolg einer Textproduktion aus kollaborativer Praxis, die sich an den Bedürfnissen der Gemeinschaft und konkreten Zielsetzungen orientierte, überhaupt an den Kriterien der Literaturkritik oder des durchschnittlichen Lesergeschmacks zu messen wäre. Bei der Arbeit der Arbeiter-und Dorfkorrespondenten standen Gebrauchstexte im Vordergrund: Es ging um Textproduktion für die Medien der Betriebe oder der Kommunistischen Partei. Die Bildungsarbeit, die in diesen Strukturen geleistet wurde, die Schwierigkeiten, die überwunden wurden, Erfahrungen, die weitergegeben wurden, Texte, die nicht veröffentlicht wurden – all das wurde nicht dokumentiert und kann nicht in die Bewertungen eingehen.

Von der Literaturkritik verhandelt wurde naturgemäß lediglich die Literaturproduktion der Schriftsteller*innen-Autor*innen deren Beurteilung dann direkte Auswirkung auf die Entscheidungen in den politischen Strukturen hatte. Diese Schwierigkeit bei der „Außenrepräsentation“ der im Kollektiv stattfindenden Prozesse tritt etwas anders gelagert auch in den Schreibzirkeln der DDR auf.

Wie Rüdiger Bernhardt, Mitherausgeber eines Leitfadens für Schreibende von 1976, in seinem Beitrag „Literarische Salons des Volkskunstschaffens“ darlegt, bestand die Hauptarbeit in den Zirkeln in der Auseinandersetzung mit den dort entstandenen Texten und im Gespräch über Literatur. Von der Textproduktion eines Zirkels war nicht unmittelbar auf die tatsächliche Arbeit und Bedeutung für das individuelle Schaffen zu schließen, die der oft langjährige gemeinsame Austausch für die Teilnehmenden hatte. Er macht außerdem deutlich, wie schwierig es war, den gesellschaftlichen Anspruch an die Zirkel mit den Individualinteressen der Schreibenden in Einklang zu bringen.

Autonomie der Kunst im Sozialismus?

Die Erwartungen, die die Politik an die schreibenden Arbeiter*innen herantrug, konnten größer nicht sein. Ihnen wurde, zumindest in der Vorstellung, die Aufgabe übertragen, durch ihre Praxis fundamentale Probleme des Marxismus zu bearbeiten: das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Kopf-und Handarbeit, von Notwendigkeit und Freiheit, von Darstellung und Reflexion. Betrachten wir nun diese Konstellation vom Standpunkt der historischen Avantgarde aus. Ganz so, wie es die historische Avantgarde gefordert hatte, war es mit der Autonomie der Kunst im Sozialismus dahin. Anstelle der bürgerlichen Institution Kunst übernahmen andere, politisch kontrollierte, gesellschaftliche Institutionen die Bewertung, Distribution und Reproduktion künstlerischer Praxis. Was bedeutete das konkret für die Künstler*innen?

Ihre Praxis stand direkt der Politik gegenüber, auf dem Terrain der politischen Arena. Ob unter den Bedingungen historischer Sozialismen oder nicht: Immer wenn Kunst tatsächlich politisch ist und konkrete Forderungen stellt, können wir diesen Vorgang beobachten. Denn Kunst kann nur dann in der Gesellschaft sozial oder politisch wirksam werden, wenn sie für Akteur*innen außerhalb der autonomen Institution Kunst von Belang ist.

Ob wir als soziale Funktion der Kunst die allgemeine Bewusstseinsbildung oder konkretere Wirkungen begreifen, sei dahingestellt. Fest steht, entwickelt künstlerische Praxis Methoden oder Konzepte, die gesellschaftliche Akteur*innen für soziale oder politische Projekte nutzen können, werden diese Gruppen die kulturelle Produktion in ihren Institutionen bewerten und über ihre Kanäle distribuieren.

Kritische Distanz zur eigenen Praxis

Das künstlerische Produkt wird dann von einer neuen Dynamik erfasst, emanzipiert sich von Autorin oder Autor und wird im Spiel der politischen Kräfte modifiziert. Damit ist das künstlerische Experiment beendet und wird durch politische Praxis ersetzt. In der negativen Wendung, und dafür haben wir genug historische und zeitgenössische Beispiele, kann diese politische Praxis für die Autor*innen Zensur, Berufsverbot, Gefängnis oder, im schlimmsten Falle, wie bei vielen Mitgliedern der historischen Avantgarde, die Hinrichtung bedeuten.

Kunst und Politik stehen im Widerspruch zueinander, ja scheinen sich in gewisser Weise auszuschließen.Ein Denkmodell für diesen Vorgang bietet die „Theorie künstlerischer Praxen“ des poststrukturalistischen Theoretikers Rastko Močnik, in der er Schemata für eine strukturelle Position der Kunst im historischen Verlauf entwickelt. Die künstlerische Praxis der Moderne ist nach Močnik eine ideologische Praxis, die eine innere Distanz im Feld der Ideologie herstellt. Dadurch ist sie befähigt–und in der Kunst der Avantgarde wird dies explizit–, bestehende künstlerische Herangehensweisen und Formen als ideologische zu erfassen und sie einer „sekundären Bearbeitung“ zu unterziehen.

Die künstlerischen Produkte dieser „sekundären Bearbeitung“ sind eine Abstrahierung konkreter Tatsachen. Sie stellen also nicht unmittelbar und bruchlos die gesellschaftlichen Umstände, sondern eine Brechung dieser Verhältnisse dar. Vereinfacht gesagt ist es die kritische Distanz zur eigenen Praxis, die die Kunst seit der Avantgarde dazu befähigt, bestehende Formationen aufzunehmen, neu zu organisieren, zu verwerfen oder möglicherweise zu transformieren. Wenn sich die künstlerische Praxis nun aus dem ideologischen Feld ins politische Feld bewegt, also Ideen und gesellschaftliche Fakten zielgerichtet verändern will, tritt sie in eine Konkurrenzbeziehung mit der Politik. Im Sozialismus, so Močnik, hat „die Politik […] die Kunst in der Rolle der sekundären Bearbeitung[…] der regionalen Ideologien einzelner und konkreter gesellschaftlicher Praxen abgelöst“.

Im Gegensatz zur künstlerischen „sekundären Bearbeitung“ versucht die politische „sekundäre Bearbeitung“ die Vorstellungswelt mit den gesellschaftlichen Tatsachen als Totalität in Einklang zu bringen. Dabei greift sie auf bereits existierende,„organisch“ mit den Lebensverhältnissen verbundene Ideologien zurück.

Ist die Avantgarde im „Osten“ gescheitert?

Heißt das nun, dass die Avantgarde auch im „Osten“ gescheitert ist, weil sie notwendig von der Politik ersetzt wurde? Wenn künstlerische Praxis im politischen Feld Veränderungen zeitigen will, muss sie sich für diesen Kampf wappnen. Wichtig ist zu begreifen, dass es dabei nicht um die Erweiterung des Kunstbegriffes geht, oder, wie im „Westen“ geschehen und bis heute praktiziert, um die Erweiterung der autonomen Institution Kunst durch den Import kunstferner (auch vermeintlich „politischer“) Inhalte.

Es geht vielmehr um die Erweiterung des Politischen. Die Kunst kann hier durch ihre abstrahierende Darstellungskraft einen Beitrag leisten, bestehende politische Praxis „sekundär zu bearbeiten“. Im Gegensatz zur Politik kann künstlerische Praxis dabei auf partikuläre Praxen und verbundene Ideologien, also auf konkrete Umstände und individuelle Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen eingehen, sie praktisch bearbeiten und repräsentieren. Darin liegt das Potenzial, das die Kunst in die politische Auseinandersetzung einbringen kann und wo künstlerische Methoden die Organisationsformen von Politik bereichern und politische Prozesse voranbringen können.

Transformation der politischen Praxis

Dies setzt natürlich voraus, dass die künstlerische Praxis nicht autonom agiert,sondern aus langfristigeren Beziehungen und beständigem Dialog mit anderen hervorgeht. Die Antwort auf die oben gestellte Frage ist mit „nein“zu beantworten, wenn man künstlerischen Praxen im Sozialismus die Möglichkeit der Transformation der eigenen Funktion im Verhältnis zur Gesellschaft und zur Politik zugesteht, hin zu einer sozial wirksamen Praxis.

Die Arbeit in den Zirkeln kann als heteronome Kunstpraxis im Sinne der Forderungen der Avantgarde, so wie sie Tretjakow vertrat, verstanden werden. Das Verhältnis zu Politik und Gesellschaft wurde ständig bearbeitet, und zwar sowohl durch die Interpretation und Verhandlung der Aufgaben der schreibenden Arbeiter auf politischer Ebene, als auch durch die Auseinandersetzung der Schreibenden untereinander und mit dem Schreiben in den Zirkeln selbst.

Der Rahmen dafür war durch die Institutionalisierung dieser Praxis, die sich ideologisch weder von der „Volkskunst“, noch von der „Hochkultur“ abgrenzen musste, gewährleistet, und, heute unvorstellbar: Die daraus hervorgehenden Diskurs-und Literaturproduktion war ökonomisch gesichert und musste nicht um kurzlebige marktgenerierte Aufmerksamkeit heischen. Die literarische Praxis musste sich nicht auf dem Markt durchsetzen, sondern in der Politik. Für die Akteur*innen in Kunst und Kultur der DDR war der politische Kampf um die Kunst alltäglich, und erschien sicher vielen lästig. Langfristig haben sie dadurch jedoch mit künstlerischen Methoden zur Transformation der politischen Praxis und Kultur in der DDR beigetragen.

Anm. d. Red.: Weitere Beiträge zum „Black Box East“-Jahresthema finden sich hier: https://berlinergazette.de/feuilleton/2021-black-box-east. Der Text basiert auf einem Beitrag für die Begleitpublikation der Ausstellung „Sprechchorzentrale“.

Ein Kommentar zu “Erweiterung des Politischen: Die künstlerische Praxis der Avantgarde im „Osten“

  1. Toller Artikel! Danke an Rena Rädle.
    Und vor allem an die BG-redaktion, die offenbar nunmehr diesen Diskurs zulässt. Das freut mich! Yana Milev

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