Während dekoloniale Bewegungen weltweit die Präsenz kolonialer Statuen im öffentlichen Raum in Frage stellen und ihre Entfernung fordern, nutzen Regierungen unbeirrt Denkmäler weiterhin, um das kollektive Gedächtnis zu formen und historische Narrative zu produzieren. Die Aktivistin, Kuratorin und Forscherin Elena Ishchenko untersucht den Fall Russlands und zeigt, wie eine repressive Erinnerungspolitik dem Kreml dabei hilft, seine Souveränität zu demonstrieren und seine anhaltende koloniale Expansion und Kriege zu rechtfertigen.
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Die Frage der Erinnerungspolitik ist besonders relevant für den anhaltenden Krieg in der Ukraine, der 2014 mit der Annexion der Krim begann und zur großangelegten Invasion und jüngsten Besetzung ostukrainischer Gebiete führte. Der strategische Einsatz historischer Narrative und die Glorifizierung der Vergangenheit helfen der Regierung Russlands, diese Verbrechen mit Erzählungen über die Befreiung vom Faschismus, den Schutz der Bevölkerung und große Kriegssiege zu verschleiern. Diese Erinnerungspolitik wird in ganz Russland betrieben. In den Teilrepubliken und Regionen, in denen die Erinnerung an die Kolonisierung noch lebendig ist und die den Folgen des überzentralisierten imperialen Regimes des Extraktivismus und des strukturellen Rassismus stärker ausgesetzt sind, wird sie jedoch besonders nuancierte und repressive Weise betrieben.
Grosny: Denkmäler gegen das Gedenken
2014, nur einen Monat vor der Annexion der Krim, wurde in Grosny, der Hauptstadt der heute zur Russischen Föderation gehörenden Tschetschenischen Republik, ein Gedenkkomplex für die Opfer von Stalins Deportation der Tschetschenen und Inguschen mit der offiziellen Begründung ‚Unstimmigkeiten mit dem Masterplan‘ vollständig zerstört. Der Zerstörung waren jahrelange Auseinandersetzungen zwischen den tschetschenischen Behörden und lokalen Aktivist*innen vorausgegangen, darunter die 2009 ermordete Menschenrechtsaktivistin Natalia Estemirowa. Das Mahnmal, eine skulpturale Komposition des tschetschenischen Künstlers Darchi Chasachanov, wurde durch Churten, tschetschenische Grabsteine, ergänzt. Jedes Jahr am 23. Februar, dem Tag der Trauer und des Gedenkens an den Beginn der Deportationen im Jahr 1944, versammeln sich Menschen am Denkmal, um an den Völkermord zu erinnern, dem bis zu einem Drittel der tschetschenischen Bevölkerung zum Opfer fiel.
Das Denkmal wurde zerstört, aber die heiligen Steine wurden zu einem anderen Denkmal auf dem Achmad-Kadyrow-Platz in Grosny gebracht, das den im Kampf gegen den Terrorismus Gefallenen gewidmet ist. Mit den Namen von Polizistinnen, Verwaltungschefs und religiösen Führern in der Mitte erinnert es an die Gefallenen des Zweiten Tschetschenienkrieges, die an der Seite der russischen Streitkräfte gegen die unabhängige tschetschenische Republik Itschkeria kämpften. Das Denkmal wurde 2010 eingeweiht, am 9. Mai, dem Tag, an dem Achmad Kadyrow, der erste von Moskau unterstützte autoritäre Führer und Vater des heutigen Präsidenten der Tschetschenischen Republik, Ramsan Kadyrow, bei einem Bombenanschlag getötet wurde. Einige Jahre später verlegte Ramsan Kadyrow den Trauer- und Gedenktag vom 23. Februar auf den 10. Mai und verband ihn mit der Beerdigung Achmad Kadyrows. Ruslan Kutayev, ein tschetschenischer Aktivist und Politiker, lehnte diese Entscheidung offen ab und wurde daraufhin wegen Drogenbesitzes verurteilt.
Instrumentalisierung der Erinnerung
Die Erinnerungspolitik im heutigen Russland wird durch kein spezifisches Gremium oder Gesetz definiert, mit Ausnahme des Gesetzes von 2014 und der Bestimmungen des Gesetzes von 2022, die Aussagen über die Rolle der UdSSR im Zweiten Weltkrieg und die Rechtfertigung des Nationalsozialismus regeln.
Die Manipulation von Erinnerungsdaten und -objekten ist ein integraler Bestandteil der Politik des russischen Staates, einen so genannten ‚einheitlichen historischen Raum‘ innerhalb der russischen Grenzen und in den besetzten Gebieten zu schaffen, indem er eine bidirektionale Politik verfolgt, die (1) alle lokalen, selbstorganisierten oder unabhängigen Initiativen der Erinnerungspolitik auslöscht und unterdrückt und (2) sie durch seine eigenen ideologisch geprägten Narrative ersetzt. Diese Strategie besteht seit den 2000er Jahren, wurde nach der Annexion der Krim intensiviert und wird seit dem Beginn der großangelegten Invasion in der Ukraine im Jahr 2002 mit voller Kraft betrieben.
Im Jahr 2008 versuchten die tschetschenischen Behörden, das Denkmal zu zerstören, doch Aktivist*innen leisteten Widerstand. Im Jahr 2014 war dies nicht mehr möglich, da das Kadyrow-Regime die Stimmen der Opposition ignorierte und unterdrückte. Um ein Beispiel zu geben: Die Verfolgung von International Memorial, einer prominenten Nichtregierungsorganisation, die sich für die Bewahrung der Erinnerung an die sowjetische Unterdrückung und den Schutz der Menschenrechte einsetzt, begann 2007 mit Angriffen, DDoS-Attacken, Drohungen und fingierten Gerichtsverfahren und gipfelte in der Anordnung des Obersten Gerichtshofs Russlands, die Organisation im Februar 2022 zu schließen, nur wenige Tage nach dem massiven Einmarsch in die Ukraine.
Der Fall von International Memorial ist zwar sehr bekannt, aber in den Republiken gab es viele ähnliche, weniger sichtbare Kämpfe. Im Jahr 2021 verurteilte ein Gericht in Baschkortostan die 60-jährige Ilmira Bikbajewa wegen ‚Finanzierung von Extremismus‘ zu drei Jahren Haft auf Bewährung, weil sie Geld für die Errichtung eines Denkmals für das Volk von Baschkortostan gespendet hatte, das 1736 während der Kolonisierung des Landes von der kaiserlich-russischen Armee niedergemetzelt worden war. Im selben Jahr wurde das Denkmal für den baschkirischen Historiker und Führer der baschkirischen Befreiungsbewegung, Zeki Velidi Togan, an der Staatlichen Universität St. Petersburg abgebaut.
Unterdrückung abweichender Meinungen
Im Zuge der Bauarbeiten für die Olympischen Spiele 2014 wurden mehrere wichtige Stätten, die an das indigene Volk der Tscherkess*innen (Adyge) erinnern, zerstört, insbesondere Krasnaja Poljana oder Qbaada in Adyghen. Dort starben 1864 am Ende des über hundertjährigen russisch-zirkassischen Krieges viele Tscherkess*innen, als die kaiserlich-russische Armee die letzte Schlacht um Tscherkessien feierte, gefolgt von ethnischen Säuberungen. Im Jahr 2020 wurde in den Republiken des Nordkaukasus, in denen die indigene Bevölkerung der Adygejer lebt, die traditionelle Gedenkprozession zum Gedenktag des Völkermordes an den Tscherkessen aufgrund der COVID 19-Beschränkungen abgesagt, die später aufgehoben wurden, aber das Verbot bleibt in Kraft.
Die Verfolgung von Memorial und ähnliche repressive Maßnahmen in verschiedenen Republiken zeigen die Bemühungen des Kremls, die Darstellung der Geschichte zu kontrollieren und abweichende Meinungen zu unterdrücken. Der Kreml betrachtet solche kollektiven Erinnerungspraktiken als feindlich und als Bedrohung für seine territoriale Integrität, da sie die Beziehungen zum Land umgestalten, es zurückerobern und die Legitimität der Kolonialregime in Frage stellen können. So erinnert das Gedenken an den Genozid an den Tscherkessen auch an die Verbrechen der russischen Kolonisation, und das 1992 unter Dschochar Dudajew, dem ersten Präsidenten der unabhängigen tschetschenischen Republik Itschkeria, errichtete Denkmal für die Opfer der Deportationen in Grosny entsprach nicht nur dem Bedürfnis der Bevölkerung, die Vertreibung offen zu diskutieren, sondern spiegelte auch die Ideen der Unabhängigkeit wider.
Die russische Regierung lässt nur staatlich sanktionierte Formen des Gedenkens zu. Selbstorganisierte Veranstaltungen werden unterdrückt (wenn auch nicht völlig unterbunden) und durch Strafandrohung verunsichert. „Da das Ziel der Erinnerungspolitik darin besteht, die Vorstellungen über die gemeinsame Vergangenheit so auszurichten, dass sie die gegenwärtige Politik unterstützen, wird ein Regime versuchen, so viel Kontrolle wie möglich über die öffentlichen Ausdrucksformen des kollektiven Gedächtnisses auszuüben“, schreibt die Forscherin Mariëlle Wijermars in ihrem Buch „Memory Politics in Contemporary Russia“ (2018). Um die zweite Richtung der Erinnerungspolitik erfolgreich umzusetzen, nämlich Erinnerungspraktiken mit ideologisch geprägten Narrativen zu füllen, proklamiert das russische Regime sein exklusives und autoritäres Recht auf alle Manifestationen im öffentlichen Raum.
Performative Souveränität
Die überwiegende Mehrheit der öffentlichen Denkmäler, die in den letzten Jahren in Russland errichtet wurden, geht auf die Initiative lokaler Regierungen und verschiedener staatlicher oder vom Kreml unterstützter Organisationen wie der Russisch-Orthodoxen Kirche oder des Kulturministeriums zurück. Der Grenzdienst der Russischen Föderation hat beispielsweise mehrere Dutzend Denkmäler für russische Grenzsoldaten errichtet (einige davon finden Sie hier). Territoriale Integrität fördern? Klingt wie ein Witz. Andere Organisationen waren mit diesem Ziel erfolgreicher, allen voran die Russische Militärhistorische Gesellschaft (RMHS), die 2012 per Präsidialerlass von Wladimir Putin gegründet wurde. Mit ‚monumentaler Propaganda‘ als Schlüsselstrategie hat die RMHS mehr als 250 Denkmäler in Russland, anderen Ländern und den besetzten Gebieten der Ukraine errichtet, darunter das riesige Denkmal für die Söhne Russlands, die im Bürgerkrieg kämpften, in der Krim-Stadt Sewastopol (2021). In Grosny errichtete das RMHS mehrere Statuen tschetschenischer Soldaten: Helden des so genannten Großen Vaterländischen Krieges (sowjetische Beteiligung am Zweiten Weltkrieg, 2023).
Mit Aleida Assmann könnte man diese Strategie, bestimmte Ereignisse und Persönlichkeiten hervorzuheben und in das „aktive kulturelle Gedächtnis“ aufzunehmen, als „Kanonisierung“ bezeichnen – d.h. etwas zu einer „stabilen Referenz“ zu machen: „Der Kanon steht für das aktive Arbeitsgedächtnis einer Gesellschaft, das die kulturelle Identität einer Gruppe definiert und stützt.“
Das Narrativ des Krieges, auch ohne die Erwähnung von Schlachten oder Figuren, ist auch nützlich, um zwei Vorstellungen zu ermöglichen: (1) die Vorstellung einer möglichen Bedrohung von außen und eines Schutzes, den nur Russland bieten kann, und (2) die Vorstellung vom Krieg als Drohung, die das russische Regime gegen diejenigen einsetzen kann, die sich seinen kolonialen Ambitionen widersetzen. Für die Menschen in der Ukraine, in Georgien oder in Tschetschenien ist dies nicht nur ein leeres Wort, sondern der Schrecken, den sie erlebt haben.
Die lokalen Verwaltungen konzentrieren sich weniger auf militärische Anstrengungen als auf die Verdrängung der Kolonialisierungsverbrechen. In Jakutsk, der Hauptstadt der Republik Sacha, einer der asiatischen Republiken der Russischen Föderation, wurde 2005 ein Denkmal für den russischen Kosaken Semjon Dezhnyov, seine Frau Abakayada und ihr Kind errichtet. Während in den Schulbüchern von friedlicher Eroberung und zivilisatorischer Mission die Rede ist, offenbaren historische Quellen, darunter die der zaristischen Obersten, die Brutalität der Eroberung der Sacha und anderer indigener Völker Nordasiens, die Verbreitung sexueller Gewalt unter Soldaten und Siedler*innen sowie den starken Widerstand. Hinter dem Etikett des ‚großen Entdeckers‘ verbarg sich ein erfolgreicher Siedler und Pelzhändler, der wesentlich zur Eroberung Kamtschatkas und zur Unterwerfung der indigenen Völker beitrug. Abakayada, in russischer Kleidung dargestellt, symbolisiert einen zivilisierten und christianisierten Ureinwohner. Ähnliche Denkmäler, die russische Kolonist*innen neben Ureinwohner*innen zeigen, finden sich fast überall, von Krasnodar bis Wladiwostok. Sie ersetzen die Geschichte von Kolonisierung und Widerstand durch den Mythos der friedlichen Koexistenz und Einheit unter russischer Herrschaft. Auf einem der Plakate zur Kriegsmobilisierung, unmittelbar nach Beginn der großangelegten Invasion in der Ukraine, war zu lesen: „Ich bin ein Kalmücke, aber heute sind wir alle Russen.“
Die politische Funktion der Unsichtbarkeit
Aleida Assmann spricht von einer „kollektiven Autobiographie“ eines Nationalstaates, die im Kontext des russischen imperialen Regimes ihre eigenen Nuancen hat. Eine gemeinsame Vergangenheit wird in ein kulturelles Gedächtnis transformiert, das ein Gefühl gemeinsamer nationaler Identität konstruiert, was vielleicht die wichtigste Aufgabe russischer National- und Erinnerungspolitik ist. Aber wer kümmert sich um diese Denkmäler? Niemand nimmt sie wahr, geschweige denn kennt er oder sie die Personen und Ereignisse, die sie darstellen. Könnten Bürger*innen von Sewastopol einen der namenlosen Soldaten des Bürgerkrieges identifizieren, die auf dem neu errichteten Denkmal geehrt werden? Kennen die Einheimischen all diese Kolonisator*innen und Obersten auf den Plätzen ihrer Stadt? „Es gibt nichts Unsichtbareres auf der Welt als ein Denkmal“, hat Robert Musil einmal gesagt. Aber das Ziel einer solchen Kanonisierung ist nicht die Darstellung bestimmter Personen oder Ereignisse, denn die russische Regierung will nicht die Aufklärung über die dargestellten Ereignisse fördern, sondern die Gewöhnung an die symbolische Bedeutung, die sie tragen und manifestieren. Tatsächlich spielt die ‚Unsichtbarkeit‘ eine entscheidende Rolle bei der Legitimierung stark ideologisierter historischer und politischer Narrative, indem sie diese zu einem Teil der natürlichen Ordnung der Dinge macht – etwas, das als selbstverständlich angesehen wird.
So geht es bei Denkmälern nicht nur um die Faszination der gemeinsamen Vergangenheit, sondern auch um eine bestimmte Vision der gemeinsamen Zukunft. Das Denkmal selbst ist gegenwärtig, es ordnet die Gegenwart und schlägt sie als Idee für die Zukunft vor. Wie Nicholas Mirzoeff in seinem Text „Once More, the Monuments Must Fall“ schreibt: Denkmäler „sind absolut ‚jetzt‘. Und sie verteidigen und projizieren eine bestimmte Vision der Zukunft als koloniale weiße Siedlerherrschaft“. Ein solches Regime weißrussischer Vorherrschaft versucht Russland seinen ehemals kolonisierten oder neu besetzten Gebieten durch den strategischen Einsatz von Denkmälern, Erinnerungspolitik im Allgemeinen und die Manipulation historischer Narrative aufzuzwingen. Ariella Aïsha Azoulay hat darauf hingewiesen: Um sich zu etablieren, muss Souveränität immer wieder performativ zur Schau gestellt werden. Diese Denkmäler, manchmal seltsam, manchmal erschreckend, sind Teil dieser Inszenierung, die nicht zuletzt darauf abzielt, den andauernden Kolonialkrieg in der Ukraine, die Verbrechen gegen die Ukrainer*innen und die Besetzung ihrer Gebiete zu rechtfertigen – im Einklang mit der Vision, dass ‚Russland für immer hier ist‘.