Zeitungen bieten hierzulande die “Grundversorgung” (Habermas) der öffentlichen Kommunikation. Jetzt, da die digitale Revolution in der Mitte Deutschlands angekommen ist, fragt sich: Was unternehmen Zeitungen, um ihrer Rolle gerecht zu werden? Denn eines ist klar: Ohne entsprechende Öffentlichkeit, entsteht kein Bewusstsein für diesen historischen Moment. Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki geht der Sache auf den Grund.
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Wir erfinden uns neu. Diese vier Worte könnten das Motto der digitalen Revolution sein. Wofür steht das Wir? Wir als Gesellschaft… Wir als Bürger… Aber eben auch: Wir als Öffentlichkeit… erfinden uns neu. Das ist entscheidend. Ohne Öffentlichkeit gibt es kein geteiltes Bewusstsein darüber, dass „es“ passiert. Oder passiert ist. Dieses große, wichtige Ereignis: Die Revolution, in deren Zentrum das Internet und die digitale Vollvernetzung des gesamten Lebens stehen.
Öffentlichkeit, und auch das ist entscheidend, wird in Deutschland maßgeblich von Zeitungen hergestellt. Also von jenen Medien, die vor der digitalen Revolution ‘an die Macht’ kamen. Und die noch immer an der Macht sind. Paradoxerweise. Immerhin trifft sie der Umbruch mitten ins Mark. Erschüttert ihr Selbstverständnis und Geschäftsmodell, ihre Macht und gesellschaftliche Funktion.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb organisieren sie in Zeiten der digitalen Revolution maßgeblich die Öffentlichkeit und somit unser Verständnis darüber, was diese ausmacht. Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem BDZV-Kongress betonte: „49 Millionen Menschen über 14 Jahren – also fast 70% unserer Bevölkerung über 14 Jahren – lesen regelmäßig eine Tageszeitung. Damit hat Deutschland eine Zeitungsdichte wie nur wenige Länder Europas.“
Den Tipping Point erreicht
Merkel sagt damit: Zeitungen bleiben “die politischen Leitmedien” – so wird sie jedenfalls in der Welt zitiert. Diese Lesart entspricht dem Wunschbild des Philosophen Jürgen Habermas. Für ihn bieten Zeitungen die energetische “Grundversorgung” der öffentlichen Kommunikation. Realistischer gedacht könnte man sagen: Zeitungen haben das Potenzial, eine kritische, aufgeklärte Öffentlichkeit herzustellen. Gerade in diesen Monaten ist dieses Potenzial von besonderer Bedeutung. Denn Deutschland hat einen Tipping Point erreicht: Die digitale Revolution ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Erstes Anzeichen: Die Zeitungen, die die öffentliche Kommunikation dieser Mitte bisher federführend formten, arbeiten in dieser Sache nicht mehr allein. 70% der Menschen in Deutschland nutzen das Internet – also genauso viele wie in der BRD Zeitungen lesen. Die Zahlen sprechen nicht nur für sich. Inzwischen sind sie auch im kollektiven Bewusstsein eingesickert. Vernetzte Öffentlichkeit ist hierzulande selbstverständlich geworden. Nur zu welchen Bedingungen? Die Debatten darüber haben erst angefangen. Das Spektrum ist äußerst breit.
Der arabische Frühling, Fukushima oder die Tötung Osama Bin Ladens – diese Großereignisse konnten nur durch das Zusammenspiel von klassischen Medien und Internet einen gewaltigen Grad der medialen Verbreitung erfahren. So gewaltig, dass sie zu “Mega Stories” (PEJ) avancierten, wie sie zuvor allenfalls nur in einem einzigen Ausnahmefall pro Jahr verzeichnet werden konnten. Jetzt kommen diese Blockbuster in Serie.
Globale Internet-Unternehmen wie Google und Facebook führen die Erneuerungen ihrer Dienste in immer schneller getakteten Folgen ein: Gesichtserkennung, Klarnamen-Zwang und der „Griff nach dem ganzen Leben“ (FR). Was sie umstritten macht, qualifiziert sie offenbar als Fackelträger der Revolution. Was sonst hätte der Google-Chef auf dem Cover des manager magazin im Che-Guevara-Look verloren?
Auch in anderen Bereichen geht es Schlag auf Schlag. So können wir in einem Atemzug vermelden: die vernetzte Zivilgesellschaft stürzt erstmalig in der Geschichte einen Minister (symbolisiert durch den Barcode des GuttenPlag-Wikis, s.o.), die Hacker vom Chaos Computer Club werden ARD- und ZDF-kompatibel, die Piraten-Partei zieht ins Berliner Parlament ein, Google gründet das Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin, WIRED Deutschland kommt auf den Markt, mit dem Verein Digitale Gesellschaft entsteht ein Greenpeace für die digitale Revolution, usw.
Was leisten Zeitungen in dieser wichtigen Phase?
Die digitale Revolution wird seit 20 Jahren im Rhythmus globaler Sportereignisse immer wieder neu ausgerufen: die Gründung von AOL Deutschland und Vernetzung aller Haushalte in Deutschland (1995ff), der kommerzielle Adrenalin-Rausch im Namen der New Economy (1999ff), die Einführung des Breitband-Internet “Web 2.0” als Mitmach-Massenmedium (2003ff) und dann der “Social”-Turn im Zeichen von sozialen Netzwerken (2007ff).
Im Jahre 2011 steht “totale Transparenz” auf den Fahnen der digitalen Revolution. Hat dieser Prozess in der aktuellen Phase eine neue Dimension erreicht? Ja. Das ist nicht zuletzt daran erkennbar: Die digitale Revolution kann nicht mehr als Marketing-Hype abgetan werden, denn sie markiert zwischen Konzernen wie Facebook, zivilgesellschaftlichen Organisationen wie WikiLeaks und dem Staat ein gesamtgesellschaftliches Spannungsfeld. Wir müssen sie ernster nehmen als jemals zuvor. Und wir tun dies auch.
Das Bewusstsein darüber haben wir nicht zuletzt Zeitungen zu verdanken. Nur: danken wir ihnen nicht zu schnell. Seien wir lieber kritisch. Fragen wir: Was leisten sie in dieser wichtigen Phase? Haben sie ein Auge für das große Ganze – für die Tragweite des Prozesses samt seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft? Oder sind sie mehr mit sich selbst beschäftigt?
“Niemand identifiziert sich mit dem Internet.”
Die Unruhe, die die digitale Revolution verbreitet, die Orientierungslosigkeit, die sie bedingt, die Krise, die sie einleitet – all das sind neben den genannten Zahlen und Ereignissen weitere Anzeichen für den Umbruch. Anzeichen, die in der Mitte Deutschlands spürbar sind und die wir auch aus den führenden Organen der analogen Ära herauslesen. Doch ihnen fehlt, bei genauerer Betrachtung, die Distanz zu der eigenen Sprecherperspektive.
Frank Schirrmacher, der als Sinn-Botschafter der Zeitungsmacher wahrgenommen wird, hat das Dilemma kürzlich auf den Punkt gebracht. Im Juni diesen Jahres sagte er bei seiner Antrittsrede der 8. Tübinger Mediendozentur: „Mit dem Internet identifiziert sich niemand, mit der FAZ […] schon.“ Wir wollen nicht erst fragen, was netzaffine FAZ-Autoren wie Stefan Niggemeier, Christoph Kappes oder Constanze Kurz über diese Aussage denken. Wir wollen uns nicht mit dem Offensichtlichen aufhalten: Natürlich identifizieren sich Menschen mit dem Internet. Zusammengenommen sicherlich mehr als mit einer einzelnen Zeitung.
Frank Schirrmachers Antrittsrede der 8. Tübinger Mediendozentur
Das Internet ist ein zutiefst emotionales Medium. Selbst für gestandene Zeitungsmacher wie Alan Rusbridger: „Er liebt das Internet“. (Der Spiegel, 26.9.). Worauf es ankommt bei Schirrmachers Aussage, übrigens das dramatisch zugespitzte Schlusswort seiner Rede, ist die Entweder-Oder-Rhetorik. Sie ist so alt wie der Kampf der Zeitungen gegen das Internet.
Die Entweder-Oder-Rhetorik – das ist der Subtext, welcher der Öffentlichkeitsarbeit der Zeitungen spätestens seit den Nuller Jahren des 21. Jahrhunderts zu Grunde liegt: Old vs. New Media (etwa: Journalisten vs. Blogger), Old vs. New Economy (etwa: Springer vs. Google). Das ist freilich nicht mehr und nicht weniger als ein pubertärer Identitätsdiskurs.
50 Millionen Menschen in der kollektiven Pubertät?
Auch die Zeitungen rufen immer wieder: Wir erfinden uns neu! Und im Kleingedruckten steht: Aber wollen wir das auch? Diese Frage stellen sie sich in erster Linie selbst. Denn sie hadern mit der digitalen Revolution – spätestens seitdem sie weniger Gewinn machen. Sie wollen „dagegen halten“ (Schirrmacher). Doch sie machen ihre eigene Identitätskrise nicht transparent. Stattdessen haben sie ihre Sorgen und Ängste zu unseren Problemen gemacht. Schirrmacher sagt: „Wenn die Zeitung bedroht ist, dann sind wir’s alle“.
So fragen sie uns, mal mehr, mal weniger direkt: Gehörst du zu der guten alten Welt oder zu der schönen neuen Welt? Doch wir müssen uns nicht entscheiden. Nicht in dieser Frage zumindest. Denn wir sind schon mittendrin. Und hier, in der digitalen Revolution, geht es um Zusammenarbeit – auf allen Ebenen. Auch zwischen Journalisten und Bloggern. Merkel hat dafür nur den schwachen Begriff der „Ergänzung“ parat.
Die Eliten der analogen Ära haben das in Deutschland noch nicht erkannt. Oder: sie wollen es noch nicht wahrhaben. Aber wenn die Zeitungen auch weiterhin als Leitmedien fungieren wollen, dann müssen sie den entscheidenden affirmativen Schritt tun. Affirmation nicht im Sinne von Ja-Sagen zu allem. Sondern im Sinne des Berliner Philosophen Marcus Steinweg: Wahrhaben von allem. Und das bedeutet auch, die Momente von Unruhe, Orientierungslosigkeit und Krise beim Schopfe packen.
Was sind die wirklich wichtigen Probleme der digital vernetzten Menschen? Doch nicht was echte Freunde oder wahre Liebe im Internet-Zeitalter sind! Genauso wenig, was der richtige Umgang mit dem Netz ist, um nicht süchtig zu werden! (Niggemeier dazu hier.) Die 50 Millionen Internet-User in Deutschland durchleben derzeit keine kollektive Pubertät. Deshalb brauchen sie auch nicht die von Mathias Döpfner empfohlene „Führung“ der Zeitungen. Nein: Wir sind mitten in einer Revolution, die nicht nur die alte Führung, sondern das Prinzip Führung in Frage stellt.
Wir erfinden uns neu: Solange wir Bürger sind
Wenn das Jahrzehnt der großen Zeitung aufkommen soll, dann nur, wenn die richtigen Fragen auf den Titelseiten stehen, etwa: Wie können wir uns als Bürger in der digitalen Gesellschaft jene Rechte sichern, die bislang selbstverständlich waren?
Denn wir müssen uns klar machen: „Ähnlich wie die Bürger, das Bürgertum und die Arbeiterklasse sich Rechte vom Staat erkämpfen mussten, genau so müssen wir das als Bürger heutzutage [in der digitalen Gesellschaft] auch wieder machen.“ Das fordert Thorsten Schilling in der De:Bug, seines Zeichens der Medien-Beauftragte der Bundeszentrale für politische Bildung.
Umso genauer müssen wir hinhören, wenn uns Experten mitteilen, das demokratische Prinzip des Bürgers werde abgeschafft. Selbst oder gerade wenn es sich um gut gemeinten Alarmismus handelt. Miriam Meckel etwa, bekanntlich die Digital-Fee der Zeitungsmacher, beginnt ihre anthropologische Diagnose der digitalen Gesellschaft mit der Narziss-Episode aus der griechischen Mythologie – eine archetypische Figur abendländischer Identitätsdiskurse. Und verkündet dann: „Der berechnete Mensch kann nicht mehr Bürger sein. Er ist Produkt einer ‘Like’-Diktatur.“
Doch haben wir nicht selbst in einer Diktatur eine politische Minimal-Basis? Und somit einen Spielraum als Bürger? Die Zeitungen sollten jetzt ihren Bildungsauftrag wahrnehmen und diesen Spielraum vermessen und besetzen helfen – er ist derzeit bedeutend größer als in einer Diktatur. Sie sollten dort ansetzen, wo die Bürgerinnen und Bürger bereits aufbegehren: im diskursiven Zentrum ihrer Initiativen. Aber sie sollten auch Latenzen erkunden und neuen Bewegungen den Weg in eine breite Öffentlichkeit ebnen.
Anm. d. Red.: Dieser Text ist der zweite Text in einer Serie über die “Zeitung im Medienwandel”, der erste Text hieß Jahrzehnt der großen Zeitung: Frank Schirrmacher, Digitalisierung und der Fall der chinesischen Mauer.
Dieses Meckel-Zitat ist eigentlich nur Ausdruck eines tiefen Unverständnisses des Internet, in dem es schon immer um Teilen, um Weiterentwickeln, um Kooperieren ging. Es gibt den berechneten Menschen nur in den Datenbanken der Konzerne, er selbst ist aber kein Produkt, sondern immer noch frei in seinen Entscheidungen – wie vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Das ist so, also würde ich sagen: Jeder, der Werbeplakate ansieht, kann kein Bürger sein.
Die Kritik entspringt eigentlich einem Wettbewerbsdenken – du oder ich. Die analogen oder die digitalen Medien. Wie du richtig sagst, wäre eigentlich die Frage, wie man am besten kooperiert – und sich gemeinsam weiterentwickelt. Wie man das eine in das andere Medium überträgt, dort weiter entwickelt und wieder zurück überträgt. In diese Prozesse muss mehr Phantasie gesteckt werden. Im Grunde ist das Internet nämlich eine gigantische Kooperationsmaschine.
die FAZ geht neu ins Netz, neuer Auftritt, neuer Ansatz, hier ein Text über das Wie und Warum und Wohin:
http://www.faz.net/aktuell/die-f-a-z-im-internet-uebersichtlich-meinungsstark-und-diskussionsfreudig-11447692.html
Ich finde es wichtig, das entweder-oder-denken zu überwinden, und kann deswegen nur christiane beipflichten: der Grundgedanke im Netz ist das Teilen und Kooperieren, deswegen muss die Diskussion sowohl im Netz als auch in den Zeitungen darum gehen, was JETZT passiert und was jetzt wichtig ist und nicht darum, wer in welcher Welt unterwegs ist, es gibt nur die EINE welt!!
danke°
merkwürdiges timing… perlentaucher schreibt, die zeitungen ziehen sich aus dem netz zurück just in diesem moment, was passiert: sie ziehen ihre print-inhalte aus dem netz und machen es ein bisschen wie spiegel online… so von wegen: nachrichten portal. ich sehe das eigentlich gar nicht so skeptisch, denn es ist ein schritt in die richtung: wir probieren es jetzt ernsthaft im netz.
http://www.perlentaucher.de/blog/216_deutsche_zeitungen_stehen_kaum_noch_online
http://www.perlentaucher.de/blog/216_deutsche_zeitungen_stehen_kaum_noch_online
Ein Witz in dieser Hinsicht ist freilich, dass viele Zeitungen gar nicht entscheiden, ob sie online sind oder nicht. Diese Entscheidung überlassen sie längst – willentlich wie der Spiegel oder netz-ignorant wie die Zeit – den Piraten.
@#8: du willst damit sagen: die piraterie macht es den zeitungen unmöglich sich ordentlich im netz zu verbreiten? wenn dem so ist: eine arg konservative haltung, nicht zuletzt im hinblick auf “piraterie”, was ja “sharing”-kultur meint, aber auch auf das geschäftemachen im netz, das die zeitungen aus der alten welt 1:1 auf das netz übertragen wollen.
@#7+8: “Könnte es sein, dass die Zeitungen systematisch versuchen, die Leser aus dem Netz zu holen?”
das ist nur eine interessante Frage, die +Thierry Chervel in seinem Beitrag “Deutsche Zeitungen stehen kaum noch online” (http://www.perlentaucher.de/blog/216_deutsche_zeitungen_stehen_kaum_noch_online) stellt.
Gemeint ist das offene Netz, das Internet, im Gegensatz zu den “Walled Gardens” bzw. Gated Communities, die Facebook bietet bzw., und das ist wohl langfristig entscheidender, Apple und Amazon mit ihren Tablet-Universen (iPad und Kindle lassen grüßen).
Am Ende zieht Chervel folgendes Fazit:
“In zwanzig Jahren Internet sind die deutschen Zeitungen einen Sonderweg gegangen. Sie haben sich – mit Zwischenphasen – immer mehr vom Netz abgeschottet. Es gibt sie, abgesehen von den Epapers und Online-Archiven, praktisch wieder nur noch im Print.”
Und auf Tablets – wäre zu ergänzen.
Daher fragt Chervel zukunftsweisend:
“Werden Jobs und Bezos zu den neuen Herren der Öffentlichkeit?” u.a. vorausgesetzt, man pflichtet den Zeitungen eine zentrale, ja, DIE zentrale Rolle bei der Herstellung von Öffentlichkeit bei, wie ich es in meinem Essay oben nicht ohne Vorbehalte und Fragezeichen tue.
Sehr gute Artikel – der auch indirekt auf einen Punkt hinweist, der in der Diskussion Zeitung vs. Internet selten bedacht wird: Das Internet bietet die Kommunikation zu einem Artikel an, die eine Zeitung nie schaffen würde. Gute Artikel werden schnell kommentiert und im Netz weiterverbreitet. Wann hat jemand schon mal einen Zeitungsartikel ausgeschnitten, ist damit durch halb Deutschland gefahren und hat den Artikel jemanden gegeben “Hier lies das mal” – damit erfüllt das Web einen wesentlichen journalistischen Auftrag: verteile die Nachricht.
@#4: hinter den letzten Absatz von +Christian Jakubetz über den hochwertigen Online-Journalismus möchte ich ein Ausrufezeichen setzen (können). Eine Funktion, die neben bisherigen Möglichkeiten wie teilen und plusen, eingeführt werden sollte: bestimmte Textstellen taggen und kommentieren, vielleicht sogar umschreiben – nicht unter dem Text, sondern im Text selber. Ein bisschen WikiPedia. Ein bisschen Multimedia. Dann wäre der Online-Journalismus um einiges weiter. Wir können das hier ohne die Mittel nur auf ganz kleiner Flamme oder eben immer nur dann wirklich grundlegend weiterentwickelt betreiben, wenn die Tools den Massen bereit stehen.
Hier klafft also durchaus eine Lücke in der Grundversorgung. Wir müssen häufig allzu lange warten, bis sich bestimmte (meist kostenlosen) Angebote auf dem Markt etablieren können. In einem ganz anderen Zusammenhang wäre das soziale Netzwerk diaspora ein gutes Beispiel. Warten auf die Grundversorgung. Oder hier und da ein wenig mitbasteln – als Coder oder Blogger, der die Grenzen seiner Tools auslotet und aufzeigt, weiterentwickelt. Oder eben darüber philosophieren und debattieren, was sie eigentlich bieten soll. Ja: was sie eigentlich sein soll.
Denn das ist nicht ganz klar. Und nicht befriedigend, wenn wir die Grundversorgung hier aus reiner Konsumentenperspektive entwerfen: wo stille ich meinen Hunger? Immerhin sprechen wir nicht nur über Dienstleistungen. Sondern in erster Linie über Öffentlichkeit. Über öffentliche Kommunikation als Plattform/Vehikel/Katalysator des Politischen. Die Haltung/Aktivität des Einzelnen geht in diesem Zusammenhang über Konsum hinaus (nicht das Konsum unpolitisch ist). Und sie geht über das reine Bedürfnisstillen hinaus. So sollte man “Versorgung” nicht missverstehen.
Habermas vergleicht, wie zulässig oder unzulässig sei dahin gestellt, die Zeitungen und ihr “energetisches Angebot” mit Wasser, Elektrizität, etc.
Das sind Gemeingüter.
Und hier wird die Debatte doch spannend. Hier können wir die Rolle der Zeitungen und anderer, neuer Medien ernsthaft auf den Prüfstein stellen:
Denn unter Gemeingütern versteht man Güter, die von allen zu gleichen Bedingungen geteilt werden können. Die Zeitungen und auch das Internet weisen in letzter Zeit jedoch immer stärkere Anzeichen von Privatisierung auf (siehe auch +Thierry Chervel über Faz.net & Co.: http://www.perlentaucher.de/blog/216_deutsche_zeitungen_stehen_kaum_noch_online )
So selbstverständlich ist das Netz also nicht die Grundversorgung. Zeitungen freilich ebenso wenig. Insofern hat +Christoph Kappes vollkommen recht und weist auf ein weiteres Defizit hin: über verschiedenste Fragen in diesem Zusammenhang gibt es keine langfristige Sicherheit!
@#9
“@#8: du willst damit sagen: die piraterie macht es den zeitungen unmöglich sich ordentlich im netz zu verbreiten? wenn dem so ist: eine arg konservative haltung, nicht zuletzt im hinblick auf “piraterie”, was ja “sharing”-kultur meint, aber auch auf das geschäftemachen im netz, das die zeitungen aus der alten welt 1:1 auf das netz übertragen wollen.”
Sharing und Piraterie halte ich in der Tat nicht für synonym. Wenn Leute wie z. B. bei wikipedia kostenlos Inhalte produzieren und verteilen, ist das das eine, nämlich Sharing, würde ich sagen. Wenn Leute sich die Inhalte anderer Leute schnappen und gegen deren Willen verbreiten, um damit ihrerseits Geld zu verdienen, ist das Piraterie – im negativen Sinne.
Dazwischen liegt natürlich eine weite Grauzone, die man differenziert betrachten muss. Und die sich entwickeln muss, z. B. was die Kostenmodelle angeht. Wenn ich demnächst eine Zwangsabgabe (GEZ) zahlen muss, obwohl ich deutsche öffentlich-rechtliche Inhalte gar nicht nutze, sehe ich das nicht ein. Wenn daraus eine allgemeine Kulturflatrate würde, von der dann etwa auch die Zeitungen profitieren, ließe sich darüber reden.
Wenn Du Dein Geld mit der Produktion von Inhalten verdienen müsstest, würdest Du da womöglich auch konservativer denken.
Kommen wir vom Regen in die Traufe? Die Jahrzehnte der alles beherrschenden Printmedien, vor allem der großen Zeitungen, neigen sich zusehends unter dem technischen Wandel in einer aus dem Nichts entstandenen digitalen Welt dem Ende zu. Die Vielfalt der Meinungen und Informationen hat sich verändert zur Vielfalt und Fülle des Netzes. Verengte sich öffentliche Meinung (gemacht) mehr und mehr auf wenige Groß- und Mainstream-Medien wie FAZ, Spiegel etc., sehen wir leider heute die neuen Beschneidungen von Meinungsvielfalt auch im Netz entstehen, die weitaus schlimmer sein werden. So entdeckte ich bei Twitter in diesen Tagen den Button “top”, wenn ich hashtags anklicke. Damit werden meine z.B. mit #Politik aber auch #Kunst oder #Lyrik versehenen Tweets mühelos ausgeblendet. Das sie nicht top sind, hat wahrscheinlich eine Maschine nach geheimen Algorithmen entschieden. Wer sagt mir, dass nicht auch manuelle Sortierungen stattfinden? Damit hat sich die Freiheit des Netzes und Social-Media für mich endgültig verabschiedet.
@#14: ich sehe schon ein, wie die welt sich darbietet aus den augen eines content-produzenten, nur die kritik in der öffentlichkeit (und damit einhergehend anti-piraterie-propaganda) nimmt nicht diese perspektive ein, sondern der perspektive der leute, die mit den content-produzenten traditionell geld verdienen, also verlage, etc. das ist ungerecht und gänzlich verlogen. und deshalb finde ich, dass man bei der anti-piraterie-propaganda nicht mitmachen darf.
@#15: “Ein Übel gegen ein noch schlimmeres tauschen – von einer unangenehmen Situation/Lage in eine noch unangenehmere geraten” – das ist der wortsinn von “vom regen in die traufe”: das passt vielleicht. aber nicht so schnell die freiheit von social media und internet verabschieden, nicht so schnell beide in einen topf werfen! es sind doch zwei verschiedene systeme: social media (facebook, twitter, etc.) und internet. ersteres sind tendenziell geschlossen, letzteres ist offen. erstere werden von einer einzigen firma dominiert, teils von einer einzigen person (“regent zuckerberg”), letztere von einer vielzahl von personen, etc. aber es gibt schon problematische tendenzen, das ist richtig!
@#4: apropos: “Die Grundversorgung ist das Netz”.
Ich habe das auch lange so gesehen (und mittelfristig wird es so kommen), man kann aber mit diesem Gedanken allein nicht die Notwendigkeit von “Grundversorgung” durch ö-r Anstalten und ggf Zeitungen bestreiten:
1. Das Internet ist zwar stark verbreitet, von der Nutzung her ist es aber für tagesaktuelles Geschehen immer noch weit hinter TV und Print, siehe
AWA 2011: Internet liegt mit 26% gleichauf mit Radio und weit abgeschlagen von TV (48%) (-> Folie “Die Bedeutung der verschiedenen Medien für die tagesaktuelle Information”, (http://www.awa-online.de/praesentationen/awa11_politik_maerkte.pdf ca. Ende des erstes Drittels des pdfs),
2. Begründung für die Existenz der ör-Medien war die Kraft der Bilder bei Massenmedien, diese Argument müsste beim Internet erst recht gelten, da hier noch Social-Media-Verstärker dazukommen
3. Die institutionelle Unabhängigkeit der ö-r Anstalten ist strukturell besser abgesichert als bei Privatanbietern (es sei denn, er ist eine Stiftung oder sonstwie verselbständigt, was man übrigens über die F.A.Z. wissen sollte.)
4. Über solche Fragen muss langfristig Sicherheit bestehen, das ist aber nicht der Fall.
@#11: ich bin mir noch nicht schlüssig, wie ich das bewerte. Tendenziell glaube ich ja, dass es weniger das Problem der Leser, als der Zeitungen ist, wenn sie sich aus der Netzdiskussion wieder zurückziehen. Die Öffentlichkeit strukturiert sich dann eben anders – und die Journalisten müssen trotzdem ins Netz zur Recherche. Sie werden dann die Scharniefunktionen weniger direkt, sondern indirekt bauen, was aber ihr Nachteil sein wird.
[…] Wie verhalten sich die Zeitungen in der digitalen Revolution, fragt Krystian Woznicki in einem lesenswerten Essay für die Berliner Gazette: “Auch die Zeitungen rufen immer wieder: Wir erfinden uns neu! Und im Kleingedruckten steht: Aber wollen wir das auch? Diese Frage stellen sie sich in erster Linie selbst. Denn sie hadern mit der digitalen Revolution – spätestens seitdem sie weniger Gewinn machen. Sie wollen ‘dagegen halten’ (Schirrmacher). Doch sie machen ihre eigene Identitätskrise nicht transparent.” […]
schöner Artikel, die Kritik am Entweder-Oder-Diskurs finde ich auch sehr wichtig.
Das Steinweg’sche “Wahrhaben von Allem” klingt gut. Wo schreibt er das?
@#22: Ich habe diese Aussage in einem Vortrag gehört, den Marcus Steinweg Sommer 2007 in dem Berliner Institut “Kunst Werke” gehalten hat – übrigens einer der besten Vorträge bzw. Vortragsperformances, die ich jemals erleben durfte.
Das Auffinden einer entsprechenden Quelle ist daher nicht einfach. Sicher ist, dass Steinweg diesen Begriff von Affirmation, wie so vieles in seinem Denken, im Zuge einer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kunst und Philosophie entwickelt hat.
Einer seiner jüngsten Vorträge mit dem Titel “Chaosbejahung” (August diesen Jahres gehalten) wurde mit ein paar Sätzen angekündigt, die weiterhelfen dürften in diesem Zusammenhang: “Affirmation ist nicht Gutheissung des Bestehenden, Affirmation meint Bejahung der Realität in ihrem Inkommensurabilitätswert, Öffnung auf die Welt in ihrer Komplexität. Deshalb gehört eine gewisse Widerständigkeit zu solcher Bejahung, Resistenz gegenüber einem Realitätsschema, das Inkommensurabilität/Komplexität exkludiert. Die Welt der etablierten Kommensurabilitäten verdankt ihre, deshalb scheinhafte, Konsistenz dieser Exklusion.”
In seinem Buch “Politik des Subjekts” (2009) lassen sich ebenfalls einige Zeilen zu diesem Begriff finden. Er spricht hier u.a. von “affirmativer Resistenz im Hier-und-Jetzt-Universum” (S.68). Sagt aber auch: “Bejahen heißt nicht gutheißen.” (S.86). Und noch aufschlussreicher:
“Nie geht es darum, für oder gegen etwas zu sein. Nie primär. [Sondern um][…] die Weigerung, [den] Realitätskontakt durch Wertungen zu neutralisieren. Es ist klar, dass diese Weigerung einen gewissen Mut verlangt. Denn es ist bequemer, seinen Wirklichkeitsbezug mittels moralischer Wertungen zu dämpfen, als sich auf der Höhe von Widersprüchen und Konflikten zu artikulieren, die sich ihrer überhasteten Neutralisierung sperren.” (S.87)