Open Source Software und Wikipedia, Crowdsourcing und Creative Commons – die Gemeingutökonomie des Internet hat viele Gesichter. Ihre Funktionslogik und Prinzipien werden selten tiefergehend untersucht. Dabei lautet die große Frage unserer Zeit: Lassen sich die sozialen Innovationen des Internet in die Welt der materiellen Produktion übersetzen? Yochai Benkler, Juraprofessor und Keynote-Speaker bei der UN|COMMONS-Konferenz, unternimmt eine Bestandsaufnahme. Ein Essay.
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Die zwei größten Herausforderungen des Kapitalismus im 21. Jahrhundert sind die Auswirkungen, die der weltweit vermehrte materielle Wohlstand einerseits auf die natürliche Umwelt, andererseits aber auch auf die soziale Umwelt hat. In den vergangenen vierzig Jahren hat es kontinuierlich große Bemühungen gegeben, die Gefahren, denen unsere natürliche Umwelt ausgesetzt ist, besser zu verstehen. Die Auswirkungen des Wohlstands auf unsere soziale Umwelt hat man dagegen immer weniger studiert.
Vor allem innerhalb der Industriestaaten gibt es eine zunehmende Ungleichheit. Dort hat sich um den Kerngedanken des Neoliberalismus herum eine ganze Reihe von Theorien gebildet, die sich zunächst in den USA und in Großbritannien etablierten und dann als neoliberale Bewegung auch den Rest Europas erfassten. Diese Bewegung gipfelte schließlich im Washington Consensus, der die grundlegende Entwicklung in diesem Bereich darstellt. Diese Ideen basierten im Wesentlichen auf dem Gedanken (heute als „Neoliberalismus“ bezeichnet), dass wegen der im Bereich der Wirtschaft vorherrschenden Unsicherheiten und Vielschichtigkeiten eine zentralistische Wirtschaftsplanung unmöglich ist.
Machtmissbrauch und menschliches Wohlergehen
Nach dieser Theorie sollten vielmehr mithilfe des Preises Entscheidungen an das am Markt teilnehmende Individuum delegiert werden, was dann letztlich zu einem besseren wirtschaftlichen Überblick führen sollte. Diese Theorie entwickelte aus dem Gedanken der universellen Vernunft heraus eine Theorie, dass Menschen sich vor allem eigennützig verhalten und vom größtmöglichen Nutzen für das jeweilige Individuum motiviert sind. Kollektives Verhalten, so glaubte diese Denkschule, verfehle immer sein Ziel und zöge stets unrechtmäßigen Machtmissbrauch nach sich. Mit der Begründung, man wolle das menschliche Wohlergehen verbessern und für mehr Freiheit sorgen, wurden deshalb auf der Basis dieser Theorie die Märkte dereguliert und von sozialen und gesetzlichen Kontrollen befreit.
In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hat sich im Gegensatz dazu eine Theorie von der Gemeingutökonomie herausgebildet, die uns immer mehr in die Lage versetzt, auf diese sehr zerstörerischen Ideen reagieren zu können. Mit dieser Theorie können wir Rahmenbedingungen schaffen, um zu lernen, wie wir das menschliche Wohlergehen und das menschliche Befinden insgesamt verbessern können, ohne dass wir dabei wie in den vergangenen vierzig Jahren die sozialen Beziehungen auf so zerstörerische Weise untergraben.
Es gibt in Bezug auf Gemeingüter grundsätzlich drei Denkschulen: Einmal die Schule, die sich auf das Werk von Elinor Ostrom beruft und sich davon inspirieren lässt. Zweitens gibt es eine weltweite Gemeingutschule, deren Theorie auf der Praxis der Umweltbewegung aufbaut. Für unser heutiges Treffen ist jedoch eine andere Denkschule am wichtigsten, nämlich die Theorie der Gemeingutökonomie im Internet. Als Ergebnis der Forschungen im Bereich der Internetgemeingüter ist klar geworden, dass Gemeingüter einen wesentlichen Anteil selbst an den am weitesten entwickelten Wirtschaften, den innovativsten Technologien, dem größten Wirtschaftswachstum und der größten wirtschaftlichen Innovation haben.
Wissensressource Wikipedia
Von der ursprünglichen Internet Engineering Task Force, die die grundlegenden Internetprotokolle entwarf, über das Internet selbst, die wesentliche Infrastruktur, beispielsweise die als Gemeingüter verwalteten Frequenzbänder, die drahtlose lokale Netzwerktechnologie (WLAN) und die Software bis hin zur großartigen Wissensressource Wikipedia haben wir gesehen, dass eine Gemeingutökonomie funktioniert. Wir haben auch gesehen, auf welche Weise eine Gemeingutökonomie funktioniert und welche Beschränkungen es in diesem Bereich gibt. Wir haben gelernt, wie man sie zum Funktionieren bringt, und wir lernen in diesem Bereich stetig Neues.
Grundsätzlich sind die Internetgemeingüter aber der praktische Beweis, dass es einen anderen Weg gibt, den wir beschreiten können. Das vergangene Vierteljahrhundert der Gemeingüter, sowohl der Gemeingüter im Internet als auch der Gemeingüter außerhalb des Internets, hat gezeigt, dass Menschen auf effektive Weise zusammenarbeiten können, um die eigene Nutzung von Ressourcen zu regeln. Die Gemeingutökonomie hat uns in allen Einzelheiten gezeigt, dass Menschen unterschiedliche Beweggründe für ihr Handeln haben und dass der wirtschaftliche Nutzen, den ein Mensch aus etwas ziehen kann, zwar von Bedeutung ist, aber dass er nur ein Aspekt der menschlichen Motivation ist, welche außerdem aus sozialen, emotionalen und rational-ethischen Beweggründen besteht.
Es gibt außerdem mehr als nur die zwei häufig genannten grundlegenden Systeme, mit denen eine wirtschaftliche Produktion organisiert werden kann, also die Wahl zwischen einem System, das auf Privateigentum und Märkten basiert, oder einem System, das auf staatlicher Planung und Volkseigentum aufbaut. Vor allem sind die Gemeingutökonomie und auf Freiwilligkeit basierendes Handeln in der Lage, Wachstum und Innovationen zu fördern und dabei gleichzeitig effizienter, nachhaltiger und sozial integrierender zu sein.
Zusammenarbeit zwischen Gleichrangigen
Von einem abstrakteren Blinkwinkel aus betrachtet verstehen wir nun, dass die Produktion von Waren und Dienstleistungen und die Verwaltung von Ressourcen sozial eingebettete Aktivitäten sind. Es gilt nicht, die Märkte von dieser sozialen Einbettung zu befreien, wir müssen sie überhaupt erst erreichen! Freiheit ist die Möglichkeit zu individueller und kollektiver Selbstbestimmung, nicht ausschließlich die freie Wahlmöglichkeit des Marktes. Und schließlich haben bestimmte Märkte, die auf dem Prinzip des Privateigentums basieren, wie beispielsweise der Markt des Urheberrechts und der Patente, gezeigt, dass durch eine solche Marktorganisation beide Freiheiten, die der Selbstbestimmung und der Wahlmöglichkeit, überhaupt infrage gestellt werden können.
Was ist also zu tun? Unsere Erfahrung mit der Gemeingutökonomie im Internet hat gezeigt, dass drei wesentliche Veränderungen stattfinden müssen, damit wir den Herausforderungen des Kapitalismus im 21. Jahrhundert auf sozial nachhaltige Weise begegnen können:
Wir müssen erstens intensiver das Prinzip der Zusammenarbeit zwischen Gleichrangigen (peer cooperativism) nutzen. Wir sollten die in den vergangenen fünfzehn Jahren gemachten Erfahrungen mit der auf dem Prinzip der Gemeingutökonomie basierenden kollegialen und hierarchiefreien Produktionsweise (commons-based peer production) nutzen und diese Produktionsweise auf immer größere Bereiche der Versorgung übertragen. Das Ziel sollte dabei sein, dass diese Produktionsweise zu einem praktischen und normativen Orientierungspunkt für die materielle Produktion des gesamten Marktes wird.
Der Erfolg der Genossenschaftsbewegung und der auf hierarchiefreier Kollegialität aufbauenden Bewegung ist in der materiellen Welt allerdings zugegebenermaßen durchwachsen.
Freie und quelloffene Software
Es gibt spektakuläre Erfolge, wie der Hersteller von Gore-Tex, das US-amerikanische Unternehmen W. L. Gore & Associates, welches nicht nur den Übergang zu einem Unternehmen geschafft hat, das sich im Besitz der Belegschaft befindet, sondern in einem von Wettbewerb geprägten Hochtechnologieumfeld auch weiterhin ein hierarchiefreies, netzartiges Modell der Unternehmensführung verfolgt. Viele ehrenamtlich tätige Entwickler aus dem Bereich Freie und quelloffene Software (FOSS) haben mittlerweile Bestandteile des FOSS-Entwicklungsmodells in ihre normale berufliche Tätigkeit übernommen. Es gab jedoch auch viele Fehlschläge, die nicht funktioniert haben. Wir befinden uns bei der Übertragung von Technologien und Erfahrungen aus dem Bereich der auf der Gemeingutökonomie basierenden kollegialen und hierarchiefreien Produktion auf eine breitere Palette von Dienstleistungen in einem frühen Stadium.
Wie bei jeder Innovationswelle wird es dabei viele Fehlschläge geben. Die Frage ist aber nicht, ob einige dieser Versuche in der Praxis funktionieren werden, sondern ob eine genügend große Anzahl solcher Versuche so erfolgreich sein wird, dass dort ein genügend großer Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung beschäftigt sein wird. Wenn der Anteil der beschäftigten erwerbstätigen Bevölkerung in dem Bereich so hoch ist, dass er die allgemeinen Standards für die Entlohnung und für die Mitbestimmung der Beschäftigten maßgeblich beeinflusst, dann wird das auch Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft haben.
Zweitens können wir nicht auf eine soziale Einbettung der marktorientierten Produktion verzichten. Es gibt nicht nur einen einzigen Weg, wie man die marktorientierte Produktion organisieren kann. Es gibt genügend Raum für ethisch vertretbare Wahlmöglichkeiten. Das betrifft nicht nur Fragen der Umwelt oder der Menschenrechte, sondern auch Fragen der wirtschaftlichen Gleichheit und der sozialen Nachhaltigkeit.
Ethisches Engagement und Leistungsdenken
Eine Flut betriebswirtschaftlicher Literatur hat gezeigt, dass gerade solche Unternehmen erfolgreich sind, die sich organisatorisch an sozialer Gerechtigkeit orientieren und ein ethisch vertretbares Arbeitsumfeld bieten, das hohe Arbeitsplatzsicherheit und weitgehende Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten bietet. Es ist bereits umfangreich dokumentiert worden, dass Organisationen, die eine Mischung aus „starkem ethischem Engagement“ und „starkem Leistungsdenken“ verfolgen, in verschiedenen Wirtschaftszweigen nachhaltig und erfolgreich arbeiten. Als Beispiele dafür werden meistens die beiden Gegensatzpaare „Costco versus Walmart“ und „Southwest Airlines versus die meisten seiner Wettbewerber“ angeführt.
Die Dominanz derjenigen Ideologie, die den Nutzen der Aktionäre an erste Stelle stellt (shareholder value) und kurzfristige Gewinne für Aktionäre fordert – vor allem für mit Aktienoptionen entlohnte Führungskräfte–, übertönt jedoch jede Diskussion über den Sinn sozial eingebetteter Strategien. Wir brauchen kulturelle und juristische Reformen, die es Unternehmen ermöglichen, als sozial eingebettete Organisationen geführt zu werden. Eine solche Veränderung wird mit Sicherheit nicht zu weniger, sondern zu mehr Produktivität führen, zumindest wenn man dieses Thema langfristig betrachtet.
Und schließlich müssen wir unsere politischen Vorstellungen so anpassen, das auch die Idee eines kollegialen Pragmatismus (peer pragmatism) darin Platz findet. Damit ist eine politische Haltung gemeint, die sich sowohl der Beschränkungen des traditionellen Staates als auch der Beschränkungen des Marktes bewusst ist. Diese Haltung baut auf unseren Erfahrungen mit selbstverwalteten Gemeinschaften wie Wikipedia auf. Solche Gemeinschaften sind geprägt von sich überlappenden und verschachtelten Beziehungen, von der ausgeprägten und kontinuierlichen Praxis eines ethischen Bürgerengagements, von kontinuierlichen Herausforderungen und von der Umverteilung von Macht an viel stärker lokal arbeitende Organisationen. Das Ergebnis dieser Bemühungen sollte eine neue politische Theorie sein, die auf unseren Praktiken aus dem Bereich der Gemeingutökonomie, auf unseren Beziehungen als Bürger untereinander und auf dem Staat aufbaut.
Mutualismus und hierarchiefreie Produktion
Die erste Generation des als politische Theorie begriffenen Pragmatismus stützte sich auf eine zu optimistische Annahme dessen, was mit Fachwissen in einem gut verwalteten Staat erreicht werden kann. Die zweite Generation war zu sehr in ihrer postmodernen Verweigerungshaltung gefangen, als dass sie die Möglichkeiten einer kohärenten programmatischen Reaktion hätte begreifen können.
Die dritte Generation des Pragmatismus kann sich nun von der Praxis des Internets inspirieren lassen, das heißt: schnelles Experimentieren und Ausprobieren; eine separate Diagnose, welche Systeme unter welchen Umständen funktionieren; Nutzung des Prinzips des „groben Konsenses, mit dem Ziel auf schnelle Weise funktionierende Systeme zu schaffen“ („rough consensus and running code“), um die Lähmung des postmodernen Momentes zu überwinden; außerdem ein architektonisches Bekenntnis zu offenen Systemen und redundanten Handlungsoptionen.
Diese Generation stützt sich nicht vollständig auf den Staat, ignoriert aber auch nicht die Akteure aus den verschiedenen Ebenen von Staat und Regierung, die in einem bestimmten Kontext durchaus Gutes bewirken können. Sie stützt sich nicht vollständig auf den Markt, aber sie nutzt marktorientiertes Handeln, wo es sich als nützlich erweist und solange diese Generation noch nicht genügend Macht gewonnen hat, um die von ihr favorisierte Praxis alleine umzusetzen. Sie stützt sich nicht vollständig auf den Mutualismus, also auf die gegenseitige ökonomische Unterstützung, sie versucht jedoch immer die Möglichkeiten einer auf Gemeingütern basierenden kollegialen und hierarchiefreien Produktion zu nutzen, um die wichtigsten Ressourcen bereitzustellen, damit so unter anderem Machtkonzentrationen verhindert oder destabilisiert werden können.
Sämtliche Teile der Gemeingutökonomie im Internet haben in praktischer Hinsicht sicherlich eine große Bedeutung. In theoretischer Hinsicht fangen jedoch unsere mit der Internet-Gemeingutökonomie im letzten Vierteljahrhundert gemachten Erfahrungen an, uns zu lehren, wie der Kapitalismus im 21. Jahrhundert aussehen sollte, ein Kapitalismus der nicht nur für die natürliche Umwelt nachhaltig ist, sondern auch gesellschaftlich eingebettet ist und seine soziale Umwelt fördert.
Anm.d.Red.: Der Text basiert maßgeblich auf einer Video-Botschaft, die Yochai Benkler für eine Konferenz in Brüssel erstellt hat und dann für die Berliner Gazette ausgebaut hat. Das Foto stammt von Mario Sixtus (cc by 2.0).
Ein Kommentar zu “Können wir die Prinzipien der digitalen Commons in die Welt der materiellen Produktion übersetzen?”