Differenz in der Leistungsgesellschaft: Warum “wir” Kleinwüchsigkeit nicht länger tabuisieren sollten

„Ich will gerade einfach nur sterben,“ sagt Quaden Bayles, der in der Schule wegen seiner Kleinwüchsigkeit gemobbt wird. Die Mutter des Neunjährigen hat seinen Todeswunsch auf Video aufgenommen, um ihrer Hilf- und Ratlosigkeit Ausdruck zu verleihen. Es ging viral. Darauf folgten Zuspruch, aber auch Hass, Häme und Gerüchte. Eine Zäsur? Wohl kaum. Kleinwüchsigkeit ist in einer Gesellschaft, die auf Ableismus gebaut ist, noch immer ein Tabu. Zeit, darüber einen offenen Dialog zu führen. Der Künstler und Wissenschaftler Tomislav Medak unternimmt eine persönliche Bestandsaufnahme.

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Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals in der Schule wegen meiner Kleinwüchsigkeit (oder aus einem anderen Grund) gemobbt wurde. Ich hatte immer einen oder mehrere gleichgesinnte Klassenkameraden, die mir halfen, der Unterricht wurde in barrierefreien Klassenzimmern abgehalten, und die Schulen taten ihr Bestes, um meinen Beeinträchtigungen auf vielfältige Weise Rechnung zu tragen. Jugoslawien in den 1980ern! Das geschah auf eine Weise, die heute in mancher Hinsicht undenkbar erscheint – am radikalsten war das sozialistische Sozial- und Invaliditätsversicherungssystem, das mir einen speziellen privaten Transport zur Verfügung stellte, um mich zur Schule und zurück zu bringen (Luxuskommunismus, was?). Es wurde viel getan, um meinen Zustand sowohl institutionell als auch unter Gleichaltrigen “aufzufangen”.

Doch trotz all der außergewöhnlichen Unterstützung und Vorkehrungen konnte ich nicht vermeiden, mich anders zu fühlen. Bei vielen Aktivitäten wurde von Kindern erwartet, dass sie beweglich sind, um diese oder jene Erwartung zu erfüllen, dies und jenes zu erreichen, sich an dieses oder jenes heranzuwagen, dieses oder jenes zu entdecken. Die Kinder bemerkten den Unterschied und fragten ihre Eltern, denen es zu peinlich war, das zu erklären. Allgemeiner ausgedrückt: Lehrer*innen und Eltern haben die Unterschiede in der ganzen Bandbreite der (Un-)Fähigkeiten, Besonderheiten und Hintergründe, die Kinder mitbringen, nicht angesprochen und bekräftigt – und zwar in einer Weise, die den Kindern erklärt, dass wir alle auf mehr als nur eine Art und Weise unterschiedlich sind und dass Unterschiede uns zu einzigartigen Wesen machen, die wir sind.

Wer ist anders und wer nicht?

All diese Faktoren führen zu der Annahme, dass nur einige Kinder anders sind. Als Kind – und man ist vielleicht nicht wirklich beeinträchtigt, sondern nur nicht “fähig” genug – lernt man sehr schnell, diese Suggestion zu verinnerlichen, und zwar so sehr, dass man sich über seine eigene Andersartigkeit ärgert, sich selbst bemitleidet, sich wünscht, nicht das zu sein, was man ist, und sich sogar wünscht, überhaupt nicht zu exisitieren, und sich, wie im Fall von Quaden Bayles, umbringen möchte.

Paradoxerweise lernt man, genau diesen Mechanismus zu reproduzieren, durch das Othering von wiederum anderen. Als Kind mit körperlichen Beeinträchtigungen fängt man nicht nur an, sich über den eigenen Zustand zu ärgern, sondern sieht die Unterschiede zu anderen Kinder als etwas an, das es wert ist, zu othern oder vermieden zu werden. Doch: Nur weil ich diskriminiert werde, bin ich nicht unbedingt ein Verbündeter eines anderen diskriminierten Menschen. Das Versäumnis, sich mit Unterschieden auseinanderzusetzen, kann sich auf folgenschwere Weise auswirken.

Mir wurde zum Beispiel immer gesagt, dass es auf den Verstand und nicht auf die Beine ankommt, ein kompensatorisches Argument, das nicht nur die körperlichen Aspekte der Existenz negiert, sondern auch die Voreingenommenheit der Schule gegenüber Lernschwachen legitimiert. In meiner Schule betraf dies in den meisten Fällen Roma-Kinder. Eine Kette des Schweigens reproduziert somit Ausgrenzungen, die das Leben der Kinder in Zukunft bestimmen.

Die Welt der anderen wird größer

Das verinnerlichte Gefühl der Unzulänglichkeit wurde nur noch stärker, als ich aus der UdSSR zurückkehrte und infolge einer Reihe von Operationen weniger mobil war und die Adoleszenz mit ihren unterschiedlichen Sozialisationsmustern einsetzte. Diese Muster waren weder zu Hause noch in der Schule verortet, weder beim Spielen noch beim Lernen zu finden, und so konnte ich meine soziale Welt nur als zunehmend begrenzt betrachten, je mehr sich die Register der sozialen Erfahrungen meiner Altersgenossen erweiterten.

Ich verwandelte diese Unfähigkeit, Zugang zu einem großen Teil der sozialen Welt meiner Gleichaltrigen zu haben, einschließlich romantischer Beziehungen und Sexualität, in ein Gefühl der eigenen Minderwertigkeit. Rückblickend ist fast das gesamte Jahrzehnt von meinem 11. bis zum 20. Lebensjahr ein Jahrzehnt, in das ich lieber nicht zurückkehren möchte. Natürlich haben viele Heranwachsende Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden, aber eine körperliche Beeinträchtigung kann leicht zu einem Gefühl der unausweichlichen Stigmatisierung führen.

Ich habe diese schwierige Zeit erst hinter mir gelassen, als ich an der Universität begann, mehr Kontakte zu knüpfen. Jetzt, wo ich in mein mittleres Alter gekommen bin, fühle ich mich nicht mehr unzulänglich oder minderwertig, sondern einfach nur anders. Die eingeschränkte Mobilität und die bauliche Umgebung erinnern mich immer daran. Mein eigenes Selbst ist jedoch größtenteils eine Auswirkung meiner Handlungen und der Welt der Interdependenzen, die ich durch meine Handlungen gestalte. Ich fühle mich unterstützt, so wie ich versuche, anderen Menschen das Gefühl zu geben, unterstützt zu werden. Mir gehören die guten und die schlechten Aspekte meines Lebens. Das hat weitere rund 20 Jahre gedauert.

Der Arbeitsmarkt macht das Leben erbärmlich

Doch in diesem Leben, das sich nicht so sehr vom Leben meiner nicht beeinträchtigten Altersgenossen unterscheidet, hatte ich das große Glück, eine Behinderung durch den Arbeitsmarkt zu vermeiden. Die Tatsache, dass die Lohnarbeit für die Sicherung des Lebensunterhalts und des Wohlstands in unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist und dass Ability eine zentrale Rolle bei der Regulierung des allgemeinen Wettbewerbssystems auf dem Arbeitsmarkt spielt, macht das Leben beeinträchtigter Menschen wirklich erbärmlich.

In der gesamten EU ist nur etwa die Hälfte der beeinträchtigenMenschen im erwerbsfähigen Alter auf dem Arbeitsmarkt aktiv, und nur die Hälfte derjenigen, die eine Beschäftigung suchen, findet einen Arbeitsplatz. In halbperipheren Volkswirtschaften wie Kroatien suchen noch viel weniger Menschen eine Beschäftigung, und nur ein Fünftel von ihnen findet einen Job.

Die Arbeitgeber*innen zahlen häufig lieber eine Geldstrafe als einen Zuschuss, um eine beeinträchtigte Arbeitnehmerin einzustellen. Als beeinträchtigter Arbeitnehmer ist man im Durchschnitt dazu verurteilt, in Hilfsjobs, in der Schattenwirtschaft oder unter höchst ausbeuterischen Bedingungen zu arbeiten, wobei man sich dem Missbrauch aussetzt, da die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt extrem eingeschränkt ist.

Andernfalls wird man abhängig, vorausgesetzt, man hat Betreuer oder Institutionen, auf die man sich verlassen kann. Was Othering und Mobbing in der frühen Entwicklung bewirken, machen die Einschränkungen, denen man im Erwachsenenalter durch den Arbeitsmarkt und ein unzureichendes Betreuungssystem ausgesetzt ist, zum Dauerzustand. Das Mitgefühl, das einem Kind entgegengebracht wird, ist nicht mehr vorhanden, wenn man erwachsen und alt wird.

Um es kurz zu machen: Es gibt zwei Dinge, die helfen würden, das Leben beeinträchtigter Menschen *sozial* würdevoller zu gestalten. Erstens: Institutionen müssen die Art und Weise ändern, wie die Menschen, von denen sie erschaffen werden, Unterschiede von klein auf vermitteln. Zweitens: Gesellschaften müssen den Arbeitsmarkt als primäre Form der sozialen Integration ganz abschaffen.

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