Die Verhältnisse umkehren: Warum wir freie Flusszonen und Winterschlaf in den Städten des Globalen Nordens brauchen

Artwork: Colnate Group, 2024 (cc by nc)
Artwork: Colnate Group, 2024 (cc by nc)

Gerade in der Stadt, in der alles automatisierten und damit unhinterfragbar erscheinenden Routinen unterworfen ist, fällt es schwer, sich kritisch mit unserer schwierigen Lage auseinanderzusetzen und die Ursachen der globalen ökonomisch-ökologischen Polykrise als solche zu erkennen und zu bekämpfen. Die künstlerischen Projekte, die Anna-Lena Wenzel für die „Kin City“-Serie untersucht hat, bieten Möglichkeiten, das kapitalistisch-koloniale Kontinuum zu unterbrechen und eröffnen emanzipatorische Handlungsräume.

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Wie lässt sich das Verhältnis Mensch-Natur gleichberechtigter Denken? Wie können wir aus dem Ausbeutungs-Kreislauf aussteigen und was für Wege führen aus der Wachstumslogik heraus ohne die Probleme in die städtische Peripherie, auf das Land oder ins Ausland zu verlagern? Mit Till Krause und Jelka Plate möchte ich zwei künstlerische Positionen vorstellen, die für mich in ihrer Konsequenz wegweisend sind. Das liegt erstens daran, dass ihre künstlerische Praxis eng mit ihrem Alltag verknüpft ist, wodurch ihre Anliegen nicht im Ausstellungsraum verbleiben, sondern gelebt werden. Zweitens eröffnen sie radikale Denkräume und diese braucht es, um aus den vertrauten Handlungsmustern herauszutreten, denn wer kennt es nicht: Huch, jetzt habe ich schon wieder meinen Re-Cup-Becher vergessen! Ups, ich fliege nur noch dieses eine Mal zur Biennale! Sorry, aber die Lebensmittel aus der food-coop kann ich mir wirklich nicht leisten!

Freie Flusszone Süderelbe

Was würde es bedeuten, den Hamburger Elbe-Seitenarm für die Binnenschifffahrt zu schließen? „Freie Flusszone Süderelbe“ heißt das Projekt, das darüber spekuliert, was passieren würde, wenn ein Stück domestizierter und nutzbar gemachter Natur aus dem Wirtschaftskreislauf herausgenommen würde. Der Künstler Till Krause hat es im Jahr 2011 maßgeblich mitinitiiert und sowohl Künstler*innen als auch Naturwissenschaftler*innen zusammengebracht, um diese Idee anhand eines konkreten Gebietes durchzuspielen. Die Basis stellen Bestandsaufnahmen und Kartierungen dar, die in Form von Plakat-Aktionen, Ausstellungen und Publikationen öffentlich gemacht werden.

Eine von ihnen ist das schmale Bändchen „Verschollene Pflanzen“, das Till Krause zusammen mit der Botanikerin Wanda Thormählen herausgegeben hat. Es enthält Steckbriefe von 21 Stromtalpflanzen, die früher die Niederung der Elbe besiedelten, aber heute verschollen sind. Dieses eindrückliche Beispiel für die Folgen der menschlichen Einflüsse und wirtschaftlichen Nutzung des Elbstromtals wird durch einen Text von Till Krause ergänzt. Darin überträgt er den Gedanken einer Kolonialisierung auf das menschliche Gebaren gegenüber der Natur. „Nachdem nahezu die gesamte Erdoberfläche den Zwecken der Menschen zugänglich gemacht ist, ebenso die Lufträume und Teile der Tiefe der Erde und der Meere, und man auf die ökonomische Nutzbarmachung von Mond und All hinarbeitet – nachdem also die Totalherrschaft der Menschen zu einem neuen Höhepunkt gekommen ist und man das Ganze Anthropozän getauft hat –, genau jetzt bietet es sich an, all den anderen Wesen, die auch noch da sind (zumindest denjenigen, die nicht Plagen und Pandemien verursachen), eine Stimme zuzusprechen …“

Doch das daraus folgende „Reden vom Zusammenleben menschlicher und nicht-menschlicher Lebewesen“ ist etwas, was Krause mit Skepsis betrachtet. Denn wenn man von einer Ko-Existenz spricht, ist das Verhältnis noch lange nicht umgekehrt. Es geht immer noch darum, an der Weltordnung festzuhalten – nur dass man jetzt auf Augenhöhe zusammen lebt! Krause geht das nicht weit genug. Seiner Meinung nach haben wir „in den Sphären anderer […] nichts zu suchen. Würden wir sie in ihrer jeweiligen Existenz als unantastbar respektieren, dann würden wir versuchen, sie nicht zu belästigen, nicht zu verletzten, uns fern von ihnen zu halten, oder uns, wo nicht anders möglich, mit Zartheit zwischen ihnen bewegen.“

Was mit Zartheit gemeint sein könnte, erfahre ich bei einem Besuch bei Till Krause in seinem Haus in Hamburg-Altona, als er mich durch seinen Hinterhofgarten führt. „Wir haben keinen Hahn wegen der Nachbarschaft“, sagt der Künstler, „das wäre zu laut“. Dafür gibt es bestimmt ein Dutzend Hühner mit glänzendem Gefieder, die sich hier frei bewegen können. Eines kommt neugierig zu Krause und pickt ihm zur Begrüßung am Fuß, andere sitzen auf Stangen im Schatten, ein weiteres ist in einem Nest in einer Holzbox damit beschäftigt, mehrere Küken um sich zu scharen. „Das ist ein Zwerghühnchen, aber die Küken sind von einem anderen Huhn, weswegen sie bald größer sein werden, als die ‚Mutter‘“, erläutert Krause. Er zeigt mir den Futtertrog, der gut gefüllt ist mit Salat und Melonen – Resten, die er von einem Gemüsehändler in der Umgebung bekommt – und sprechen über Habichtsangriffe, Hybrid-Hühner und den früh beginnenden Tagesablauf, den das Hühnerhalten mit sich bringt.

Aus seinem Bericht spricht sowohl das enorme Wissen, dass er und seine Partnerin Ute Schmiedel sich angeeignet haben, als auch ein großer Respekt für die Hühner, die hier nicht wie Nutz-, sondern wie Haustiere behandelt werden. Gleichwohl wird das Zusammenleben nicht romantisiert. Krause und Schmiedel verspeisen und verschenken die gelegten Eier – und schlachten die Hühner, wenn sie zu alt (und krank) werden. Eine Beschreibung dieses Schlachtvorgangs (der ihn jedes Mal Überwindung kostet, wie er bemerkt, als wir am Küchentisch sitzen) befindet sich im Buch „On Slaughter“ von Klara Hobza, das mir Krause zum Abschied mitgibt. Sein darin enthaltener Beitrag heißt „Friendship and Cannibalism“. Allein dieser Titel ist irritierend, denn er legt nahe, dass die Hühner für ihn zu Freunden geworden sind und ein Verspeisen dieser mit Kannibalismus vergleichbar ist. Der Text besticht durch die behutsame wie wertschätzende Beschreibung des Vorgehens: „I place my friend’s rump together with her wings and legs in a closed, cast-iron saucepan on a rack over her own fat and steam her, possibly adding a little water. The older my friend, the slower and longer this process will be. It softens her meat, but she will retain her well-defined structure, given that she has spent many years growing, exercising plentifully, and benefitting from a varied diet. The heat can be turned up high at the end to crispen the skin.”

Paradoxerweise führt die detailgenaue Beschreibung jedes einzelnen Schrittes dazu, dass diese ihren „brutalen“ Charakter verlieren. Zudem wird eine andere Zeitlichkeit propagiert, wenn jedes Einzelteil des Huhns verwertet und über mehrere Tage lang verspeist wird. Hier wird das Gegenteil eines Fast-Food-mäßigen Verspeisens industriell hergestellter Burger zelebriert und eine Beziehung zum Tier geschildert, die heute wohl den meisten Menschen abhandengekommen ist. Krause kehrt damit den funktionalen Umgang mit den sogenannten Nutztieren um und macht daraus eine Freundschaft – und das mitten in der Großstadt! Damit wird das Machtgefälle zwischen Mensch und Tier nicht ausgelöscht, aber indem es als gegenseitige Abhängigkeit gedacht wird, wird es wesentlich gleichberechtigter – und ist von Respekt getragen.

Aber verfahren wir nicht mit allen unseren Haustieren so? Begegnen unseren Hunden mit Respekt, wenn wir sie mit Deluxe Hundefutter versorgen und sie hegen und pflegen? Meiner Meinung geht es hier vor allem um das Verhältnis zu Nutztieren, das heutzutage – und das schließt Bio-Landwirtschaft mit ein – ein industrielles, auf Gewinnmaximierung ausgelegtes ist. Wenn wir mit Tieren zusammenleben, von denen wir profitieren, sensibilisiert uns das für deren Bedürfnisse und hinterfragt unsere selbstverständlich gewordene Konsumhaltung. Dabei ist klar, dass nicht jede*r über den Raum dazu verfügt, doch es geht hier eher um das Gedankenexperiment und ich glaube daran, dass sich daraus ein anderes Verhältnis zu unserer Umwelt ergibt, das einerseits durch ein Weniger (des Konsums) und gleichzeitig durch an Mehr (an Miteinander) geprägt ist.

Winterschlaf

Auf einem Sofa liegt ein Fellwesen und fasst sich mit seinen Klauen an den Kopf. Im Fell steckt ein Mensch – die Künstlerin Jelka Plate – und hält Winterschlaf oder versucht es zumindest. Sie hat dies an verschiedenen Orten bzw. Habitaten probiert: in ihrer Wohnung in Berlin Neukölln und während der Residency „Oesterfeld 04“ in Dithmarschen. In einem Tagebuch, veröffentlicht auf ihrer Website, berichtet sie von ihren Eindrücken und gibt einen Einblick in ihre Gedanken: „28.12. Langsam wird mir klar, in was für ein krasses Paradox ich mich mit dieser Winterschlafidee begebe. Ich kann natürlich gar nicht so viel schlafen, wie ich müsste, um von Winterschlaf sprechen zu können. Aber ich behaupte ja nicht ‚Ich bin Igel‘ oder ‚Ich bin Siebenschläfer‘. Ich nehme mir die beiden zum Vorbild, um zu sehen, wer ich darin werden kann, welche Möglichkeiten mir ein dickes Fell bietet.“

Mit ihrem Rechercheprojekt „Dickes Fell & faule Haut“ setzt Jelka Plate ihre Auseinandersetzung mit Mensch-Tier-Natur-Verhältnissen fort, die sie mit dem Projekt „DisAppearances“ begonnen hat. Es geht ihr um eine dringend notwendige positive Erzählung der Zurücknahme und Einbettung menschlichen Tuns angesichts des menschengemachten Klimawandels. Leitend sind folgende Fragen: Wie können wir die Verhältnisse umkehren und uns zum Verschwinden bringen? Was können wir von den Tieren lernen in Anbetracht der Klimaerwärmung?

Während sie bei „DisAppearances“ Tarnkostüme verwendet, um sich der Natur anzupassen und darin zu verschwinden, hat sie sich in ihrem neuesten Projekt ein dickes Fell übergezogen und auf die faule Haut gelegt, um einen Winterschlaf zu simulieren. Die Idee dahinter ist, sich an den Tieren und ihrem gedrosselten Energiehaushalt im Winterschlaf zu orientieren. Plate sieht dieses Projekt „als einen Vorschlag, wie sich Gesellschaft zukünftig zu organisieren hätte, um lebensfähig zu bleiben. Es ist ein Rückzug aus einer bestimmten Struktur“, erklärt sie im Gespräch mit Christoph Behnke und Dorothea Reinicke. Und fährt fort: „Ich verschwinde als das, was es heißt Mensch zu sein. Das wollte ich ja in beiden Performances sehen: wer kann ich sein durch dieses oder jenes Kostüm, dadurch, dass ich in eine andere Haut schlüpfe. Also Verschwinden, um eine andere Existenzweise zu erproben.“

Das Schlüpfen in eine andere Existenzweise als Strategie einer De-Hierarchisierung des anthropozentrischen Seins ist eine Übung in Selbstzurücknahme und das Einlassen auf eine andere Zeitlichkeit. Sie fragt: „Was wäre das für eine Existenz, wenn man sich da anders einordnet? Eben nicht mehr als Krone der Schöpfung, sondern im Hinblick auf eine Schöpfung ohne Krone [wie von Eileen Crist vorgeschlagen]. Ist das überhaupt ein Verlust, wenn wir davon runtergehen? Ich glaube eben nicht. Ich glaube, dass es eher eine Entlastung und noch dazu ein Geschenk ist.“ Was als Performance angelegt ist, die per Foto und Video dokumentiert ist, eröffnet eine Reihe von drängenden Fragestellungen, die das gesellschaftliche Zusammenleben als Ganzes betreffen: Ist Schlaf schon eine subversive Geste? Was würde es bedeuten, wenn die ganze Gesellschaft Winterschlaf halten würde, also mit den Energien haushalten würde, statt weiterhin (endliche) Ressourcen aufzubrauchen und damit die Umwelt auszubeuten? Was würde passieren, wenn mehr Menschen aus dem Produktionskreislauf aussteigen und sich eine Pause gönnen würden? Wenn also das Prinzip der Suffizienz, das von 99% der Lebewesen und indigenen Menschen vorgelebt wird, zur menschlichen Seinsweise erklärt werden würde. Würde tatsächlich alles zusammenbrechen oder im Gegenteil zur Ruhe kommen? Aber können sich das tatsächlich alle leisten?

Radikale Umkehrungen

Till Krause und Jelka Plate zeigen mit ihren künstlerischen Projekten Handlungsmöglichkeiten in einer Zeit gefühlter Ohnmacht angesichts multipler Krisen auf. Das macht sie so wertvoll. Es sind Übungen für notwendige Transformationen. Wenn wir vorankommen wollen, müssen wir uns im Globalen Norden von einem konsumorientierten und ressourcenvernichtenden Lebensstil verabschieden. Weniger ist mehr, lautet ihre Botschaft. Sie zeigen, dass man dafür nicht aufs Land ziehen muss, sondern dass es auch im verdichteten urbanen Raum Möglichkeiten gibt, einen anderen Umgang mit Ressourcen und unserer Umwelt zu pflegen. Es ist eine Politik der kleinen Schritte, die ihre Kraft vor allem aus der Radikalität des Umdenkens bezieht. Was wäre wenn?

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