Ich wohne in einer Vorstadt von Melbourne, etwa 15 km von der Stadtmitte entfernt in einem einstoeckigen Einfamilienhaus mit meiner Frau Irene. Unsere 25-jaehrige Tochter Joanna wohnt seit Beginn des Jahres nicht mehr zu Hause, verbringt aber noch viel Zeit bei uns. Wir haben sie zweisprachig erzogen. Ich spreche seit ihrer Geburt immer auf Deutsch mit ihr, meine Frau, die kein Deutsch spricht, aber durch die Immersionserfahrung zu Hause vieles verstehen kann, dagegen immer auf Englisch.
Ich selbst bin ebenfalls zweisprachig aufgewachsen. Mein Vater ist 1895 in Wien, meine Mutter 1908 in Budapest geboren. 1938 sind sie nach Australien emigriert. Zu Hause haben wir Deutsch, ausserhalb des Hauses Englisch gesprochen. Wir hatten englischsprachige und deutschsprachige Freunde. Beide Sprachen waren fuer mich selbstverstaendlich; nur musste ich beachten, dass Deutsch zur Privatsphaere gehoerte. Die Zweisprachigkeit hat nicht zuletzt mein Interesse an Sprachen im Allgemeinen ausgeloest. Englisch, Deutsch und Franzoesisch waren in der Schule unter meinen Lieblingsfaechern und ich habe auch an der Universitaet germanische und romanische Sprachen studiert. Englisch ist trotz allem jene Sprache geblieben, die in meinem Leben am dominantesten ist.
Von 1838 an hat es in Australien mehrere Wellen deutschsprachiger Einwanderer gegeben. Die ersten haben geschlossene laendliche Sprachinseln gebildet, wie etwa in Gegenden wie dem suedaustralischen Barossatal, die zum Touristengebiet geworden ist. Die Einwanderungswellen des 20. Jahrhunderts – vor allem Emigranten aus der Nazizeit und Nachkriegseinwanderer aus allen deutschsprachigen Gebieten – sind in die Bezirke der Grossstaedte eingegangen. Meine Eltern haben sich zum Beispiel gleich in Melbourne angesiedelt. Dennoch sinddeutschsprachige Einwanderer haeufiger als fast alle anderen Emigranten auf das Land gezogen.
Heute gehoeren die Deutschsprachigen zu den unsichtbarsten Gruppen im multikulturellen Australien. Sie sind die zerstreuteste aller Einwanderergruppen. Nach Niederlaendisch ist Deutsch die Sprache, die am wenigsten erhalten wird. Mehr als jeder zweite gebuertige Deutsche oder OEsterreicher spricht auch zu Hause nur Englisch. Ganz besonders gilt das fuer die Altersgruppe der 50- bis 59-jaehrigen, fuer diejenigen also, die in den 1950er Jahren als Kind zu einer Zeit nach Australien kamen, in der die dominanten Gruppen anderen Sprachen, und besonders dem Deutschen gegenueber nicht sehr freundlich gesinnt waren.
In der zweiten Generation spricht nur jeder zehnte Deutsch. Zwischen 1991 und 2001 hat das Deutsche in Australien ein Drittel seiner Sprecher verloren. 2001 gab es laut Volkszaehlung nur mehr 76.400. Es gibt deutsche, oesterreichische und schweizerische Klubs; die meisten klagen ueber mangelnden Nachwuchs. Alljaehrlich veranstalten sie ein Oktoberfest in Melbourne, das bei Australiern ungeachtet ihrer Herkunft sehr populaer ist. Es bestehen auch ein deutschsprachiger Hilfsverein und einige deutschsprachige Kirchen. Sonst gibt es eigentlich keine >deutsche Praesenz<. Von den zehn Samstagsschulen fuer den Sprachunterricht von Kindern aus eingewanderten Familien bestehen nur noch zwei. Erstens, weil wenig Kinder in schulpflichtigem Alter zu Hause Deutsch sprechen und zweitens, weil Deutsch jetzt in ziemlich vielen Grundschulen gelehrt wird. Deutschsprachige Filme werden beim staatlichen multikulturellen Fernsehkanal ausgestrahlt; ebenso wie die taeglichen Nachrichten aus Berlin. Deutsche Sendungen hoert man auch bei den multilingualen Radiosendern. Viele Australier, die aus einer deutschsprachigen Familie stammen, haben eine angesehene Position in der Gesellschaft erreicht, ob in der Wissenschaft, im Kulturleben, im Sport oder im Geschaeftsleben. Heutzutage habe ich nicht mehr viel Kontakt zu deutschsprachigen Organisationen. 1974, als verschiedene ethnische Gemeinschaften Dachverbaende gruendeten, um sich koordiniert an den Entwicklungen zum Multikulturalismus zu beteiligen, war ich Mitbegruender der >Association of German speaking communities of Victoria<. In meiner Funktion als Vizepraesident dieses Dachverbandes arbeitete ich mit an der Foerderung der Interessen der deutschen Sprache, vor allem in Sachfragen der Schule und den Medien. Es war nicht immer leicht, Menschen, die Tanz-, Skat- und Jodelenthusiasten waren, fuer solche Sachen zu gewinnen. Zu dieser Zeit entstanden der Grundschulsprachunterricht und in beschraenktem Masse bilinguale Schulprogramme. Hier hatten deutschsprachige Initiativen vorbildlichen Charakter. Aber viele Vereinsleute aus dieser Zeit sind jetzt schon vielfach verstorben oder sehr alt. Andere treffe ich noch bei Empfaengen. Ich muss allerdings betonen, dass die grosse Mehrheit der Australier deutscher oder oesterreichischer Herkunft keinen ethnischen Organisationen angehoeren. Die Deutschsprachigen in Australien leben in einem Land, in der Englisch die Sprache der Behoerde, der Schule, der Massenmedien und fast immer des Berufs gewesen ist. Wer sich zu Hause auf den australischen Kontext bezieht, kommt um englische Woerter nicht herum: >gumtree< fuer Eukalyptusbaum, >television watchen< fuer fernsehen, >periods< fuer Schulstunden, >newsagent< fuer Zeitungsgeschaeft, >creek< fuer kleiner Wasserlauf, >adjusten< fuer anpassen. Jede Person und jedes Netzwerk hat seine eigenen Entlehnungen. Manchmal wird die Bedeutung eines englischen Wortes auf ein deutsches uebertragen. Zum Beispiel: >Ich gehe ihn morgen sehen< fuer >besuchen gehen<. Oder eine ganze Redewendung wird woertlich uebersetzt. Zum Beispiel: >Meine Tochter sitzt fuer Examen< fuer >My daughter is sitting for an exam<, also: >Meine Tochter macht Examen<. Auch Diskurspartikel wie >well<, >anyway<, >like< und >you know< werden ins Deutsche uebernommen. Fuer mich als Linguisten ist es von besonderem Interesse, wie die einzelnen Woerter in die deutsche Sprache integriert werden. Heisst es der, >die< oder >das car<, >die builder< oder >die builders< fuer Baumeister, heisst es >geschrinkt< oder >geschrunken< fuer einschrumpfen? Von entscheidender Bedeutung sind der Prozess des Sprachwechsels von einer Sprache zur anderen und der grammatische Wandel. Die Zweitstellung des Verbs wird von manchen Sprechern allmaehlich durch die festere englische Satzstellung ersetzt. Zum Beispiel: >Waehrend demse hat ihr lesson, hab ich gemacht einen Schaukasten im foyer vom Chevron Hotel<. In der zweiten Generation wird es vielfach als Bezugspronomen fuer leblose Objekte mit maskulinen und femininen Hauptwoertern verwendet. Zum Beispiel: >Ich mag diesen Schrank. Es ist groesser als der alte.< In der dritten Generation wird auch fuer solche Hauptwoerter >es< als Artikel gewaehlt. Das Hilfsverb >sein< wird oft durch >haben< ersetzt. Heutzutage bieten sich fuer mich wenige Gelegenheiten, Deutsch aktiv zu verwenden, nur etwa dann, wenn ich bin in Europa bin oder wenn ein Kollege hier zu Besuch ist. Natuerlich >maile< ich taeglich auf Deutsch und lese deutsche Fachliteratur; ab und an spreche ich auch mit einem Kollegen in der Germanistik auf Deutsch. Meine Hauptgespraechspartnerin ist aber meine Tochter. Heute spricht sie fliessend, wenn auch grammatisch nicht ganz korrekt Deutsch. Sie war in ihrer Kindheit eine grosse Kritikerin der Sprachmischung. Statt die Sprachen zu vermischen, wiederholte sie haeufig den gleichen Inhalt in der anderen Sprache, um jeden Gespraechspartner >sprachgerecht< anreden zu koennen. Spaeter, in ihrer Zeit als Oberschuelerin und als Universitaetsstudentin, fand sie wiederum, dass sie englische Woerter einfuegen muesse, wenn sie ueber fachspezifische oder in der Peergruppe erlebte Sachverhalte auf Deutsch sprach. Ich fuehre dieses Sprachverhalten vor allem auf das Bewusstsein meiner Tochter fuer die Grenzen zwischen den Sprachen zurueck.