Ist das Internet ein virtueller Ozean oder wohlmoeglich doch eher ein bescheidenes Aquarium? Dies frage ich mich bisweilen durchaus. Das Bild der weiten Welt hinter Glas kommt, glaube ich, der wahren Natur des Ganzen sehr Nahe. Ein ozeanisches Aquarium vielleicht! Denn wirklich hineinlangen kann man nicht, in dieses Meer aus verflossenen, neu an Land gespuelten, oder erst mit dem naechsten Neuigkeitentsunami von Ferne grollenden Informationen.
Alles ist da, scheinexistent, aber auch nicht wirklich. Die Zeit wird gebrochen, wie unter einer konvexen Linse, ist jedoch fluechtig gleich zweier Haende voll Meerwasser, die es als Kind schon galt vergeblich aus der Brandung zu schoepfen.
Vielleicht eine Art Riffaquarium. Damit beschaeftigt sich einer meiner ehemaligen Mitstreiter. Ein frueherer Drum and Bass Musiker, der nun beschlossen hat, ein ausgewiesener Spezialist auf dem ungeheuer wichtigen Gebiet der Riffaquaristik zu werden. Neben seiner Taetigkeit als Verkaeufer im Pianohaus Schmitz selbstredend. Das ist das Problem mit Aquarien und Aquarianern. Die kompensatorische und eskapistische Vorliebe fuer das sorgsame Wegsperren und sichere Betrachten exotischer, beinahe gefaehrlicher Welten hinter Glas. Also der Realitaet.
Mag sein, dass ich in meinem Urteil etwas fruehkindlich gepraegt und nicht ganz neutral bin. Das liegt am seligen Horst. Meine erste bewusste Begegnung mit einem Aquarium hatte ich durch ihn. Er war der Mann einer Freundin meiner Mutter. Diese Freundin hatte sich, kurz gesagt, beim ersten Geschlechtsverkehr ihres Lebens, im gemeinsamen Italienurlaub mit meiner Mutter Anfang der sechziger Jahre, von einem charmanten ligurischen Friseur in einer lauen Sommernacht schwaengern lassen. Wieder daheim musste natuerlich umgehend jemand her, der vor Gott und der Welt dafuer einstand. Das war Horst. Ein in sich gekehrter, nicht mehr ganz blutjunger Mann, mit deutlich auffallender Hornbrille, reichlich hohem Haaransatz und eingeschraenkten Sozialkompetenzen, insbesondere gegenueber Frauen.
Er wurde umgehend verheiratet und auch ohne Intimitaeten ebenso rasch und auf wundersame Weise Vater einer Tochter. Seine aufrichtige Liebe galt dem Camping und den Aquarien. So erblickte ich sowohl ihn als auch ein Aquarium erstmals als sehr kleiner Junge. Ein seltsam erleuchteter, blubbernder Glaskasten, mit bunten, kleinen, schwimmenden Lebewesen, die ganz anders aussahen, als die vertrauten Fischstaebchen. Horst hockte hinter seinem wassergefuellten Fenster zur Welt, die Nase und seine grosse Brille dicht an die Scheibe gepresst. Fuer mich erschien sein Gesicht doppelt und seine Augenglaeser sicher viermal so gross wie ueblich. Etwas befremdlich.
Als seine uneheliche Tochter nach vielen Jahren irgendwann erwachsen wurde und das Haus verliess, wurde er nicht mehr benoetigt. Weder seine Familie, noch sein Arbeitgeber oder auch seine Fische hatten noch Verwendung fuer Horst. Aber der Alkohol mochte ihn recht gern. Das hatte in den letzten Jahren schon zusehens fuer Disparitaeten gesorgt. So gab er sich der waermenden Zuneigung zum Aethyl schliesslich ganz hin, eine Leidenschaft die in den letzten Jahren schon mehr als zarte Bande mit ihm geknuepft hatte. Er starb sehr schnell, ohne Aquarium, Familie und zuletzt wohl auch ohne feste Adresse.
Insofern nenne ich einen gewissen Argwohn gegenueber Aquarien mein Eigen. Als latent zur Neophilie neigender Mensch, ist aber nun dieses Internet-Aquarium zurzeit das Mittel der Wahl zur Befriedigung meiner seltsamen Informationssucht. Dabei bin ich haeufig, wie ein Containerfrachter mit Seeleuten aus Kiribati unter maltesischer Flagge, auf einer festen Route rund um die Welt unterwegs. Ein enges Schedule meines inneren Disponenten laesst mich oftmals einige obligatorische Haefen in Rekordzeit anlaufen. Doch die Verlockungen von der genehmigten Route abzukommen, sind mannigfaltiger, als es Lloyds in London lieb sein koennte.
So bringe ich mich im Internet immer wieder in Gefahr, stelle den Motor aus und lasse mich treiben, entdecke weisse Flecken auf dem Globus, betaetige mich als Nebenerwerbspirat oder werde selbst gekapert. Meist versuche ich mich von allzu ueberlaufenen Gewaessern fern zu halten. Das kostet viel Zeit und Brennstoff, birgt aber letztlich den Reiz einer solchen Entdeckungsfahrt, wie sie weiland Arthur Gordon Pym erlebte. Eine Verfluessigung von Identitaeten nehme ich hauptsaechlich auf den ueblichen Ausflugsdampferpassagen war. Wenn mich das Netz nervt, langweilt und die Beutekammer gefuellt ist, aendere ich den Kurs und segele woanders hin. Oder steige ganz aus dem Informationsmeer, schuettele und frottiere mich und lasse alle Nerds, Blogger und Trainspotter zurueck. In ihrem wohltemperierten Wohnzimmer-Aquarium!
Angst sollte man nicht haben vor dem Ozean, nur tiefen Respekt, das ist eine der ersten und wichtigsten nautischen Erfahrungen. Ausserdem lasse ich ja bisweilen selbst einige daheim gefaltete Papierboote an diversen Punkten zu Wasser und sorge dafuer, dass sie wie digitale Flaschenpost um die Welt treiben. Als Regisseur ist das Internet in seiner heutigen Geschwindigkeit ein schoenes Medium, um auch kleinste Filmchen schnell, preiswert und unkompliziert zu publizieren. Natuerlich darf man nicht zu urheberrechtlicher Hysterie neigen. Bestohlen worden zu sein, ist eine der ersten einschneidenden Erfahrungen, die ich vor Jahren im Netz machte.
Damals entdeckte ich mein geistiges Eigentum auf russischen Seiten, die es nicht nur gestohlen hatten, sondern fuer die Verbreitung auch noch Geld nahmen und tatsaechlich erhielten. Von diesem Moment an war mir klar, dass ein Kapitaenspatent fuer einen Urheber im Netz nicht ausreicht. Und so liess ich mir einen geistigen Kaperbrief ausstellen, von eigenen Gnaden. Auch wenn die nautische Piraterie dieser Tage medienwirksam wieder kurz auflebt, so ist historisch doch eins klar: Wir leben in bald unwiederbringlich verlorenen digitalen Wildwest-Zeiten!
Wenn auch vor Jahrhunderten Sarazenen den Mittelmeerraum und Wikinger Nord- und Ostsee als Piraten pluendernd unsicher machten, so wurde ihrem Treiben von Seiten der sesshaften Gesellschaften letztlich der endgueltige Garaus gemacht. Fuer immer! Nomadisierendes Verhalten ohne Regeln wird von der Zivilisation nicht lange geduldet! Und so bin ich froh bei einer der letzten anarchistischen Perioden dabei gewesen zu sein! Wenn ich meinen Enkeln dereinst vom heutigen Internet erzaehle, wird natuerlich viel geschmunzelt werden, ob der praehistorischen Technik und spaetbronzezeitlichen Werkzeuge.
Aber es wird auch unverhohlener Neid aufkommen, ueber unerhoerte Abenteuer in Freibeutermanier. Sollte es noch Strom und Hochtechnologie geben, wird mein Name fuer meine Nachkommen in einem Atemzug mit >Klaus Stoertebecker< und >Jack Sparrow< ehrfurchtsvoll gefluestert werden. Ein digitaler Terrorist, ein Hasardeur, in einer Welt voll obszessiver Libertinage, Sodom und Ghomorra allenthalben! Zukuenftig wird vieles geregelt sein. Irgendwie. Kontrollierbar. Dafuer werden diverse biometrische Erfassungsmassnahmen schon sorgen. Auf Biegen und Brechen. Heute uebliche Angebote und Moeglichkeiten des Internets werden bald sehr schwer verfolgte Kapitalverbrechen sein. Und damit meine ich durchaus nicht nur >YouPorn<. Aber das ist ein ganz anderes Thema.
Ein Kommentar zu “Die Segel setzen”