Disziplinierung abweichender Meinungen: Politische Gefangene in Serbien heute

Belgrad, Juni 2025. Bild: masina.rs
Belgrad, Juni 2025. Bild: masina.rs

In Serbien finden Massenproteste statt, bei denen echte Demokratie gefordert und Korruption sowie Autoritarismus angeprangert werden. Die Regierung reagiert jedoch mit noch größerem Autoritarismus, was zu einer Zunahme politischer Gefangener führt. Der Westen schaut unterdessen weg, aus Angst, einen starken Partner mit wertvollen Ressourcen zu verlieren. Ana Vujković Šakanović untersucht diese Machtverhältnisse und mögliche Auswege.

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„Da wir schon einmal hier sind, möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um alle Strafverfolgungsbehörden, Staatsanwälte und die Polizei aufzufordern, uns alle hier zu verhaften – denn sie haben nichts getan, was wir nicht auch selbst tun würden. Heute ist es Marija, morgen bist du dran, übermorgen bin ich dran – sie werden nicht aufhören, das kannst du mir glauben“, sagt Igor Mihaljević, Journalist.

Das ist keine Zeile aus einem dystopischen Roman. Ich habe das vor einem Gerichtsgebäude in Nordserbien gehört, als sechs junge Aktivist*innen wegen ‚Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung‘ vor Gericht standen. Was war ihr eigentliches Vergehen? Sie hatten sich in einem Parteibüro getroffen, um eine Protestaktion zu planen. Ihre Strafe? Demütigung in den nationalen Medien, illegale Überwachung, Einzelhaft – und nun: Schweigen.

In diesem Essay geht es nicht nur um den demokratischen Verfall Serbiens. Es geht um die Normalisierung von Unterdrückung, die Kriminalisierung von Zivilcourage und die weltweite Gleichgültigkeit gegenüber politischer Verfolgung in einem Land, das EU-Beitrittskandidat ist.

Vom Gulag zur Abhörung

Der Begriff ‚politischer Gefangener‘ ruft Assoziationen mit vergangenen Regimen wach: Hitlers Konzentrationslager, Stalins Gulag, die Stasi in der DDR und die Apartheid in Südafrika. Heute jedoch erinnert er an Belarus oder Putins Russland. Selten erinnert er an Serbien. Das sollte er aber.

Die Überwachung der Zivilgesellschaft, die gezielte Verfolgung von NGOs und die Verhaftung von Dissidenten sind dort gut dokumentiert. Die Europäische Kommission hat vor illegaler staatlicher Überwachung gewarnt, insbesondere von kulturellen NGOs wie KROKODIL. Trotz dieser Warnungen wurde jedoch kein einziger Beamter, keine einzige Beamtin zur Rechenschaft gezogen. Die Überwachung ist zur Normalität geworden. Die Unterdrückung findet nun offen statt – im Fernsehen, performativ und zutiefst erschreckend.

Die Razzia im März 2025

Am 15. März 2025, während eines der größten Massenproteste in Serbien seit Jahrzehnten, wurden sechs Aktivist*innen verhaftet. Grund dafür war die Ausstrahlung einer illegal aufgezeichneten Sitzung. Das Regime hatte eine Strategiesitzung der Freien Bürger*innenbewegung abgehört. Die Aufzeichnung wurde zwei Tage zuvor im staatlichen Fernsehen ausgestrahlt. Die Aktivist*innen Marija Vasić, Davor Stefanović, Lado Jovičić, Mladen Cvijetić, Lazar Dinić und Stefan Đurić wurden daraufhin als ‚Terroristen‘, ‚ausländische Agenten‘ und ‚Feinde der Verfassung‘ bezeichnet. Der Begriff ‚Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung‘ – ein Relikt aus dem jugoslawischen Gesetz gegen verbale Delikte – wurde wieder aus der Mottenkiste geholt.

Ihr Prozess begann, bevor die Staatsanwaltschaft die Akte gelesen hatte. Die Propagandamaschine hatte sie bereits verurteilt. Sechs weitere Aktivist*innen derselben politischen Gruppe befanden sich zu diesem Zeitpunkt zufällig im Ausland und nahmen an einer Konferenz in Dubrovnik teil. Sie befinden sich weiterhin im faktischen Exil. Unter ihnen ist die Aktivistin Mila Pajić, die bereits von den regimetreuen Medien ins Visier genommen wurde und in deren Propaganda als Hauptschurkin dargestellt wird.

Von Dämonisierung bis Gaslighting

Die Taktik des Regimes ist nichts Neues. Zunächst bezeichnet es seine Kritiker:innen als ausländische Agenten. Dann beschuldigt es sie, ‚Farbrevolutionen‘ zu planen – ein Begriff, der aus der russischen Staatspropaganda stammt. Sogar die serbisch-orthodoxe Kirche spielt eine Rolle bei der Verbreitung dieser Narrative. Regierungsnahe Boulevardzeitungen verbreiten Verleumdungen. Die Öffentlichkeit verinnerlicht sie. Schließlich fühlen sich zufällige Selbstjustizler*innen dazu berechtigt, Aktivist*innen zu bedrohen – oder Schlimmeres zu tun. Die Grenze zwischen Staat und Mob wird dabei bewusst verwischt.

So wurden bei einer Demonstration 22 Student*innen festgenommen, weil sie einen regierungsnahen Kommilitonen mit Bier bespritzt hatten. Die Tat war trivial, doch innerhalb weniger Stunden brandmarkten die staatlichen Medien die Student*innen als ‚Nazis‘. In derselben Nacht tauchten in verschiedenen Städten Graffiti mit der Aufschrift ‚Bolje ćaci nego naci‘ (‚Lieber Analphabet als Nazi‘) und Hakenkreuzen auf.

Exil, Hunger und Schweigen

Einigen Aktivist*innen gelang die Flucht. Andere blieben und bezahlten dafür mit ihrem Leben. Marija Vasić, eine der Inhaftierten, trat nach zweieinhalb Monaten in den Hungerstreik. Weder ihre Familie noch ihr Anwalt wurden angemessen über ihren Gesundheitszustand informiert. Ihr Sohn wusste nicht, ob seine Mutter, die seit mehreren Tagen nichts mehr gegessen oder getrunken hatte, noch lebte oder tot war.

Schließlich durften sie sie in einem Gefängniskrankenhaus in Belgrad besuchen. Dort erfuhren sie, dass sie mit einem Gefangenentransporter ins Krankenhaus gebracht worden war. Dies ist ein weiteres Beispiel für die Behandlung, die sie erfahren musste. Unterdessen blieben fünf weitere Aktivist*innen in Haft. Nach unermüdlichem öffentlichem Druck wurden die Inhaftierten unter Hausarrest gestellt. Doch selbst dieses bescheidene Zugeständnis ist nun in Gefahr. Das Justizministerium will die Entscheidung rückgängig machen und beruft sich dabei auf ‚politischen Druck‘ als unzulässige Einflussnahme auf die Gerichte.

Die Botschaft ist klar: Die einzig akzeptable Form des Protests ist gar kein Protest. Diese Behauptung wird durch die Verhaftung von Marija Vasićs Sohn am 28. Juni 2025 untermauert. Er wurde auf dem Weg von Novi Sad nach Belgrad festgenommen, wo er protestieren wollte. Sie werden jeden Bürger und jede Bürgerin festnehmen, die das Potenzial haben, zukünftige Politiker*innen oder Oppositionsführer*innen zu werden. Alle anderen werden sie mit Drohungen und Erpressung zum Schweigen bringen.

Rechtsstaatlichkeit oder rituelle Demütigung?

Selektive Justiz ist ein Markenzeichen des Regimes. So wurden Aktivist*innen zu fünfjährigen Haftstrafen verurteilt, während niemand für den tödlichen Einsturz des Bahnhofsdachs in Novi Sad zur Verantwortung gezogen wurde. Dabei kamen 16 Menschen ums Leben und es gingen 16 Millionen Euro an öffentlichen Geldern verloren. Am Tag einer großen Protestaktion wurde das gesamte serbische Eisenbahnnetz aufgrund einer angeblichen Bombendrohung lahmgelegt. Busse mit Demonstranten wurden abgefangen. Die Fahrer wurden verhört. Es wurden keine Täter gefunden. Das ist Autoritarismus durch tausend Schnitte. Dazu braucht es keine Konzentrationslager. Alles, was es braucht, sind Gehorsam, Erschöpfung und Unglauben.

Das Rebranding eines Regimes

Die derzeitige herrschende Elite, von der viele bereits während der Milošević-Ära an der Macht waren, hat sich einfach ein neues Image zugelegt. Sie schreien keine nationalistischen Parolen mehr. Sie tragen Anzüge. Sie sprechen von EU-Integration. Ihre Gewalt hat sich jedoch nach innen gewandt.

In den 1990er Jahren hat dieses Regime Journalisten wie Slavko Ćuruvija ermordet, Dissidenten wie Latinka Perović unterdrückt und ethnische Säuberungskampagnen durchgeführt. Heute verhaftet das Regime Studenten und Professoren, löst Proteste mit der Geheimpolizei auf und droht damit, öffentliche Universitäten zu schließen, wenn der Unterricht nicht wieder aufgenommen wird. Zudem wurde das Regime kürzlich mit dem Mord an Oliver Ivanović, dem Anführer der Kosovo-Serben, in Verbindung gebracht. Dies ist jedoch kein neues Regime. Es ist dasselbe Regime – nur mit besserer PR.

Wer sind die politischen Gefangenen Serbiens?

Jeder und jede. Alle Bürger*innen leben in Angst vor Überwachung. Sie überwachen unsere Anwendungen wie WhatsApp. Student*innen und Bürger*innen werden geschlagen, wenn sie in der Nähe des Parlamentsgebäudes gehen, wo sich ein paramilitärisches Lager oder Anhänger der Regierungspartei niedergelassen haben. Die Polizei bewacht sie, reagiert aber nicht, wenn sie gewalttätig gegen Passanten vorgehen, die Fotos vom paramilitärischen Lager im Pionirski-Park machen. Alle Eltern fürchten, dass ihre Kinder wegen Protesten festgenommen werden. Lehrer werden vor Streiks gewarnt. Journalisten werden entlassen, um sie zum Schweigen zu bringen. Alle Aktivist*innen werden diffamiert, festgenommen oder ins Exil gezwungen. Die Gefängnisse sind real. Aber das Schweigen um sie herum ist es auch.

Von Angst zu Furchtlosigkeit

Wenn ein Mensch an seine Grenzen getrieben wird, wenn er in ständiger Angst um sein Leben lebt, nicht weiß, ob er durch einen eingestürzten Zug oder eine Busstation getötet oder einfach wegen anderer Meinungen verhaftet wird, wenn jede Handlung zu Gewalt und Unterdrückung führen kann, dann fühlt er sich in die Enge getrieben. Wenn man an seine Grenzen getrieben wird, verschwindet die Angst. Man wird furchtlos.

Am 28. Juni versammelten sich in Belgrad rund 140.000 Menschen, um zu protestieren. Als sich die Demonstranten zerstreuten, kam es zu mehreren Zwischenfällen mit der Polizei, bei denen zahlreiche Menschen geschlagen und festgenommen wurden. Auch am nächsten Tag nahm die Polizei weitere Festnahmen vor. Insgesamt wurden 78 Personen festgenommen. Einige wurden in ihren Wohnungen festgenommen, andere, als die Polizei die Landwirtschaftliche Fakultät stürmte. Dabei wurden sechs Studenten festgenommen. Die Bewohner von Zemun, dem Stadtteil, in dem sich die Fakultät befindet, zeigten ihre Solidarität, indem sie das gesamte Viertel blockierten.

Als die Menschen erkannten, dass es keinen sicheren Ort gab und schon die bloße Teilnahme an den Protesten zu einer Verhaftung führen konnte, breitete sich eine Welle des zivilen Ungehorsams in Belgrad und dann im ganzen Land aus. Die Bürger*innen errichteten mit improvisierten Materialien Barrikaden. Mülltonnen, Baugeräte, Bügelbretter und sogar aufblasbare Pools wurden zu Symbolen des Widerstands.

Am Morgen des 30. Juni begann die Spezialeinheit der Gendarmerie, die Barrikaden zu entfernen und erneut Bürger*innen festzunehmen. Dies löste noch kreativere und entschlossenere Akte zivilen Ungehorsams aus. Als die Stadtverwaltung von Novi Sad die Mülltonnen in der ganzen Stadt dauerhaft entfernte, reagierten die Bürger*innen, indem sie ihren Müll vor dem Sitz der Regierungspartei abkippten. Daraufhin schickte die Regierung die Polizei, um friedlich die Fußgängerüberwege zu sperren und so den Verkehr zu blockieren. Das Überqueren eines Zebrastreifens wurde illegal, und die Polizei begann, die Zebrastreifen zu bewachen. Die Protestierenden, die an einer Kreuzung vertrieben wurden, zogen zur nächsten weiter.

Wenn man nirgendwo mehr hin kann, greift man zu verzweifelten Maßnahmen. Milomir Jaćimović, ein Busunternehmer aus Novi Sad, war seit Monaten bedroht worden, weil er Studenten kostenlos zu den Protesten beförderte. Seine Reifen wurden aufgeschlitzt, und die Polizei nahm seine Busse wiederholt aus dem Verkehr und stellte sie still. Am 1. Juli versuchte er unter starkem Druck und vor dem Hauptquartier der regierenden Serbischen Fortschrittspartei in Anwesenheit seines Sohnes, sich selbst in Brand zu setzen. Die Regierung reagierte mit der Verhaftung beider.

Nicht in meinem Namen

Ich schreibe dies in dem Bewusstsein, dass ich der Nächste sein könnte. Ich bin kein Revolutionär. Ich bin nicht einmal Mitglied einer Partei. Aber ich bin es leid, tatenlos zuzusehen, wie eine kriminelle Elite das Land in eine private Domäne verwandelt und es gleichzeitig als europäische Demokratie präsentiert. Was in Serbien geschieht, ist nicht nur ein Problem Serbiens. Es ist ein europäisches Problem. Die EU muss sich entscheiden, ob sie performative Stabilität belohnt oder diejenigen unterstützt, die den Preis für echte Demokratie zahlen. Nicht in meinem Namen.

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