‚Ich bekomme keinen Sauerstoff‘: Der Tempi-Unfall und die Unterseite des globalen Kapitalismus

Tempi-Unfall, 2023. Bild: Public domain
Tempi-Unfall, 2023. Bild: Public domain

Die herrschenden Klassen tun in der Regel alles, um katastrophale Unfälle nicht als das erscheinen zu lassen, was sie oft sind: Produkte des kapitalistischen Normalbetriebs. Als solche offenbaren sie nicht zuletzt die Schattenseiten des herrschenden Systems und schüren soziale Unruhe, wie Gregor Kritidis am Beispiel des schwersten Eisenbahnunfalls in der Geschichte Griechenlands zeigt.

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Am 28. Februar 2023 kollidierte ein aus Athen kommender Intercity bei Tempi mit einem entgegenkommenden Güterzug. 57 Menschen starben, über 80 wurden zum Teil schwer verletzt. Unter den Toten und Verletzten befanden sich viele Studierende aus Thessaloniki, die über das verlängerte Wochenende die Hauptstadt besucht hatten. In den darauffolgenden Tagen kam es zu spontanen Streiks und Protestdemonstrationen gegen die katastrophalen Zustände bei der Bahn seit den Krisenjahren nach 2008.

So wurden mit EU-Geldern digitale Sicherheitssysteme installiert, die aber größtenteils nicht funktionierten; Personal wurde drastisch abgebaut und Neueinstellungen sind aufgrund von Patronage und Vetternwirtschaft schlecht qualifiziert; Wartung und Überwachung von Zügen und Gleisen sind teilweise mangelhaft. Dass es nicht schon früher zu größeren Unfällen gekommen ist, ist nur dem Engagement der Eisenbahner*innen zu verdanken, die mit Überstunden versuchen, die Lücken im System zu kompensieren. Immer wieder hatte die Gewerkschaft auf die zahlreichen Sicherheitsmängel hingewiesen und sie auch zum Gegenstand von Arbeitskämpfen gemacht. Diese wurden jedoch von den Gerichten als ‚missbräuchlich‘ untersagt.

Die konservative Regierung Mitsotakis reagierte auf die Proteste mit dem seit dem Überwachungsskandal kurz nach ihrem Amtsantritt 2019 eingeübten Protokoll der Repression: Demonstrationen wurden von der Polizei niedergeknüppelt, kritische Stimmen als ‚Verschwörungstheoretiker‘ diffamiert.

Das ‚System Mitsotakis‘

Das hat System. Ob Waldbrandkatastrophen im Sommer, Überschwemmungen im Winter, Schmiergeldskandale bei Novartis und Siemens oder die Zusammenarbeit von Justiz und Polizei mit der Mafia: Es wird vertuscht und verschleiert, Kritiker*innen werden bedroht, Opfer kriminalisiert, Sündenböcke gesucht und Verantwortliche nicht bestraft, sondern befördert. Die Verantwortung wird bei ‚ausländischen Mächten‘ wie der Türkei und Russland gesucht oder es wird die Rassismuskarte gespielt.

Beispielhaft dafür ist die Katastrophe von Pylos, die oft in einem Atemzug mit dem ‚Unglück von Tempi‘ genannt wird: Im Sommer 2023 starben mehr als 600 Geflüchtete bei einem Schiffsunfall vor der Küste Griechenlands, als die Küstenwache das Schiff rechtswidrig wieder in internationale Gewässer ziehen wollte. Überlebende wurden unter dem Vorwurf der Schlepperei vor Gericht gestellt, während die Verantwortlichen nicht belangt wurden.

Die bisher willfährigen privaten Medien und der vom Ministerpräsidenten und seinen Vertrauten kontrollierte öffentlich-rechtliche Rundfunk ERT halfen stets bei der Durchsetzung der Regierungswahrheit. Eine zersplitterte und zahnlose Opposition im Parlament sowie die Einschüchterung und Bedrohung der außerparlamentarischen Opposition taten ein Übriges, um das ‚System Mitsotakis‘ zu stabilisieren.

Protest nach dem Tempi-Unfall. Foto: via 902.gr

Obwohl offensichtlich war, dass nicht – wie von der Regierung behauptet – ‚menschliches Versagen‘ die Ursache des Unfalls war, wurde dieses kritische Bewusstsein der Bevölkerung durch Vertuschung der konkreten Umstände und Medienpropaganda vernebelt. Schon wenige Wochen nach der Katastrophe war das ‚Unglück von Tempi‘ aus der Öffentlichkeit verschwunden. Der Vater eines Opfers brachte es auf den Punkt, als er sagte, es sei ihm unwirklich vorgekommen, als hätte es die Katastrophe nie gegeben und sein Kind müsse unversehrt in seinem Zimmer liegen.

Da die parlamentarische Linke seit ihrem politischen Bankrott 2015 zersplittert ist, blieb die Regierung der Nea Dimokratia unangefochten. Aus diesem Grund hat sich die politische Initiative von der Parteipolitik in den gesellschaftlichen Raum verlagert. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Gegenöffentlichkeit, die sich insbesondere seit den Krisenjahren nach 2008 in den sozialen Medien entwickelt hat.

Widerstand aus der Gesellschaft

Zu einem Zentrum des Widerstandes hat sich die Vereinigung der Überlebenden und Angehörigen der Opfer ‚Tempi 23‘ entwickelt, die konsequent die Aufklärung der Katastrophe verfolgt. Die Organisation wird repräsentiert von Maria Karystianou, einer Kinderärztin aus Thessaloniki, die bei dem Unfall ihre 20-jährige Tochter Marthi verlor und inzwischen durch ihre ruhige und beharrliche Art zu einer Ikone des Widerstands geworden ist. Unterstützt wird sie von den Basisgewerkschaften und der außerparlamentarischen Linken, die sich als ebenso einflussreicher wie stabiler Faktor erwiesen hat.

Im Januar 2025 gelang es ihr, innerhalb weniger Tage Demonstrationen zu organisieren, die die Mobilisierungen in den Jahren der Wirtschaftskrise bei weitem übertrafen und die Mitsotakis zwangen, öffentlich Stellung zu beziehen. Befeuert wurden die Proteste durch die Veröffentlichung eines Gutachtens, das nachweisen konnte, dass viele Opfer den Zusammenstoß der Züge überlebt hatten und erst durch die Explosion am Unfallort und den anschließenden Brand des Zuges ums Leben gekommen waren. Eine junge Frau, die in den Waggons eingeklemmt war, rief die Notrufzentrale an und berichtete, dass sie keinen Sauerstoff mehr bekam – die Explosion hatte der Umgebungsluft den Sauerstoff entzogen. Ein erschütterndes Dokument, das die sozialen Unruhen befeuerte.

Eskalierend wirkten auch arrogante und zynische Kommentare von der Regierungsbank. So behauptete Gesundheitsminister Adonis Georgiadis, den Angehörigen gehe es nur darum, vom Staat höhere Entschädigungszahlungen zu erpressen. Tatsächlich mussten die Opfer die zum Teil langwierigen medizinischen Behandlungen aus eigener Tasche bezahlen.

Illegale Geschäfte mit Lösungsmitteln

Eine zentrale Frage ist, wie es zu der gewaltigen Explosion am Unfallort kommen konnte. Zur Ursache – die Regierung hat bisher keine plausible Erklärung geliefert – gibt es eine naheliegende These, die durch eine Studie der Universität Gent und den offiziellen Untersuchungsbericht zum Unfallhergang gestützt wird: Demnach hat ein Waggon mit illegal transportiertem Lösungsmittel die Explosion ausgelöst. Solche Lösungsmittel werden in Griechenland traditionell zum Panschen von Benzin verwendet.

Obwohl entgegen den Vorschriften für solche Unfälle in einer Blitzaktion 300 Kubikmeter Erde abgetragen wurden, konnten an der Unfallstelle Rückstände von aromatischen Kohlenwasserstoffen nachgewiesen werden; Feuerwehrleute wiesen Verbrennungen auf, die auf Lösungsmittel hindeuten, außerdem gibt es die Berichte von Augenzeugen und nicht zuletzt das Video der Explosion sowie Fotos des anschließenden Feuers.

In den letzten Jahren hat der Zoll vor allem an der Grenze zu Bulgarien tonnenweise illegal transportierte Lösungsmittel beschlagnahmt. Ein möglicher Produktionsort wäre daher die Raffinerie in Burgas, die größte auf dem Balkan. Die Raffinerie befindet sich nach wie vor im Besitz des Mineralölkonzerns Lukoil und unterliegt den westlichen Sanktionen gegen Russland. Eine andere Möglichkeit ist, dass das Lösungsmittel aus der Raffinerie in Thessaloniki stammt. Diese gehört der Hellenic Petrolium, deren Eigentümer der griechische Staat und die Holding der reichsten Griechen, der Familie Latsis, sind.

Mafiöse ‚graue‘ und ‚schwarze‘ Ökonomie

Es gibt auch Gründe für den Überschuss an aromatischen Kohlenwasserstoffen in den Produktionsprozessen der Raffinerien: Die EU hat 2005 den zulässigen Anteil dieser Stoffe im Benzin von 45 auf 35 Volumenprozent gesenkt. Dabei ging es vor allem um Schadstoffemissionen ins Grundwasser. Da der Markt für Klebstoffe, Farben und Lacke, bei deren Herstellung Lösemittel eingesetzt werden, kaum massiv wachsen wird, dürfte die Menge der zu entsorgenden Nebenprodukte zunehmen. Es liegt daher nahe, dass der ohnehin florierende illegale Handel ausgeweitet wurde. Expert*innen schätzen, dass dem griechischen Staat durch das Vermischen und den illegalen Handel mit Kraftstoffen jährlich 2,5 Milliarden Euro an Steuereinnahmen entgehen.

Es gibt also gute Gründe für die aufwändige Vertuschung der Ursachen des Tempi-Unfalls. Die Regierung der Nea Dimokratia ist tief in diese illegalen Geschäfte verstrickt und es ist kaum vorstellbar, dass sie sich noch lange im Amt halten kann, zumal der Vertuschungsskandal immer weitere Kreise zieht. So gab es im Zusammenhang mit den Ermittlungen zur Unfallursache bisher drei mysteriöse Todesfälle, darunter der des Fahrdienstleiters der Hellenic Railways sowie der des Sohnes der leitenden Staatsanwältin von Larisa. Letztere hatte im Dezember 2024 Ermittlungen gegen Beamte des Verkehrsministeriums eingeleitet. Ende Dezember war ihr Sohn bei einem Spaziergang verschwunden und erst im März dieses Jahres in einer abgelegenen Gegend tot aufgefunden worden. Die Familie – der Onkel des Opfers ist Ehrenpräsident des höchsten Gerichts, des Areopag – spricht von Drohungen gegen die Juristin und geht von einer Entführung und Ermordung aus.

Der Kampf um die Aufklärung des Unfalls von Tempi und gegen den autoritären Massnahmenstaat von Mitsotakis ist deshalb so brisant, weil er unmittelbar mit dem Kampf gegen die mafiöse ‚graue‘ und ‚schwarze‘ Ökonomie verbunden ist, die – wie Michael Krätke dargelegt hat – die Unterseite des globalen Kapitalismus bildet. Dieser Prozess steht erst am Anfang. Aber die Regierung Mitsotakis ist angezählt und wird sich mittelfristig kaum halten können. Die Gesellschaft Griechenlands verlangt quer durch alle sozialen Milieus nach Aufklärung und Gerechtigkeit.

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