Der schiefe Turm von PISA

Wir Deutschen sind schon ein sonderbares Voelkchen. Weil wir >Auschwitz< verunmoeglichen wollen, muessen wir vor aller Welt den Musterknaben mimen. Ueberall, ob beim Klimaschutz, bei humanitaeren Interventionen oder bei der Vergangenheits- bewaeltigung draengeln wir uns nach vorn und wollen Beispiel gebend fuer andere sein - im moralisch einwandfreien Sinn natuerlich. Dass wir uns der moralischen Korrektheit, dem Gutmenschentum und der politischen [Sozial-]Romantik verpflichtet haben, kann daher nicht verwundern.

Waehrend wir die >Drecksarbeit< gern Kanadiern, Pakistanis oder Nepalesen in Afghanistan, Darfur oder Somalia ueberlassen, bemuehen wir uns lieber um Aufbauhilfen in Fernost, um internationale Einvernehmlichkeiten oder nageln andere wegen ihrer Menschenrechtspolitik an die Wand. Fahrig, turbulent und laut wird es allerdings, wenn jemand gegen den >vornehmen Ton< des Landes verstoesst und beispielsweise von >Leitkultur< schwadroniert, mit schwarzrotgoldener Farbe wedelt, auf die Bedeutung der Mutter fuer die fruehkindliche Erziehung aufmerksam macht. Oder wenn das Land, wie geschehen, bei internationalen Vergleichen im Mittelfeld landet. Schon das genuegt, um hierzulande ein mittleres Erdbeben auszuloesen. Der PISA-Schock gibt uns dafuer entsprechendes Anschauungs- material. Die Tatsache, dass das Land der Dichter und Denker beim Bildungsvergleich nicht vorne weg marschiert, sondern von einem so unbedeutenden Zwerg wie Finnland um Laengen geschlagen wird, scheint heftiges Magengrimmen bei Politikern, Bildungsforschern und Journalisten zu erzeugen.

Als ob Finnland darum schon Massstaebe fuer modernes Lehren und Lernen liefern koennte, als ob sich traditionell gewachsene und kulturell verwurzelte Systeme ueber Nacht von hier nach dort verpflanzen liessen, als ob Finnland und nicht die USA, Asien und unsere europaeischen Partner, Frankreich, England und Italien unsere Wettbewerber auf internationalen Parkett waere.

Uebersehen wird dabei, dass das sehr duenn besiedelte Land eine der hoechsten Selbstmord- und Alkoholikerraten der Erde unterhaelt; und uebersehen wird auch, dass das finnische Bildungswesen nicht gerade im Verdacht steht, die Welt mit besonders ausgebufften Managern, exzellenten Forschern oder zahlreichen Nobelpreistraegern beglueckt zu haben. Wuerde man naemlich den Ausstoss solcher High Potentials zum Kriterium machen, muessten unsere Bildungsmanager eher nach Asien oder in die USA als nach Finnland reisen. Deren Bildungswesen ist zwar nach uebereinstimmender Ansicht zwar noch schlechter als das hiesige, trotzdem schaffen sie es regelmaessig jene Wissenschaftler, Manager und Spitzensportler hervorzubringen, die weltweit Preise abraeumen.

Nun kann man natuerlich argumentieren, dass Auswahl, Zuteilung und Foerderung der Besten nicht der Sinn von Menschenbildung ist oder sein kann. In ihrer Ausschliesslichkeit ist dies sicher richtig. Bei Bildung und Erziehung sind vor allem Nachhaltigkeit und Breitenwirkung gefragt. Zumal das Recht auf Bildung Menschenrecht ist, und es darum auch um >Zweckfreiheit< geht. Der Mensch soll nicht nur nicht qualifiziert werden und Kompetenzen erwerben, damit er im Wirtschaftsprozess funktioniert, er soll auch allseits gebildet werden, nicht nur an Hirn und Verstand, sondern auch an Herz und Charakter. Kein Kind und kein Jugendlicher darf vernachlaessigt oder gar zurueckgelassen werden. Jeder einzelne zaehlt – so das Credo, das von emanzipatorischen Linken und Humanisten ebenso vertreten und hinausposaunt wird wie von neoliberalen Wirtschaftslenkern und -politikern. Und weil soziale Gerechtigkeit mit dem Leistungsgedanken versoehnt werden muss, das Soziale dem Leistungsaspekt aufgepfropft wird, darf keinesfalls fruehzeitig selektiert werden. Kinder und Jugendliche muessen, auch wenn ihre Talente und Begabungen diametral in andere Richtungen zeigen, so lange wie moeglich gemeinsam unterrichtet werden, der Hochbegabte mit dem Minderbegabten, der Fleissige mit dem Faulen. Und das am besten den ganzen Tag lang, betreut von einer Schar von Lehrern, Erziehern, Sozialtherapeuten und Medizinern rund um die Uhr. Weil Finnland das irgendwie schafft, Suedkorea hingegen nicht, steht hierzulande auch das skandinavische Land so hoch im Kurs, und nicht das fernoestliche Land, obwohl es in den Rankings genauso gut abschneidet. Dass der Beste besser wird, wenn er mit dem Schwachen gemeinsam lernt oder spielt; oder dass der Schwache zum Lernen angespornt wird, wenn der Beste als Vorbild dient, ist aber Irrglaube und Trugschluss. Wuerde man dem folgen, duerften Profivereine wie der FC Barcelona kein Scouting in Afrika, Suedamerika oder auf dem Balkan unterhalten und sich beizeiten die besten Talente von dort holen. Genau das machen sie aber, und auch mit gutem Grund. Und nicht nur sie, gleich, ob es sich dabei um Musik, Literatur oder Kunst handelt. Statt die Talentierten zusammen mit Hinz und Kunz kicken, musizieren, malen oder laufen zu lassen, binden sie die Besten des Jahrgangs moeglichst fruehzeitig und langfristig an sich und bilden sie in ihren Jugendcamps abseits von ihrer Heimat zum Fussballprofi aus. Talent und Begabung foerdert man, indem man die Besten gegeneinander antreten und miteinander wetteifern laesst und guckt, wie sie sich dabei bewaehren. Philipp Lahm etwa, kleinwuechsig von Geburt an, musste grundsaetzlich immer gegen zwei Jahre aeltere Jungs antreten, um Robustheit und Durchsetzungsvermoegen zu erlernen. Ohne diesen >Sozialdarwinismus< haette es keine Steffi Graf und keinen Boris Becker gegeben. Und ohne ihn gaebe es vermutlich auch keinen Ronaldinho, Roger Federer oder Nicolas Sarkozy. Das heisst natuerlich nicht, dass sich Schule und Erziehung nach Art eines Fussballvereins, einer Eliteanstalt oder eines Tenniscourts organisieren liessen. Zum einen gibt es bekanntermassen die so genannten >Spaetentwickler<, die einige Zeit brauchen, bis sie ihr Talent erkennen und nutzbar machen. Hinzu kommt der eiserne Willen und Ehrgeiz, sich koerperlich oder mental zu schinden und auf die suessen Annehmlichkeiten des modernen Lebens zu verzichten. Zum anderen kann niemand genau sagen, wie Talente sich entwickeln. Menschen sind bekanntlich keine Maschinen, die immer das machen, was man von ihnen verlangt. Sie sind mit Eigensinn ausgestattet und letztlich unberechenbar. Begabt sind bekanntlich viele, und talentiert auch, ob sie dieses Potential aber auch entwickeln und in der Konkurrenz mit anderen beweisen, verbessern und verfeinern koennen, steht wieder auf einem anderen Blatt. Trotzdem gibt uns die Geschichte einen Fingerzeig darauf, wie Leistungswillen, wenn man sie vergleichen und in Rankings kleiden will, funktioniert. Leistungsfoerderung tritt ein, wenn Anforderungen, die gestellt werden, im Bereich des Erreichbaren liegen. Liegen Messlatte und Anforderungsniveau zu hoch, animiert das nicht mehr zu Leistung. Man wendet sich anderen Dingen zu, schaut fern, spielt Play Station oder tratscht mit virtuellen Freunden. Umgekehrt gilt das genauso: Sind die Anforderungen zu niedrig und wirkt das Umfeld wenig stimulierend, werden Leistungsschuebe ausbleiben, Ehrgeiz und Motivation verkuemmern. Fordern und Foerdern muessen deshalb in einem angemessenen, quasi reziproken Verhaeltnis zueinander stehen. Stehen beide in einem eklatanten Missverhaeltnis, ist Scheitern vorprogrammiert. Nicht fruehzeitige Selektion ist das Hauptproblem des modernen Bildungswesens, auch nicht die Benachteiligung bildungsferner Schichten. Der Vorwurf der PISA-Forscher geht daher von falschen Voraussetzungen aus. Nicht die Schule ist schuld, dass Kinder und Jugendliche aus dem Arbeitermilieu oder mit Migrationshintergrund auf hoeheren Schulen fehlen. Daran werden auch Ganztagesschulen oder staatliche Rundumversorgung der Schueler wenig aendern. Waere es anders, muesste die Ergebnisse in Frankreich oder England, wo dieser Schultyp seit Jahrzehnten Normalitaet ist, weitaus besser sein; und Italien, das die laengsten Ferien in Europa besitzt und nach wie vor die Halbtagesschule bevorzugt, abgeschlagen im Hinterfeld landen. Sondern vielmehr die mangelhafte Handhabung und Durchsetzung des Leistungsgedankens in unseren Schulen, der im Veraechtlichmachen von Noten und Zensuren nur seinen sichtbarsten Ausdruck findet [Schafft doch gleich die Noten ab!].

Soziale Zuteilung dient, vorausgesetzt sie erfolgt passgenau und professionell, dem Einzelnen. Im Blick hat sie zuallererst, was das Individuum kann oder zu leisten bereit ist, also Neigungen, Begabungen und Talente. Hier ist in der Vergangenheit viel Schindluder betrieben worden, erst recht, seit es Psychologen und Mediziner, Sozialromantiker und Therapeuten in den 1970ern gelungen ist, Schulen und Bildungsanstalten zum Tummelplatz ihrer Aktivitaeten zu machen. Seitdem sind alle wesentlichen Inhalte des Unterrichts, mithin Lehren, Lernen und Zensuren kurzerhand >psychologisiert< worden. Die Schulen quellen ueber an medizinischen, juristischen und therapeutischen Gutachten, die mangelhaften Leistungswillen, fehlende Motivation oder Undiszipliniertheiten erklaeren. Von Dyskalkulie ueber Legasthenie und Schulphobie zu ADHS bis ADS reichen mittlerweile die >psychologischen Schuldzuweisungen<, um ungenuegenden Lernwillen und nicht vorhandene Anstrengungsbereitschaft zu begruenden. Immer sind die anderen schuld, das dreigliedrige Bildungssystem, die Lehrperson, der Unterricht usw., aber nicht diejenigen, um derentwillen Milliarden von Euro in das Bildungssystem gepumpt werden. Und es sieht auch nicht so aus, als ob sich an dieser Misere in naher Zukunft irgendetwas aendern wuerde. Dabei war und ist es eine der herausragenden Leistungen des modernen Bildungssystems einmal gewesen, dass es soziale Herkunft durch Leistung ersetzt hat. Um sie entsprechen wuerdigen zu koennen, ersann man Noten und Zensuren. Sie lieferten einen einigermassen faires und objektives Massstab, um Leistungen >messenvergleichenSchueler< zu sichern und nicht >Opfer< elterlicher Klagewellen zu werden, werden Leistungsstandards gesenkt, die Notengebung frisiert und die Uebertritte an hoehere Schulen erhoeht; und um bei Evaluationen von Expertenteams nicht schlecht beleumundet zu werden, werden Uebertrittsquoten ueber jedes Mass hinaus angehoben und/oder Unterrichtsmethoden gepflegt, die das Gefallen der Gutachter finden. Nimmt man diese Beispiele, die allesamt der >Kueche< der Schule entstammen, ernst, dann weiss man, wie schief der Turm von PISA ist, der im zweijaehrigen Rhythmus aufgebaut wird, naemlich so schief wie der echte in Pisa.
Meine Tops of the Pops in 2007

Album

Shotter’s Nation, Babyshambles
Boxer, The National
In Rainbows, Radiohead
Magic, Bruce Springsteen
In Our Bedroom After the War, Stars

Konzert

The Who, Olympiahalle
Pet Shop Boys, Zenith
Arcade Fire, Tonhalle
Sophia, Alte Maelzerei
Morrissey, Zenith

Film

Zodiac, David Fincher
Death Proof, Quentin Tarantino
American Gangster, Ridley Scott
Todeszug to Yuma, James Mangold
Departed, Martin Scorsese

Buecher

Israel-Lobby, Mearsheimer/Walt,
Zorn und Zeit, Peter Sloterdijk,
Briefwechsel, Hans Blumenberg/Carl Schmitt
Abendlaendische Eschatologie, Jacob Taubes
Dangerous Nation, Robert Kagan

Ueber das Jahr hinaus und, immer wieder frisch

Was heisst Denken, Martin Heidegger
The Smiths
Jenseits von Gut und Boese, Friedrich Nietzsche
Die Aufhebung der OEkonomie, Georges Bataille
The Cure


Flops of the Pops in 2007

Turn It On Again-Tour, Genesis
Cassadaga, Bright Eyes
Florian von Donnersmarck
Harry Potter
Al Gore und der Klimazirkus auf Bali

Ein Kommentar zu “Der schiefe Turm von PISA

  1. Dieser Beitrag lädt mit Sicherheit zur Dikussion ein, was mich allerdings ein wenig irritiert ist der nationalistische ton “wir deutschen” usw. Mir ist ehrlich gesagt nicht klar, ob das jetzt ironisch gebrochen ist oder…

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