Natuerlich spricht nichts gegen die blosse Existenz eines Kleidungsstuecks wie dem Schal. Schriftliche Auslassungen der hoehnischen Art ueber textile Vorlieben der modernen Welt, sollte man popliterarischen Kollegen ueberlassen, die muessen damit schliesslich ihr wochenendliches Schneegestoeber finanzieren. Themen gehen heutzutage schneller aus, als meine Kopfhaare.
Nein, ein Schal, jenes winterliche Accessoire, geboren dereinst im fernen Kaschmir, ist ein durchaus nuetzlich Ding, zumindest bei heftigem Schneesturm in den Hochebenen des Altaigebirges. Hierzulande klassisch favorisiert von Herrschaften, die ungeachtet Jahreszeitlicher Notwendigkeit, der Oeffentlichkeit in Sekundenbruchteilen die kostbare Fragilitaet Ihrer Kuenstlerseelen deutlich demonstrieren muessen.
Assoziationen mit Henri de Toulouse-Lautrec werden dabei zumindest billigend in Kauf genommen. Nun beschraenkte sich diese Klientel meist auf Transferleistungsgebundene, prekaere Herren, die sich auch weit jenseits der Vierzig noch gerne der Boheme zurechnen. Hinzu gesellten sich noch einige Sonntagsmaler, Operettensaenger und Galeristen aus Berlin Mitte, die mitsamt exaltierter Kopfbedeckung, dem klassischen Bild eines Aristide Bruant entsprechen wollten. Ich spreche hier, ganz Genderpolitisch unkorrekt, ausschliesslich ueber maennliche Schaltraeger. Das melodramatische Ableben einer Isadora Duncan, die sich 1927 in Nizza mit ihrem meterlangen Schal in den Speichen eines Sportwagens verfing und das Genick brach, steht natuerlich auf ewig fuer klassisch weibliche Anmut. Eine Diva darf das.
Neben diesen Kuenstlerdarstellern, war das Tragen eines Schals ehedem noch die Domaene praktisch orientierter Soehne, mit empfindlichen Haelsen und einem offenen Ohr fuer die lebenslangen Ermahnungen ihrer Muetter. Gerne gepaart mit exzessivem Konsum klassisch britischer Halspastillen. Zu ihrer Ehrenrettung sei aber gesagt, dass dies Tonsillen-Schutz-Textil erst ab deutlichem Kondensieren der eigenen Atemluft getragen wurde. Aktuell ist es jedoch Brauch, in schlecht geluefteten Clubs bei ca. 38 Grad Raumtemperatur, einzelne maennliche Traeger des menschlichen Genoms mit wollener Halsumwicklung zu beobachten. Aehnlich sinnlos wie das pseudo-urbane Tragen einer Wollmuetze auf der Tanzflaeche. Damit naehern wir uns auch dem Kern meines aktuellen Kopf-Katharrs.
Seit der Renaissance des Kufiya in allen Segmenten der Jugendkultur, vom HipHop bis zum Hooligan, findet das Tragen einer modischen Kehlkopfbedeckung steten Zulauf in der maennlichen Bevoelkerung. Wir reden hier ueber das Palaestinensertuch. Damit einhergehend, schleichen sich heimlich alle moeglichen Halstuecher in deutsche Kleiderschraenke ein. Antagonist der jugendlichen Subkultur ist der aktuelle deutsche Bundestrainer. Er weiss seiner Wandlung vom flaumbaertigen Schwarzwaelder Zweitligaspieler, zum elegant-technokratischen Kosmopoliten, gerne mit Kaschmirschals Nachdruck zu verleihen. Eine Ikone des zweiten Bildungsweges, ein Mann, der aus dem Schatten uebermaechtiger Alphatiere trat und nun die Rache der Zweiten bis Dritten Reihe zu personifizieren weiss.
Ein klassisches Rollenmodell all jener, die mit Hilfe von Logik, Wissenschaft und scheindemokratischer Teambuilding-Verschlagenheit, ein Chaostheoriemodell par excellence, wie es der Fussball nun einmal darstellt, zu domestifizieren versucht. Baendigung des boesen Tieres. Der Zufall muss sterben. Dazu der Schal als konterrevolutionaerer Krawattenersatz. Selten entsprach eine Mode so wenig dem typisch maennlichen Leitsatz >Die Form folgt der Funktion<. [Dies gilt natuerlich niemals fuer italienische Autos!] Ein so unsinniges Kleidungsstueck, abseits jeglicher klimatischer Notwendigkeit zu tragen, ist im hoechsten Grade zumindest metrosexuell. Nun sind alle Herren unter 25 Jahren, in ihrer heutzutage ausgesprochen langen Selbstfindungsphase, noch mit guetiger Milde zu betrachten. Aber erwachsene Maenner, die sich bereitwillig dem Zwang der Barbiefizierung im Stile eines >Ken< hingeben, erwecken in mir latenten Argwohn. Das liegt sicher auch an meiner aeusserst subjektiven, aber mikro-demoskopisch praezisen Beobachtung, welche Art von Herren sich, auch gerne im Poloshirt mit hochgestelltem Kragen, in geschlossenen Raeumen beschalt zeigen. Es sind dies in meiner Umgebung zumeist Werber, Marketingmanager in Plattenfirmen, Fernsehjournalisten, Gastronomen, Modefotografen und - da sind sie wieder - Popliteraten!
Allesamt Angehoerige einer menschlichen Morphologie, die man guten Gewissens dem Obskurantentum zurechnen muss. Stets wankelmuetigen Herzens. Fuer jene ist der alte kaufmaennische Grundsatz von >Treu und Glauben<, eine unverstaendlich leere Phrase. Waehrend des dritten Reiches nannte man sie >Goldfasan<, anschliessend >Kriegsgewinnler< und nach 1989 war >Wendehals< die gaengige Definition. Heute erscheinen sie zuweilen Sonntagsnachmittags als Teilzeitvaeter auf Spielplaetzen des Prenzlauer Berges und abends als statistische Groesse in Emnid-Umfragen. Dort erfasst man sie dann als >Wechselwaehler<. Vorsicht vor dem Kainsmal!