Politik der Anpassung: Der ‚Flut-Idiot‘ und die langsame Liquidierung der Normalität

Kite-surfer on a flooded meadow, with leafless bushes in the foreground and a cluster of single-family homes in the background. Image: Police, Barsinghausen, 2024
Image: Police, Barsinghausen, 2024

Während die politische Rechte gut auf das Zeitalter der Katastrophe vorbereitet zu sein scheint, ist dies bei der Linken nicht der Fall: wir müssen noch (massentaugliche) Narrative entwickeln, die über die falsche Alternative zwischen Untergang und „offiziellen Optimismus“ (Adorno) hinausgehen. Die Figur des „Flut-Idioten“ kann uns dabei helfen, das Dilemma besser zu verstehen, argumentiert Lukas Stolz.

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Im Schatten der alles dominierenden Militarisierung sind wir zu Beginn des Jahres 2024 fast unbemerkt in eine neue Ära der ökologischen Auseinandersetzung und des historischen Bewusstseins eingetreten. Eine Schlagzeile des Magazins Der Spiegel deutet auf diesen Wandel hin: „Klimakleber wollen nicht mehr kleben“. Vordergründig handelt es sich dabei lediglich um eine Veränderung aktivistischer Protestformen: weg von der Straßenblockade hin zu weniger umstrittenen diskursorientierten Aktionen. Das Abtreten des ‚Klimaklebers‘ als Hauptdarsteller im Theater des ökologischen Kampfes kann aber auch als eine Verschiebung im politischen Unbewussten gelesen werden: weg vom Fortschritt hin zur Anpassung als Telos unserer Zeit. Was könnte mit dieser Verschiebung gemeint sein, und warum sollten wir uns damit befassen?

Als Indiz dieser Veränderung und Ausgangspunkt der Diskussion könnte uns ein fast schon unspektakuläres Foto dienen, das zu Beginn dieses Jahres in Niedersachsen von der Polizei geschossen wurde. Es handelt sich dabei um die Aufnahme eines Kitesurfers auf den Feldern vor Barsinghausen, einer kleinen Stadt in der Nähe von Hannover. Die martialische Überschrift des Bild-Artikels, der meine Aufmerksamkeit erregte, lautet: „Flut-Idioten suchen den Kick im Katastrophen-Gebiet“.

Auf dem verpixelten Foto sehen wir den Kitesurfer auf einer überschwemmten Wiese, mit blattlosen Büschen im Vordergrund und einer Ansammlung von Einfamilienhäusern im Hintergrund. Die grünen und grauen Farbfelder des Fotos erinnern an das Bild „Rhein II“ das der Foto-Künstler Andres Gursky 1999 kurz vor der Jahrtausendwende anfertigte. Mit dem Verkauf des Bildes für 3,1 Millionen Euro wurde Gursky zum teuersten Fotografen der Welt. Im Jahr 2002 stellte er Gerhard Schröder und Joschka Fischer das Motiv für den rot-grünen Wahlkampf zur Verfügung. Eine Version des Fotos schmückte auch das Büro von Armin Laschet, dem ehemaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten und letzten Kanzlerkandidaten der CDU.

Keine Bedrohung von Außen, sondern von Innen

Zurück zum Bild des ‚Flut-Idioten‘ in Barsinghausen: Es fängt einen Aspekt unserer politischen Gegenwart, die Entfaltung der Klimakatastrophe in diesem Teil der Welt, mit einer fast unheimlichen Präzision ein. Auf welche Weise tut es das? Da wäre zum einen die Alltäglichkeit der auf dem Foto eingefangenen Szene. Als jemand, der in Norddeutschland aufgewachsen ist, kommt mir die ganze Landschaft sehr vertraut vor: die grün-grauen Felder und der grau verhangene Winterhimmel, die Einfamilienhäuser mit Giebeldächern, die eisernen Strommasten, die als Kind Fantasien antiker Riesen hervorgerufen haben. All diese Elemente stehen für die alltägliche Normalität meines Aufwachsens in einer Mittelklassefamilie in den 1990er und frühen 2000er Jahren in einem Vorort von Hamburg.

Diese vertraute Normalität wird jedoch subtil unterbrochen: Im unteren Teil des Fotos sehen wir, wie das graue Wasser und die grüne Wiese fließend ineinander übergehen, was darauf hindeutet, dass es sich hier nicht um einen regulären See oder Fluss mit einem klaren Ufer handelt, wie es etwa in Gurskys Rhein-Fotografie der Fall ist. Es ist ein erster kleiner Hinweis darauf, dass irgendetwas nicht ganz stimmt, eine undramatische Störung. Noch offensichtlicher als durch das fehlende Ufer wird die Normalität der Szene durch den Kitesurfer in Frage gestellt. Die Figur des Kitesurfers ist für sich genommen nichts ungewöhnliches, sie steht für Freizeit und Erholung, wir stellen sie uns vielleicht an einem Strand an der Nord- oder Ostsee vor. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Kitesurfer in einem der Häuser im Hintergrund wohnt, vielleicht als Angestellter im öffentlichen Dienst im Land Niedersachsen arbeitet und wahrscheinlich der Mittelschicht angehört: Er kann sich das Hobby Kitesurfen und die dafür notwendigen gelegentlichen Fahrten leisten, vielleicht in einem VW-Wohnmobil. Was also ist die verstörende Wirkung dieses Bildes, wenn es keine irregulären Elemente, keine Bedrohung von außen enthält?

Es ist genau das: Die Normalität wird in diesem Bild nicht von außen unterbrochen, sondern von innen aufgeweicht. Zwei unterschiedliche Elemente des Alltäglichen, Häuser und Felder auf der einen Seite und der Kitesurfer auf der anderen, werden wie in einer Montage zusammengefügt. Die Normalität zersetzt sich selbst. Das Bild ist wie ein hyperlokales Meme, erstellt von der Realität des Hochwassers in Norddeutschland, das mit der globalen Realität der Klimakatastrophe zusammenhängt. Nur sieht die Klimakatastrophe hier nicht wie die biblische Apokalypse aus, welche die Zivilisation überwältigt. Es ist keine gigantische Welle, die über New York rollt. Nein, es ist eine fast schon komisch-unschuldige Szene: eine überschwemmte Wiese in Barsinghausen mit einem Kite-Surfer.

Die Polizei, dein ‚Freund und Helfer‘, wie es seit den 1920er Jahren heißt, hat das Foto wahrscheinlich gemacht, um eine Ordnungswidrigkeit zu dokumentieren: Wie wir aus dem Bild-Artikel erfahren, ist das Surfen auf überschwemmten Wiesen streng verboten und zieht eine Anzeige nach sich. Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) warnt daher: „Ich kann vor einem solchen lebensgefährlichen Unsinn nur warnen“. Dieser miesepetrige Behörden-Sound ist mir so vertraut wie der grau verhangene Winterhimmel. Es wird vor Lebensgefahr warnt, wo man auch harmlosen Spaß sehen könnte. Aus der Überschrift des Artikels können wir zweierlei entnehmen: die Figur des ‚Flut-Idioten‘ und die Ausweisung der Landschaft als ‚Katastrophengebiet‘.

Sicherlich gibt es in Niedersachsen einige dramatisch überschwemmte Gebiete, aber ich komme nicht umhin, eine Dissonanz zwischen dem dramatischen Titel und dem harmlosen Bild zu bemerken: Der starke Wortlaut ruft Bilder großflächiger Verwüstung und Zerstörungen hervor, wie z.B. nach Erdbeben oder Kriegen. Mit diesen Bildern im Hinterkopf sind die Schäden, die wir auf dem Bild sehen, überschaubar. Die überaus drastische Beschreibung des Bildes ist eine Umkehrung des konservativ-rechten Diskurses über die Klimakatastrophe, wie er für Zeitungen wie Bild typisch ist: Wenn überhaupt, wird die Schwere der aktuellen Klimakrise hinter einer technischen Sprache versteckt, ohne die Folgen zu illustrieren. Im krassen Gegensatz dazu wird eine überschwemmte Wiese in Niedersachsen mit einem Kite-Surfer als ‚Katastrophengebiet‘ bezeichnet.

Vom ‚Klimakleber‘ zum ‚Flut-Idioten‘

Die diffusen Gefühle der Verunsicherung, die aus dem allgegenwärtigen Gefühl resultieren, dass sich die Normalität zunehmend „nicht mehr normal“ anfühlt, werden auf die Figur des ‚Flut-Idioten‘ projiziert, der den neuen Status Quo auf akzeptiert, frei nach dem Motto: ‚Wenn die Klimakatastrophe die Wiese überflutet, dann geh kiten.‘ Die Figur des ‚Flut-Idioten‘ ist somit der hedonistische Nachfolger der ‚Klimakleber‘, auf den die gleichen unangenehmen Gefühle projiziert werden, die aus der verdrängten Realität der Klimakatastrophe resultieren. Die Figur des ‚Klimaklebers‘ wurde von der Bild Zeitung geprägt, um herablassend über die jüngsten Klimaproteste der Aktivist*innen der „Letzten Generation“ zu berichten.

Im Gegensatz zum ‚Flut-Idioten‘ ist die Figur des ‚Klimaklebers‘ ein politisches Subjekt: Sie setzen ihren Körper aufs Spiel, um zu verhindern, dass wir mit dem business as usual durchkommen. Sie versuchen, etwas gegen die Katastrophe zu tun, indem sie uns dort treffen, wo es am meisten weh tut: bei der Automobil-Infrastruktur. Mit Erfolg stören sie nahtlose Reproduktion der Normalität. Die Figur des ‚Flut-Idioten‘ hingegen hat sich von den politischen Ambitionen der ‚Klimakleber‘ verabschiedet. Sie steht für die individualistische und hedonistische Akzeptanz des Status quo. Dabei offenbart der ‚Flut-Idiot‘ ungewollt die langsame Liquidierung der Normalität, die verdrängt werden muss, gerade weil sie direkt vor unseren Augen geschieht. Ein Teil dieser Verdrängung ist die Umkehrung der Sprache: Anstatt die sozial-ökologische Krise, für welche die Sprache eines Katastrophengebiets angemessen wäre, als solche zu benennen, wird der Begriff der Katastrophe für eine eher harmlose Szene in Niedersachsen verwendet. Eben weil man eine katastrophale Realität nicht bei der Polizei melden kann, muss der ‚Flut-Idiot‘ herhalten. Er wird zum Sündenbock, weil er die Aufmerksamkeit auf die langsame Auflösung der Normalität lenkt. Da es keinen gangbaren Weg zu geben scheint, die unverantwortliche Politik, die zu dieser Auflösung führt, zu unterbrechen, ist es der ‚Flut-Idiot‘, der als unverantwortlich bezeichnet wird.

Um es noch einen Schritt weiterzugehen: Der ‚Flut-Idiot‘ steht für das schwindende Versprechen des Fortschritts. Er versucht nicht, die Klimakatastrophe zu lösen, indem er Sandsäcke vor die Häuser stellen, um die Fluten zu stoppen. Stattdessen surft er auf der überfluteten Wiese. Er hat die ‚Tragödie des Arbeiters‘ akzeptiert, wie sie vom Salvage Collective definiert wurde: „Alle realistischen Lösungen, definiert durch den kapitalistischen Realismus, sind unzureichend. Alle adäquaten Lösungen, die dem Ausmaß der Krise gerecht werden, sind unrealistisch“. Folglich verweist der ‚Flut-Idiot‘ auf den Wechsel vom Paradigma der Prävention, das in den letzten Jahren im Mittelpunkt der Klimaproteste stand, zum Paradigma der Anpassung. Der ‚Flut-Idiot‘ stellt im wahrsten Sinne des Wortes die Vorstellung in Frage, dass die Menschheit das Steuer der Geschichte in der Hand hält. Vielleicht geht es bei der Revolution noch nichtmal darum, die Notbremse der Lokomotive zu ziehen, sondern darum, den Kite-Drachen im Sturm fliegen zu lassen? Es ist nicht nur eine Idee, die in Frage gestellt wird, sondern eine tief verwurzelte narrative Struktur, die moderne kapitalistische Gesellschaften nutzen, um sich selbst zu verstehen. Diese Erzählstruktur in Frage zu stellen, bedeutet, die Identität der modernen kapitalistischen Gesellschaften selbst in Frage zu stellen. Der Geograf und Wirtschaftswissenschaftler Geoff Mann schreibt: „Die Tragödie des Liberalismus ist seine Unfähigkeit, das Ende des Fortschritts zu erklären. Doch das ist die unmögliche Aufgabe, die das Anthropozän stellt“. Der ‚Flut-Idiot‘ verkörpert diese unmögliche Aufgabe.

Gegen falsche Alternativen

Während die politische Rechte auf das Zeitalter der ‚Flut-Idioten‘ und ein politisches Theater rund um die gebrochenen Versprechen der Moderne und das damit einhergehende Ressentiment gut vorbereitet ist, ist es die Linke nicht. Während die Rechte nicht nur memen, sondern auch an eine Tradition anknüpfen kann, die bis zu Spenglers Untergangsfantasien zurückreicht, um die Früchte der politischen Desillusionierung zu ernten, ist die Linke seit den 1990er Jahren damit beschäftigt, ihre eigene Nostalgie aufzuarbeiten. Sicherlich muss es einen Platz für politische Trauer und linke Melancholie geben. Aber vielleicht gibt es auch einen Platz für die Anpassung an die langsame Liquidierung der Normalität, jenseits der falschen Alternative von Untergang und offiziellen Optimismus, die die öffentliche Debatte dieser Tage strukturiert?

Ein guter Anfang wäre es, eine Sprache und Ästhetik der Katastrophe – ja, eine Politik der Apokalypse – zu entwickeln, die sowohl das rechte Verlangen nach groß angelegten Untergangsszenarien wie des ‚großen Austausches‘ als auch das liberale Verlangen nach ständiger Bestürzung und moralischer Empörung überwindet. Eine Sensibilität, die auf eine Gegenwart achtet, die schon grausam genug ist, könnte sogar Formen des Humors als legitime kulturelle Bewältigungstechnik wiederentdecken. Manchmal können wir in all der Tragödie Momente der Komik finden, die eine dringend benötigte vorübergehende Erleichterung bieten. Die Erkenntnis, dass die Tragödie oft in komödiantischer Form erscheint, könnte zum Realismus unserer Zeit beitragen.

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