Der Fall von Dr. Maltsev: Ein Wissenschaftler an der Peripherie der globalen Wissensordnung

Untersuchungshaftanstalt in Odessa, in der Dr. Oleg Maltsev derzeit festgehalten wird. Bildlizenz: CC BY NC
Untersuchungshaftanstalt in Odessa, in der Dr. Oleg Maltsev derzeit festgehalten wird. Bildlizenz: CC BY NC

Politische Ordnungen sind fragile Konstrukte. Dies zeigt sich in der langen Geschichte inhaftierter Intellektueller: Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen, deren Forschung, Gedanken und Äußerungen als Bedrohung der ‚öffentlichen Ordnung‘ oder der ‚nationalen Sicherheit‘ angesehen wurden. Entsprechend gibt es auch eine lange Geschichte des Widerstands von Intellektuellen gegen soziopolitische Bedingungen, die ihre geistige Gesundheit, ihre Würde und ihre intellektuellen Fähigkeiten direkt oder indirekt angreifen – ein Problem, das sich im Gefängnis noch verschärft. Dr. Oleg Maltsev, der vom ukrainischen Sicherheitsdienst (SBU) unter erfundenen Anschuldigungen verhaftet wurde, ist unfreiwillig Teil dieser Tradition geworden, wie Olga Panchenko und Giorgi Vachnadze erklären.

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Die Wissenschaft stellt sich gerne als eine aufgeschlossene, grenzenlose Republik der Vernunft dar, in der Neugier der einzige notwendige Pass ist. Doch Pässe können entzogen werden. Wie sich herausstellt, kann Neugier auch dazu führen, dass man unerwünscht ist. Theoretisch ist die wissenschaftliche Forschung ein geschützter Raum, insbesondere für diejenigen, die sich außerhalb der traditionellen Disziplinen bewegen. Die Geschichte von Dr. Oleg Maltsev sieht jedoch ganz anders aus. Im Ausland werden seine Beiträge von seinen Kolleg*innen begrüßt, er wird zu Konferenzen eingeladen, seine Arbeiten werden veröffentlicht und man pflegt einen offenen Umgang mit ihm. In der Ukraine hingegen wird Maltsev verdächtigt und sogar verhaftet.

Oleg Maltsev, wohlgemerkt ein Wissenschaftler und kein Soldat, wurde am 12. September 2024 verhaftet. Seitdem befindet er sich in Odessa in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, gegen Artikel 260 des ukrainischen Strafgesetzbuchs verstoßen zu haben. Dieser betrifft die Gründung einer bewaffneten oder paramilitärischen Formation oder die Beteiligung an einer solchen. Die Anklage klingt ernst, aber genau das ist Teil des Problems. Die Bestimmung ist vage. Jeder, der sich mit dem Gesetz auskennt, weiß, dass es je nach Ausleger unterschiedlich ausgelegt werden kann. Deshalb befassen sich aufmerksame Beobachter mehr mit den Begleitumständen dieses speziellen Falls als mit dem Gesetz selbst.

Angriffe auf die akademische Unabhängigkeit

Das Fehlen stichhaltiger Beweise, die Manipulation von Fakten, der auf Zeugen ausgeübte Druck und schließlich die gegen das Anwaltsteam gerichteten Drohungen, die in der Verhaftung des Hauptverteidigers gipfelten, geben Anlass zu ernster Sorge. Diese Entwicklungen erklären, warum eine französische Menschenrechtsorganisation den Fall auf einer Tagung der Vereinten Nationen über Menschenrechte als fabriziert bezeichnete. Es ist jedoch nicht die Absicht dieses Artikels, die Motive derjenigen zu untersuchen, die unkontrollierte Macht ausüben. Die eigentliche Frage ist, warum Angriffe auf die akademische Unabhängigkeit und intellektuelle Autonomie immer wieder vorkommen. Um die Geschichte von Oleg Maltsev zu verstehen, muss man sich zunächst von vertrauten Kategorien lösen.

Er gehört nicht zu den Akademiker*innen, die die Gesellschaft aus sicherer Entfernung beobachten. Als Soziologe, der sich mit kriminellem Verhalten befasst, begibt er sich in die gewalttätigsten Viertel Kapstadts und wird so mit der Realität des Verbrechens konfrontiert. In Italien wühlt Maltsev in Archiven, um die Geschichte der ’Ndrangheta, der mächtigsten Verbrecherorganisation, zu erforschen. Er ist nicht auf der Suche nach sauberen Theorien, sondern nach den nackten Wahrheiten, die unter den Schichten der Geschichte verborgen sind.

Auch seine psychologischen Forschungen gehen in eine ähnliche Richtung. Maltsev untersucht den Geist außerhalb des Labors. Er nutzt das Tontaubenschießen als Modell, um zu erforschen, wie der Geist funktioniert. Das Ergebnis ist ein Werk, das konventionelles Denken infrage stellt. Für seine Dissertation hat Maltsev Hunderte von Stunden damit verbracht, Kriegsüberlebenden zuzuhören. Sein Ziel war es nicht, saubere statistische Tabellen zu erstellen, sondern Muster zu erkennen, die in akademischen Fachzeitschriften möglicherweise übersehen werden. Für Maltsev sind Psychologie, Kriminologie, Philosophie, Soziologie sowie die subtile Dynamik des menschlichen Geistes und Gedächtnisses keine getrennten Gebiete. Sie sind miteinander verbundene Landschaften, durch die er sich nahtlos bewegt. Er fragt die Disziplinen nicht um Erlaubnis, sondern geht einfach hinein.

Wissenschaft, ein universelles Streben?

Maltsev arbeitet völlig außerhalb des institutionellen Rahmens. Er verkörpert die Ideale, die Institutionen angeblich schätzen: Originalität, furchtlose Erforschung und interdisziplinäre Innovation. Paradoxerweise sind dies jedoch genau die Eigenschaften, die von Institutionen am schwersten toleriert werden. Maltsevs ‚Verbrechen‘ besteht nicht darin, eine vermeintlich paramilitärische Gruppe zu bilden, sondern darin, frei und offen zu denken.

Die Wissenschaft wird oft als ein universelles Streben bezeichnet. Sie ist ein System, das auf Objektivität, offenen Untersuchungen und gemeinsamen Wahrheiten beruht. In der Praxis wird jedoch selten allein durch die Arbeit entschieden, was als ‚echte Wissenschaft‘ gilt. Vielmehr wird Legitimität durch Institutionen, Referenzen und geopolitische Ausrichtung verliehen. Legitimität verhält sich wie eine Währung. Sie fließt leichter zu denjenigen, die die richtige Sprache sprechen, die richtigen Referenzen vorweisen können und sich in den richtigen Kreisen bewegen. Andere bleiben außen vor, egal wie originell ihre Beiträge auch sein mögen.

Maltsev bewegt sich in dieser äußeren Zone. Er ist unabhängig, unkonventionell und hat seine eigene Plattform aufgebaut, die nicht auf staatliche oder universitäre Unterstützung angewiesen ist. In ruhigeren Zeiten mag man diese Autonomie bewundern. In unruhigen Zeiten wird sie jedoch problematisch. Im Fall Maltsev wurden mit Hilfe der Staatsanwaltschaft autonome Forschungsinstitute in Ausbildungszentren für Saboteur*innen umgewandelt und Wissenschaftler*innen, Archivar*innen und Übersetzer*innen als gefährliche Militante abgestempelt, die die Übernahme der Stadt planen. Das ist der Preis der akademischen Freiheit. Das ist die stille Realität der Wissenschaft am Rande der Gesellschaft.

Kein nationales Problem

Der Fall von Oleg Maltsev ist kein Einzelfall, sondern reiht sich in ein breiteres Muster ein. In der Geschichte gab es viele unabhängige Wissenschaftler*innen und Denker*innen, die von den Gesellschaften, denen sie dienen wollten, missverstanden wurden. Diese Menschen überschritten vertraute intellektuelle Grenzen, stellten bequeme Annahmen infrage und zahlten den Preis für ihre Freiheit. Zu denken ist hier an Schriftsteller und Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, die unter faschistischen oder autoritären Regimen in Italien (1922–1945), der Türkei (1920er–1930er Jahre), Griechenland (1936–1941 und 1967–1974), Deutschland (1933–1945) und Spanien (1939–1975) arbeiteten, ohne korrumpiert zu werden. Ihre Schriften lösten oft unbequeme Gespräche aus und provozierten Anfeindungen – nicht, weil sie falsch waren, sondern weil ihre Autor*innen es wagten, sich nicht anzupassen.

Dieses Muster wiederholt sich über Kontinente, Epochen und Disziplinen hinweg. Unabhängige Denker, die außerhalb oder am Rande offizieller Institutionen arbeiten, werden regelmäßig verdächtigt. Die Anschuldigungen variieren – Sektierertum, Pseudowissenschaft und politischer Umsturz –, aber der zugrunde liegende Grund bleibt derselbe: Gesellschaften reagieren auf unbekannte Ideen oft mit Angst und bevorzugen die beruhigende Stabilität der akzeptierten Weisheit.

Das Problem ist nicht national begrenzt. Es ist nicht auf Deutschland, Italien oder die Ukraine beschränkt. Es ist vielmehr ein soziales, politisches und letztlich menschliches Problem. Wenn neue Erkenntnisse von unerwarteter Seite kommen oder wenn Stimmen außerhalb des offiziellen Narrativs zu hören sind, sträuben wir uns. Wir suchen nach einem Weg, sie zu verwerfen, bevor wir sie verstehen. Oft wird der Wert einer Entdeckung nicht danach beurteilt, was sie zu bieten hat, sondern danach, ob sie mit der erwarteten institutionellen Struktur übereinstimmt. Institutionen bestehen trotz all ihrer erhabenen Strukturen und Regeln aus Menschen. Diese haben schon immer eine unbehagliche Angst vor dem Unkonventionellen in sich getragen und eine instinktive Vorsicht gegenüber denjenigen entwickelt, die etablierte Gewissheiten stören. Es ist menschlich, Trost in vertrauten Ideen, Gesichtern und Kategorien zu suchen. Wenn also jemand mit einer Meinung auftaucht, die nicht in das Ablagesystem passt, dann entscheidet nicht die Logik über sein Schicksal. Es ist die Angst.

Die Geschichte wiederholt sich nicht

Wir bringen das zum Schweigen, was wir nicht sofort verstehen, weil uns das Unverständnis unbehaglich macht. Indem wir unkonventionelle Ideen zum Schweigen bringen, schließen wir genau die Gespräche aus, die neue Wahrheiten, Lösungen und Wege zum Verständnis unserer Welt aufzeigen könnten. Wir reden uns ein, dass sich die Geschichte wiederholt. Als ob sie eine autonome Kraft wäre, die dazu verdammt ist, sich zu wiederholen. Aber die Geschichte wiederholt sich nicht. Es sind die Menschen. Immer wieder reagieren wir auf das, was uns verunsichert, mit Misstrauen. Wir verteidigen unsere Komfortzonen wie zerbrechliche Imperien. Wenn wir Zeugen der gleichen Dramen werden – wie die Isolierung von Denkern oder der Angriff auf nicht genehmigte Ideen –, dann beobachten wir nicht die Geschichte. Wir beobachten uns selbst.

Dieser Kreislauf von Verdächtigung und Verfolgung ist jedoch nicht unvermeidlich. Er ist kein Naturgesetz. Er setzt sich nur fort, weil wir ihn zulassen. Wir bevorzugen einfache Antworten auf schwierige Fragen und saubere Kategorien gegenüber unübersichtlichen Wahrheiten. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, müssen wir unsere Wahrnehmung ändern. Das bedeutet, dass wir Polytheoretiker*innen und unabhängige Denker*innen nicht als Bedrohung, sondern als Hüter der intellektuellen Evolution betrachten sollten. Ihre Fragen verunsichern uns, weil sie wertvoll sind, und ihre Erkenntnisse beunruhigen uns, weil sie uns zwingen, anders zu denken. Wenn wir wollen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, müssen wir etwas tun, das sie nicht kann. Wir werden uns ändern müssen.

Anmerkungen der Redaktion: Eine internationale Petition mit dem Titel „Demand Justice: Verdacht auf böswillige Strafverfolgung im Fall Dr. Maltsev“ wurde zur Unterstützung von Oleg Maltsev eingerichtet. Wenn Sie die Petition unterzeichnen, können Sie zum Kampf für akademische Freiheit und unabhängiges Denken beitragen.

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