Data Doubles: Wie Regierungen und Firmen mit unseren digitalen Doppelgängern umgehen

Die Spuren, die wir als NutzerInnen digital-vernetzter Werkzeuge hinterlassen, haben längst einen konkreten Einfluss auf unsere Leben – bekomme ich einen Kredit oder nicht? Kann ich wegen eines regierungskritischen Social-Media-Postings verhaftet werden? Die Existenz unserer “Data Doubles”, also die Gesamtheit unserer Datenspuren, führt zu vielen drängenden Fragen: Wie steht es um die Handlungsfähigkeit jener Subjekte, die hinter so einem Double stecken? Wie gehen Regierungen mit Data Doubles um und wie ist es um’s Individuum bestellt, wenn der Datenschatten, plötzlich so großen Einfluss hat? In ihrem zweiteiligen Essay begeben die beiden Technikforscherinnen Katrin M. Kämpf und Christina Rogers sich auf Spurensuche.

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Der britische Künstler James Bridle publizierte 2015 das Browser-Plug-in Citizen Ex, das dokumentiert, unter welche Jurisdiktionen unsere Data Doubles fallen, so- bald wir uns surfend im Netz bewegen. Ziel war es, Aufmerksamkeit auf eine neue Form von temporärer, flüchtiger und sich allein aus den Logiken transnationaler Konnektivität ergebender „Staatsbürger_innenschaft“ zu lenken, auf algorithmic citizenship. Diese gewährt zwar niemandem die Rechte einer klassischen Staatsbürger_innenschaft, kann aber beispielsweise in Belangen der Meinungsfreiheit, des Daten- oder Jugendschutzes gravierende Konsequenzen für Internetnutzer_innen haben.

Algorithmischen Zuordnungen widmeten sich bereits 2001 Aktivist_innen des NoBorder-Action-Camps in Straßburg. Das Verhältnis von Daten und Körpern bildete den Ansatzpunkt einer Intervention, die mit der Feststellung begann, dass Daten von Migrant_innen die EU-Grenze überschreiten und im Schengenraum zirkulieren können, während die Menschen selbst in Lagern und jenseits der EUropäischen Grenzen verharren müssen. Auf den Spuren von Lokalisationspunkten der Trennung von verkörpertem Subjekt und ihm zugeordneten Daten machte sich eine Kommunikationsguerillagruppe des Camps auf den Weg zum Rechenzentrum des Schengeninformationssystems (SIS II) und grub ein Netzwerkkabel aus, um sich mittels eines Laptops vermeintlich Daten des SIS II anzueignen und sie per Plug-in umzugestalten. Die Aktivist_innen machten es sich zur Aufgabe, über ein Kabel Zugang zu den ansonsten außerhalb ihres Zugriffs liegenden Data Doubles zu finden.

2011 nutzte der Wiener Aktivist Max Schrems die europäische Datenschutzgesetzgebung, um Facebook zur Herausgabe der über ihn gespeicherten Daten zu zwingen. Er erhielt eine CD mit über 1000 Seiten von Facebook gesammelter Information, die keineswegs nur von ihm selbst gepostete Selfies, Chats oder Daten über seine Facebook-Freund_innen enthielt, sondern eine Art Schattenprofil, längst Gelöschtes, Meta-Daten wie Locations, IP-Adressen und benutzte Computer etc. Seitdem bietet Facebook seinen Bewohner_innen standardmäßig eine Downloadfunktion für eine Kopie (einiger weniger) dort gespeicherter Daten an.

Data Doubles

Alle drei Beispiele adressieren das komplexe Verhältnis zwischen Menschen und ihren sog. „Data Doubles“, d. h. den Ansammlungen von – freiwillig wie unfreiwillig abgesonderten – Datenspuren, über welche die Bewohner_innen digitaler Technökologien längst die Kontrolle verloren haben und die teilweise ein intransparentes Eigenleben führen. Fingerabdruckscanner in Hotspots des Migrationsregimes und soziale Medien wie Facebook werden hier zu Interfaces oder Schnittstellen zwischen verkörperten Subjekten und Data Doubles.

Data Doubles können Visa und Aufenthaltsrecht, Kreditwürdigkeit und die Postings, Nachrichten oder Werbung, die wir in sozialen Medien zu sehen bekommen, beeinflussen. Sie fließen in Predictive-Policing-Software und die Kill-Listen der Drohnenkriege ein. Data Double und verkörpertes Subjekt werden zwar häufig als hybrid oder „cyborgisch“ diskutiert, der Tatsache jedoch, dass sie, wie besonders im Migrationsregime deutlich wird, in vielen Fällen als separierbar behandelt werden und sich durchaus als teilbar erwiesen haben, kommt relativ wenig Aufmerksamkeit zu.

Fragen der Teilbarkeit und der freiwillig-unfreiwilligen Teilhabe sind von Gilles Deleuze [https://www.nadir.org/nadir/archiv/netzkritik/postskriptum.html], Gerald Raunig [https://transversal.at/books/dividuum] oder Michaela Ott über den Begriff „Dividuum“ und jenen der Dividuation diskutiert worden.  Hier sind wir notwendig Geteilte, immer in Prozesse/n unterschiedlicher Teilhabe – imaginär, affektiv, physisch etc. – involviert und konstituiert. Ohne diese Verwobenheiten aus dem Blick zu verlieren, soll es hier um eben jene Einschnitte gehen, die das Verhältnis zwischen verkörpertem Subjekt und Data Double gestalten oder verfestigen. Dabei lenken wir die Aufmerksamkeit nicht nur auf Kategorien der Hybridität und Amalgamierung über Teilungen sondern auf die Agentia der Teilung selbst, die Schnitte oder Divisionen und ihre Implikationen in den sie umgebenden Kontexten. Schließlich wollen wir Möglichkeitshorizonte streifen, die diese vereinheitlichende Zerstückelung – verstanden als ein Anhaften von Regimen an unterschiedliche Schnitte – irritieren, ihnen zuwiderlaufen oder sie freilegen.

Fleisch-Technologie-Informations-Amalgame

Intersektionen von Körpern und Technologien werden in den feministischen Science & Technology Studies beispielsweise von Lucy Suchman oder Donna Haraway seit Längerem als cyborgisch, als Assemblagen und Resultate jeweils spezifischer Grenzziehungspraktiken verhandelt.

Diese Konzepte wurden in Theoretisierungen der „surveillant assemblage“ weitergeführt (Kevin D. Haggerty/Richard Ericson). Die Surveillant Assemblage abstrahiert menschliche Körper von ihren territorialen Umfeldern, verwandelt sie in Datenflüsse und setzt diese wiederum als „Data Doubles“ (wieder) zusammen. Sie macht aus Körpern Haraway’sche Cyborgs, „Flesh-Technology-Information-Amalgam[s]“ (Haggerty/Ericson).

Data Doubles fungieren hier als eine Art zusätzliches Selbst, das Einfluss auf den Zugang zu Ressourcen hat und Ziel von Marketing-Praktiken und gouvernementalen Regierungsweisen sein kann. Obwohl in den Doubles eine (vorgebliche) Referenz auf Individuen angelegt ist, überschreiten sie jedoch die Logik der Repräsentation und sind letztlich sowohl als Mechanismen sozialer Kategorisierung zu verstehen, als „social sorting“ (David Lyon), als auch als Aspekt kapitalistischer Wertschöpfung.

Der Begriff „Data Double“ hat seine Berechtigung und seine Tücken. Als Hilfskonstruktion verweist er auf Dividuationen, die mit der Abstraktion von Körpern in Datenflüsse einhergehen, und weist das Individuum als unteilbares Einzelding zurück: Wir sind immer mindestens zwei, physisch und digital, und damit dividuell. Während das Konzept des Data Doubles damit einen ersten Eintritt ins Denken des Dividuellen ermöglicht, fällt der Begriff des „Doubles“ allerdings mit all seinen Bezügen auf literarische Traditionen auf die begrenzte Assoziation mit einer Doppelgängerin zurück, die ein ebenso klar umrissenes Einzelding impliziert wie das ihr als Referenzpunkt zugeordnete Individuum.

In der Suche nach einem einzigen, eindeutigen, in sich abgeschlossenen Referenten, die der Begriff der Doppelgängerin hervorrufen kann, liegt also die Gefahr einer Irreführung. Gleichzeitig ist das Motiv der Doppelgängerin ein Ausdruck von Spaltungsfantasien, von Selbstspaltung oder Selbstzerteilung, die die Verwendung des Begriffs „Double“ wiederum rechtfertigen. Dividualität ist mit Raunig so eher als „Verteilung, spread, Streuung“ zu verstehen, die durch mannigfaltige Verkettungen und Durchquerungen konkreter Einzeldinge entsteht.

Algorithmische Gouvernementalität

Um Dividuationen im Zuge der Digitalisierung zu verstehen, gilt es, eine Referenz auf die algorithmischen Prozesse aufzubauen, die digitale Daten fortwährend rekonfigurieren. Ein Data Double entsteht somit nicht allein als Abstraktion eines verkörperten Subjekts, sondern in algorithmischen Prozessen, die das Digitale fortwährend zerschneiden, neu verbinden und rekombinieren. Ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt daher auch ganz unterschiedliche Versuche, diese digitalen Artefakte begrifflich zu fassen. Sie reichen von „Data Doubles“ und „identificatory body-bits“  (Joseph Pugliese) über „Datenschatten“  (Felix Stalder) bis hin zu „Datenspuren“  (Tyler Reigeluth) und „Datenflüssen“ und beschreiben Spaltungsartefakte in spezifischen digitalen Milieus.

Während der Begriff „Data Double“ geeignet ist, Phänomene auf Facebook zu beschreiben, die „body-bits“ Vorgänge der Biometrie konzeptualisieren, sind es eher „Datenspuren“, die etwa für Marketingzwecke ausgewertet werden und der Begriff „Datenfluss“ veranschaulicht die stetige Neukonfiguration von Daten, die etwa eine Adresse in einer Datenbank nicht zu beschreiben vermag. Es lohnt sich daher auch, je nach Milieu spezifische Begriffsarbeit zu leisten.

In digitalen Technökologien werden menschliche und nicht-menschliche Aktant_innen in Datenflüsse konvertiert und so – auf mannigfaltige Art und Weise – dem Prozessieren zugänglich gemacht. Das Data Double existiert daher als notwendig dividuell in Referenz auf die digitalen Operationen, die es mit weiteren Dividuen prozessieren. Nun ist es eine Eigenschaft heutiger Machtkonfigurationen, das Subjekt als Einheit anzurufen und auch als solches zu prozessieren und dabei die rekombinierten Daten als gebrauchsfähigen Zuschnitt, als Double, erscheinen zu lassen.

Der folgenreiche Schritt, der hier hervorgehoben werden soll, ist, dass auch Data Doubles als dividuelle Bedeutungseinheiten konfiguriert werden. Genau durch diese Bewegung, in der unendlich viele Datensätze durchkämmt und zerschnitten und dann wieder zusammengesetzt werden können, entsteht eine neue Möglichkeit des Regierens, die die französische Rechtswissenschaftlerin Antoinette Rouvroy als „algorithmische Gouvernementalität“ (algorithmic governmentality/gouvernementalité algorithmique) bezeichnet. Diese zielt nicht mehr auf konkrete Personen ab, sondern adressiert mittels Technologien wie Risikomanagement, Data Mining oder Big-Data-Anwendungen Möglichkeitsräume und mögliche Verhaltensweisen, infra-individuelle Daten und supra-individuelle Profile, also Data Doubles, Schatten, Flows etc.

Das Versprechen der absoluten Objektivität

Wie Rouvroy beschreibt, sieht sie keine Konfrontation mit Subjekten mehr vor, sondern zielt auf Profile und vermeintlich daraus ableitbare potenzielle Verhaltensweisen ab (d. h. potenzielles Verbrechen, Visa-Überziehen, Konsum etc.), kann aber konkrete Auswirkungen auf Subjekte bzw. Subjektivierungen haben.  Algorithmische Gouvernementalität ist also ein Versuch, antizipativ die Zukunft zu zähmen, indem die virtuelle Dimension dessen, was – unberechenbarerweise – hier und jetzt passiert, auf berechenbare Formeln oder Profile reduziert wird, anhand derer gehandelt werden soll.

Zwar konnten auch in prädigitalen Zeiten Papierstapel von einem Schreibtisch zum nächsten, Akten von Behörde zu Behörde verschoben und als Repräsentationen bestimmter Subjekte behandelt werden; die Eigendynamik der Data Doubles und Datenflüsse, die Unüberschaubarkeit der Datenmengen, die Verknüpfung von wissentlich und unwissentlich, willentlich und unwillentlich abgesonderter oder zugeschriebener Information sind aber Spezifika digitaler Technökologien und wären ohne Big Data oder die Verknüpfung verschiedener Datenbanken kaum möglich.

Rohdaten werden hierbei zu deterritorialisierten Signalen, die, im Unterschied zu älteren statistischen Logiken, nicht mehr Wissen über die Welt generieren und einer Interpretation bedürfen, sondern direkt von der digitalen Welt abgeleitet werden und absolute Objektivität versprechen. Das hier weniger generierte als entdeckte Wissen und die Mechanismen, die es in digitalen Umwelten erlauben, verkörpertes Subjekt und Data Double zu separieren oder als separierbar zu behandeln, gilt es genauer zu betrachten.

Anm. d. Red.: Der Text liegt in gedruckter Fassung in dem transversal-Band “Technoökologien” vor, der sich hier kostenfrei als PDF und EPUB herunterladen lässt. Der zweite Teil des Beitrags ist bereits in der Berliner Gazette erschienen. Das Foto oben im Text stammt von Mario Sixtus und steht unter CC-Lizenz.

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