Mein Hang zum Selbststudium geht auf meine Zeit in der Bismarckschule zurueck, einem UNESCO-Gymnasium in Hannover. Am von Hitler gebauten Maschsee gelegen, steht der Bau auch heute noch in unmittelbarer Nachbarschaft der Waldorfschule und direkt gegenueber der Tellkampfschule, wo die Kiffer eingecheckt hatten und jene, die immer wieder gerne protestierten – Giovanni di Lorenzo hatte dort Abitur gemacht. Unsere Lernumgebung war vergleichsweise konservativ.
Hier konnte man bei Walter Zuse, dem Sohn des legendaeren Computererfinders, Mathe-Unterricht nehmen, in der >nullten Stunde< Russisch als Wahlfach belegen und nachmittags in die PC-, Fussball-, Mofa-, Theater-, Astronomie-, oder Foto-AG gehen. Kurz, ein Rundumprogramm, in dem man aufgehen konnte. Bei mir klappte das lange Zeit. Irgendwann kam jedoch eine Wende. Mathe, Musik, Franzoesisch und Kunst packte mich nicht mehr. Sport wiederum musste ich abhaken – dieses langjaehrige Lieblingsfach konnte ich wegen einem Rueckenproblem nicht mehr so intensiv praktizieren. Dann bekamen wir in Geschichte eine Lehrerin, die tief unter Schulniveau unterrichtete und die nichts ausser meiner Widerstandshormone stimulierte. Blieben eigentlich nur noch Philosophie und Deutsch als ernstzunehmende Faecher. Und wie ich begann die ernst zu nehmen!
Mit 15, 16 hatte ich angefangen meine erste Privat-Bibliothek einzurichten. Ich versank in Hesse [was mir heute peinlich ist], verschlang Thomas Mann, verbrachte Zeit mit Kafka, Heidegger, Mahler, etc. und entdeckte schliesslich auch Adorno und Arno Schmidt. Es waren zwei intensive Jahre, in denen sich mir Welten erschlossen, die soweit ueber den Einzugsbereich der Pflichtlektuere hinauswiesen, dass ich in der Schule den Anschluss verlor.
Bildung wurde spaetestens dann zur absoluten Privatsache, als ich auch einen ausserschulischen Freundeskreis zu kultivieren begann. Berlin-Besuche taten ihr Uebriges. Ich ging bald nicht mehr regelmaessig zur Schule und es dauerte nicht lange, bis ich mich selbststaendig machte. Danach wurde ich nie wieder so richtig heimisch im Bildungssystem, abgesehen von Gastvortraegen, die ich immer wieder gerne [auch] an Hochschulen halte. Doch meine intellektuelle Leidenschaft war fuer immer geweckt worden – das wichtigste Ergebnis meiner Schulzeit.
Bildung hat schon eine andere Qualitaet, wenn man sie sich aus eigenem Antrieb im muehsamen Selbststudium aneignet. Bis heute erschliesse ich mir in immer neuen Phasen des autodidaktischen Lernens neue Horizonte. Gegenwaertig erscheint mir diese Faehigkeit besonders wertvoll, da die Welt mit den kursierenden Ordnungssystemen des Wissensbetriebs immer unzureichender erklaert werden kann. Gar nicht so abwegig, dass DIY-Werkzeuge da weiterhelfen, oder?
Wenn ich an die Schulzeit in der von Krystian erwaehnten Bismarckschule zurueckdenke, schwingt manchmal ein leichtes Bedauern mit, das beschriebene Rundumprogramm nicht genug wahrgenommen zu haben. Wie leicht haette ich damals “nebenbei” noch Spanisch als dritte Fremdsprache lernen koennen, anstatt es mir spaeter abends nach einem Fulltime-Job mit Ueberstunden beizubringen. Und warum habe ich nicht an so interessanten AGs wie ‘Foto’ oder ‘Theater’, die erfrischend weit vom klassischen Schulkanon entfernt waren, teilgenommen? Es ist mir heute schleierhaft, aber Freizeiaktivitaeten wie diverse Sportarten in verschiedenen Vereinen und der Freundeskreis fuellten damals meine zweite Tageshaelfte anscheinend komplett aus. Seitdem habe ich mir diverse Themengebiete inner- und ausserhalb des Schulkanons ebenfalls im Selbststudium erschlossen und halte meiner Schulzeit zu Gute, die entsprechenden Grundlagen zur Befaehigung dazu gelegt zu haben. Die Forderung Giovanni di Lorenzos, eine Schule muesse fordernd sein, halte ich fuer grundlegend wichtig, denn schliesslich ist das staendig zitierte “lebenslange Lernen” groesstenteils nichts Anderes als ein weitergefuehrtes Selbststudium mit dem in Schule und Studium erlernten als Ausgangsbasis. Damit will ich zwar nicht sagen, dass aus denjenigen, die zu lange bei den Kiffern von der anderen Strassenseite gechillt haben, nichts werden kann, da ich persoenlich Gegenbeispiele kenne, aber fuer mich war ein anderer Weg der bessere. Das beschriebene Gefuehl, “heute wuerde ich die Schule ganz anders nutzen”, bleibt; dafuer ist aus mir ebenfalls ein umso eifrigerer lebenslanger Selbsstudent geworden.
Da das DIY-Studium offenbar auch für Dich eine fraglos wichtige Methode ist, leitet sich für mich nicht zuletzt diese Frage aus den Überlegungen ab: Was kann man vom Modell des Selbststudiums lernen? Was kann das Bildungssystem daraus lernen? Was kann eine Gesellschaft davon lernen, in die zunehmende Polarisierung [und damit Ungleichheit] immer staerker auch entweder im Bildungssektor selbst oder im Bildungsdiskurs manifest wird? Es geht ja in unserer Gesellschaft in letzter Zeit nicht zuletzt immer auch darum, Ausschluesse ueber Bildungsfragen/kriterien zu generieren. Es geht auch immer wieder darum, Wissen zu definieren, und damit den Schluessel zur Teilhabe an Wohlstand, etc.