
Ein kommunal-sozialistisches Projekt veränderte Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend und schuf die Blaupause für eine Stadt die das Gemeinwohl an erste Stelle setzt: einen Ort, an dem Arbeiter*innen ihre urbane Umgebung nach ihren Bedürfnissen aufbauen und gestalten und die Infrastruktur für eine nachhaltige soziale Reproduktion schaffen. In ihrem Artikel für die „Kin City“-Reihe zeichnet Nina Pohler die Utopie des Roten Wien nach und fragt, was daraus geworden ist und was in Zeiten der Klimakrise durch zukünftige Kämpfe daraus werden könnte.
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Ich erinnere mich, wie meine Schwester und ich als kleine Kinder im Garten meiner Großmutter unter einem blauen, sonnigen Himmel spielten. Der Garten war ein relativ kleiner Grünstreifen, der zu einem eher bescheidenen Reihenhaus im 22. Wiener Gemeindebezirk gehörte. Um dieses Haus herum standen 1.014 andere Häuser, von denen die meisten fast gleich aussahen. Das sind keine gewöhnlichen Häuser, pflegte meine Großmutter mit einem stolzen Lächeln zu sagen. Alle Häuser um uns herum waren von den Arbeiter*innen gebaut worden, die sie ursprünglich bewohnt hatten.
Die Subsistenzsiedler*innenbewegung im Roten Wien
Die Freihofsiedlung war eines der ambitionierten Wohnbauprojekte des frühen Roten Wien. Als Rotes Wien wird gemeinhin die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem österreichischen Faschismus bezeichnet, also die Periode von 1919 bis 1934, in der die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs (SDAP) die Stadt regierte.
Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in Wien akuter Wohnungs- und Lebensmittelmangel, und die Menschen begannen, sich einfach Land zu nehmen, wo immer sie konnten. Sie bauten Unterkünfte, bestellten Land, pflanzten Gemüse und Obst an und hielten kleine Nutztiere. Diese informellen Siedlungen lagen meist am Stadtrand, im Wienerwald und in den Donauauen. Als die Sozialdemokraten an die Macht kamen, war der Wohnungsbau eine der größten Herausforderungen. Die Stadt Wien versuchte, die wilden Siedlungen zu formalisieren und zu regulieren. Die Stadt kaufte besetzte Grundstücke auf oder vergab sie neu, und ein neu eingerichtetes Stadtbauamt half bei der Planung und Organisation neuer Siedlungen. Wien stellte auch finanzielle Mittel und Baumaterialien für die neu gegründeten Siedlergenossenschaften zur Verfügung. Es muss für alle Beteiligten eine aufregende und hoffnungsvolle Zeit gewesen sein. Margarete Schütte-Lihotzky, berühmt für ihre Frankfurter Küche, und Adolf Loos zählten zu den Architekt*innen, die die Wohnungen der Siedlung entwarfen. Der Österreichische Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen, der die Aufgabe hatte, die Interessen der Siedler*innen zu vertreten, wurde von Otto Neurath gegründet.
Der Bau der Freihofsiedlung, in der meine Großmutter aufwuchs, begann 1923. Die ersten 99 Häuser wurden direkt von der Stadt Wien für die Arbeiter*innen der Wiener Elektrizitäts- und Gasgesellschaft errichtet. Danach unterstützte die Stadt zwei Genossenschaften beim Bau weiterer Häuser, alles Reihenhäuser mit einem Garten zum Anbau von Lebensmitteln, ganz nach dem Ideal der Siedler*innenbewegung. Wien finanzierte 85 % der Kosten für jedes Haus, und die Arbeiter*innen, die in eines der Häuser einziehen wollten, konnten entweder die restlichen 15 % bezahlen oder ihre eigene Arbeitskraft einbringen. Im Durchschnitt verbrachten die Arbeiter*innen 1.600 Stunden mit dem Bau ihrer Häuser. Bis zu 89 Prozent der Bauarbeiten in der Freihofsiedlung wurden von den ursprünglichen Bewohner*innen durchgeführt, wie Romana Pötter im Sammelband „Das Rote Wien 1919-1934“ (2019) erläutert.
Die Wohnbausteuer und die Errichtung von Großsiedlungen
1922 wurde Wien ein eigenständiger Staat und mit ihm kam eine neue Steuerhoheit. Im Jahr 1923 führte die Stadt die Wohnbausteuer ein, eine progressive Steuer auf Mietwohnungen, so dass Besitzer*innen kleiner Wohnungen 360 Goldkronen zahlten, während die Steuer für eine Luxuswohnung zwischen 50.000 und 100.000 Goldkronen lag. Die Wohnbausteuer wurde ausschließlich für den städtischen Wohnungsneubau verwendet. Mit diesen neuen Mitteln zur Finanzierung des Wohnungsbaus plante die Stadt den Bau von 25.000 Wohnungen. Bis 1933 übertraf die Stadt Wien diese ursprünglichen Pläne bei weitem und es wurden 63.934 Wohnungen für fast 250.000 Menschen gebaut, die ausschließlich aus der Wohnbausteuer finanziert wurden.
Die Reihenhaussiedlung, in der meine Großmutter aufwuchs, war zu diesem Zeitpunkt schon eine Ausnahme im Wiener sozialen Wohnbau. Das Rote Wien ist berühmt für Bauten wie den Karl-Marx-Hof, einen monumentalen sozialen Wohnbau mit 1.382 Wohnungen. Der Karl-Marx-Hof bot nicht nur Wohnraum, sondern auch gemeinschaftliche soziale Infrastruktur wie Gemeinschaftsgärten, einen Waschsalon, Kindergärten, eine Bibliothek, eine Zahnklinik und ein Mütterzentrum. Im Jahr 1921 waren mehr als 50% der Neubauten Siedlungshäuser, 1925 waren es nur noch 4%. Ab 1923 konzentrierte sich der Großteil der Neubauten auf den Bau von Superblocks. Diese riesigen Gebäude wurden von Arbeiter*innen gebaut, aber es waren nicht mehr dieselben Arbeiter*innen, die darin wohnten.
Zwei konkurrierende Modelle: Gartenstadt oder Großsiedlung?
Zu Beginn des Roten Wien gab es zwei konkurrierende Modelle zur Lösung der Wohnungsnot. Die Siedlungsbewegung setzte auf genossenschaftliches Bauen von unten mit (einer gewissen) Autonomie bei der Gestaltung und Nutzung der Wohnungen. Die Stadt Wien entschied sich schließlich für ein Modell von oben, große Gebäude für möglichst viele Menschen mit integrierter sozialer Infrastruktur, die den privaten Wohnraum zu einem kollektiven Stadtraum erweiterten. Die Entscheidung, sich auf den Bau größerer Bauten für mehr Menschen zu konzentrieren, mag für einige Mitglieder des Stadtrats eine ideologische Präferenz gewesen sein, aber die Hauptgründe waren pragmatischer Natur. Die Stadt Wien musste so viele Menschen wie möglich so schnell wie möglich unterbringen.
Noch heute profitiert Wien vom Erbe des Roten Wiens. 60 % der Wienerinnen und Wiener leben in kommunalen oder geförderten Wohnungen. Die Mieten sind zu hoch und der Wohnraum knapp, aber für eine europäische Hauptstadt steht Wien immer noch besser da als die meisten anderen.
Der Massenwohnbau in Wien hatte und hat seine Nachteile. Ich denke, der größte Nachteil ist, dass die Bewohner*innen wenig Einfluss auf den Bau, die Gestaltung und die Nutzung der Räume haben, in denen sie leben. Historisch gesehen war der großvolumige Wohnbau mit einer Planung von oben nach unten verbunden. Das Phänomen der genossenschaftlichen Wohngruppen, die über die Stadt Wien an Stadterweiterungsprojekten beteiligt sind, zeigt jedoch, dass es möglich ist, Wege für die Planung und den Bau von Großwohnsiedlungen zu entwickeln, die den zukünftigen Bewohner*innen mehr Mitsprache, Handlungsmöglichkeiten und Autonomie einräumen.
Städte und CO2-Emissionen
So sehr ich als Kind den Garten meiner Großmutter geliebt habe, so unbehaglich fühle ich mich als Erwachsene, wenn ich in den Wienerwald fahre und das Erbe der Siedler*innenbewegung sehe: Am Rande des Waldes gibt es Hügel, die voller kleiner Häuser statt Bäumen sind. Einige der Häuser haben ihre ursprüngliche Größe aus der Zeit der Siedler*innenbewegung behalten, aber es gibt auch größere, neu gebaute oder angepasste Häuser. Jede Kernfamilie hat ihr eigenes Haus mit Garten, Garage und oft auch einen Swimmingpool. Wenn ich das Erbe der Siedler*innenbewegung der 1920er Jahre betrachte, sehe ich nicht die verwirklichten Träume des sozialistischen Genossenschaftswohnbaus, sondern die Zersiedelung der Landschaft.
Wien hat, wie die meisten Städte, drastisch niedrigere CO2-Emissionen pro Kopf als das Umland, Wien hat sogar niedrigere CO2-Emissionen pro Kopf als der Rest Österreichs. Hätte die Stadt Wien in den 1920er Jahren vorwiegend Reihenhäuser gebaut, wäre Wien eine riesige Gartenstadt, wären die Emissionen viel höher. Städte wie Wien haben deutlich niedrigere CO2-Emissionen pro Kopf als ihr Umland, vor allem wegen ihrer Dichte, die weniger Flächenverbrauch und Heizenergie bedeutet, und weil sie kürzere Wege und bessere öffentliche Verkehrsmittel haben. Städte sind für 70 % der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich, aber nicht weil sie von Natur aus mehr Emissionen verursachen als das Umland, sondern weil mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebt.
Das bleibende Erbe von Investitionen in die Energieinfrastruktur
Bei den Investitionen des Roten Wien ging es jedoch nicht nur um den Bau von Wohnungen, sondern um einen ganzheitlichen Ansatz für das städtische Leben. Die Stadt Wien war für alle Aspekte der sozialen Infrastruktur zuständig und entwickelte diese kontinuierlich weiter. Zu den (noch) kommunalen Infrastrukturanbieter*innen gehörten der öffentliche Nahverkehr, die Abfallwirtschaft, das Bestattungswesen, Wasser, Strom und Gas.
Direkt gegenüber dem Gebäude, in dem ich im 11. Wiener Gemeindebezirk arbeite, sehe ich vier riesige runde Backsteinbauten aus dem späten 19. Jahrhundert, die Gasometer. Diese Gebäude waren einmal Speicher für die Gaswerke der Stadt. Heute beherbergen sie ein Einkaufszentrum sowie Genossenschafts- und Privatwohnungen.
In den 1920er Jahren waren sowohl die Strom- als auch die Gasversorgung im Besitz der Stadt, und als die Stadt mit ihren umfangreichen Wohnungsbauprojekten begann, sorgte sie dafür, dass alle Gebäude sowohl über einen Strom- als auch über einen Gasanschluss verfügten. Das war damals eine enorme Verbesserung, denn vor dem Ersten Weltkrieg gab es in den Arbeiter*innenwohnungen keine Infrastruktur für Strom oder Gas, und Kohle war die Hauptenergiequelle. Da das Gas in kommunaler Hand war, war es im Vergleich zu anderen Städten auch billig. Daher werden die meisten Heizungen und Herde in Wien noch heute mit Gas betrieben.
Die ehrgeizigen, vorausschauenden und massiven kommunalen Investitionen in die Gasinfrastruktur der 1920er Jahre sehen aus der Perspektive der 2020er Jahre ganz anders aus. Bis 2040 müssen in Wien rund 580.000 Gasheizungen ausgetauscht werden.
Verlorene Utopie
Die Stadt Wien (noch mit den Sozialdemokrat*innen in der Regierung, wenn auch seit 2005 in einer Koalition) hat natürlich eine Klimapolitik. Doch obwohl es Ansätze gibt, auf die Klimakrise zu reagieren, habe ich nie den enormen Willen und Ehrgeiz erlebt, die Stadt für eine bessere Zukunft umzugestalten, der in Wien in den 1920er und frühen 1930er Jahren existiert haben muss.
Letztes Jahr feierte die Stadt Wien ein Projekt, bei dem in 277 städtischen Wohnungen Gasheizungen durch Erdwärmeheizungen ersetzt wurden. Das sind lediglich 277 von 220.000 städtischen Wohnungen! Als das Projekt angekündigt wurde, sprach die Stadträtin für Wohnen von einem „historischen Tag für den kommunalen Wohnungsbau“. Die sehr bescheidenen Ambitionen der heutigen Wiener Regierung haben wahrscheinlich mehrere komplexe und deprimierende Gründe, die ich nicht komplett nachvollziehen kann. Der Mangel an Integrität und Ehrgeiz der Politiker ist sicher ein Teil der Erklärung. Aber da ist auch die Tatsache, dass die Unterstützung für progressive Politik in den 1920er Jahren eine ganz andere war als in den 2020er Jahren. Die ersten Wahlen in Wien fanden 1919 statt, kurz nachdem eine riesige sozialistische Antikriegsbewegung im Januar 1918 zu einem Streik von etwa einer Million Arbeiter*innen in ganz Österreich-Ungarn geführt hatte. Als die Sozialdemokraten die Wahlen in Wien gewannen, stand Österreich am Rande einer sozialistischen Revolution, die jedoch nie stattfand.
Diese Periode dauerte nicht lange und wurde bald vom österreichischen Faschismus und dann von Nazi-Deutschland abgelöst. Die Sozialdemokrat*innen hatten nur für einige Jahre die Unterstützung der Mehrheit der Wiener Bevölkerung. Diese kurze Zeit progressiver politischer Macht war jedoch ausreichend für radikale Transformation der Stadt, die bis heute die Lebensqualität ihrer Bewohner:innen verbessert.
Das Rote Wien, die Vergangenheit der Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, ist eine sehr konkrete Erinnerung daran, dass große transformative Veränderungen auf städtischer Ebene möglich sind, die das Leben von Hunderttausenden von Menschen verbessern. Es ist auch eine Erinnerung daran, dass Veränderungen nur möglich sind, wenn wir Druck von unten aufbauen.