Christoph Schlingensief war einer der wichtigsten Künstler Deutschlands. Die Philosophin und Berliner Gazette-Autorin Yana Milev widmet sich dem Kämpfer, dem Demolierer und dem Neuschreiber, der Schlingensief in Personalunion war. Ein Essay.
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Einbruch der Kunde vom Tod Christoph Schlingensiefs – Einbruch der Plötzlichkeit! Wir haben an seinen Überlebenskampf geglaubt. Das war der “Zwischenstand der Dinge”. Es kam anders. Es wurde still. Die gefürchtete Flutwelle, bis auf Weiteres ins imaginäre Hinterland zurückgedrängt, brach ein und zerbrach das Gefäß in Stücke.
“Aber dann ist mir gestern eingefallen, nein, es ist … die Kunst, wenn es die nicht gäbe, ich würde sie so derartig vermissen. Ich bin so glücklich, dass ich das machen kann und dass ich das sein darf. Weil es hilft mir beim Sterben, jeden Tag. Und ich mein, ich fürcht ehrlich gesagt nicht davor zu sterben, echt nicht. Es ist eher so diese Angst, diese Angst vor dem Prozess und vor diesem Freiheitsentzug wahrscheinlich, ja!?”
Wenn die Katastrophe vorüber ist, atmen alle auf und schlagen sich den Staub ab und sagen erleichtert: Wir haben dich geliebt! Aber es ist weitaus essentieller, denn sie wurde gebraucht, die Katastrophe.
Ersehnt wurde sie, heimlich erbettelt und wetteifernd herausgefordert. Und niemals war der Optimismus größer, als vor der Katastrophe! Denn, was wären wir ohne Umsturz? Ohne umstürzlerische Liebe, wie Blixa Bargeld einst sang, bevor er zum saturierten Golden State’ler avancierte? Ohne die Herausforderung an das gesteigerte Leben? Deshalb: Wir haben dich geliebt! Du Emergency!
Mit der Kettensäge gegen die Patina
Einen Schlingensief, der zeitlebens die Theodizee verwarf und gleichzeitig versuchte neu zu schreiben; einen Schlingensief der das “Graben unter den Füssen seit Nietzsche” radikal fortsetzte; einen Schlingensief, der daran zu verzweifeln drohte, dass keines der künstlerischen Medien von einer Vereinnahmung und Verwertung verschont blieb.
Einen Schlingensief, der das Medium dreht und wendete und wieder verdrehte und dem blasphemischen Geschrei doch nicht entkam (nicht auf diese Weise); einer der die Kettensäge anlegte, um dem eitlen Lack und dem politischen Popanz ein Glatze zu scheren, sich zu enthemmen, auch ohne autoritären Zuspruch von sonst wem draufloszuschwingen.
Der Akt Schlingensief, in allen Shows hervorragend und unübertroffen inszeniert, war der Versuch mit allen Mitteln, eine neudeutsche Patina zu zerfetzen. Eine Patina der Kriegsüberlebenden und Kriegstäter, nach dessen Ende unversehens in Deutschland als Wirtschaftswunder hochgezogen. Eine reaktionäre Patina, in der das Skandieren von “Ausländer raus”, “Schafft das Fremde ab”, “Lasst es euch gut gehen”, “Esst deutsche Bananen”, “Tut Buße”, “Fahrt Volkswagen”, “Singt Heino-Lieder”, “Schaut den Musikantenstadl” usw. widerhallt.
Keine Lügen mehr
Hier begann Schlingensiefs Kampfansage: gegen die Kriegslüge, die Nazilüge, die Lüge der Xenophobie, die Industriellenlüge, die Ingenieurslüge, gegen die Kapitalistenlüge, die Propagandalüge, die Deutschblutlüge, die Gewaltlüge und die Kolonialismuslüge der “Wende” – gegen die deutschen wohlfeilen Ressentiments, verpackt in einer großen Angst-Lüge, die ganz persönlich, als “Angst vor dem Fremden in mir” zur Audienz gebeten wird.
Gegen die Immunsysteme und Ketzerstimmen der Angstmenschen hat Schlingensief gewonnen! Das bestätigt schon im Juni 2000 Peter Sloterdijk, als er ihn, anlässlich seiner Aktion vor der Wiener Oper, als erfolgreichen Theatervirus bezeichnete.
Das umstürzlerische Schreiten von Beuys, oder Brinkmann, oder Kippenberger – es hinterlässt auch immer Opfer, während es gleichzeitig heilt. Als Katharsis wurde bei Aristoteles in der Poetik, der Vorgang der emotionalen Entfaltung bezeichnet. Auch Nietzsche stellte die kathartische Entladung in den Dienst des gesteigerten Lebens.
In diesem Sinne ist Christoph Schlingensiefs unaufhaltsame Hervorbringung eine kathartische Entladung im Dienst des gesteigerten Lebens, für ihn und vor allem für sein Publikum, ein Emergency Design, das von der inneren Not und der äußeren Notwenigkeit es tun zeugt. Deswegen: Wir haben dich geliebt! Du Emergency! Die Horizonteinrisse, die Perspektivenwechsel, die plötzlichen Einblicke, die seltenen Aussichten!
“Immer schön affirmativ”
Niemals war der Optimismus größer, als vor der Katastrophe. Voltaire verfasst “Candide oder der Optimismus” nach dem Erdebeben von Lisabon. Candide ist ein negatives Märchen, das die Unverbesserlichkeit des Menschen zum Thema hat. So war denn auch Schlingensiefs Opernmarathon – ein negatives Märchen: runter mit den Masken!, beißt den Tod in den Arsch!, verflucht sei der Optimismus!, es lebe der Optimismus!
Oder in den Worten Bazon Brocks: “Der Tod muss abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter.” In den Worten Schlingensiefs: “Vielleicht ist Gott doch ein gescheiterter Künstler. Sein Werk ist unvollkommen, er gammelt vor sich hin. Gott hat aufgegeben. Er will nicht mehr korrigieren.” Dem gescheiterten Gott kommt der Künstler Schlingensief zu Hilfe. Gott wird zu seinem Publikumsorgan und der Krebs zu seinem Kunstbesitz, denn der Tod ist eine größere Katastrophe, als beide zusammen, Gott und Krebs.
“Man muss die Sachen benutzen, so lange benutzen bis sie kaputt sind. Und das immer schön affirmativ.” Schlingensief hat sie demoliert: die Patina deutscher Herrschaftsmythen von Olympia, Brunhilde, Adolf, Leni bis hin zu Winifred und schließlich Wolfgang Wagner und die deutschen Heilsmythen von Deutsch-Südwestafrika bis Sowjetisch-Ostdeutschland.
Schlingensief ist ein deutscher Künstler, ein Junge aus Nordrhein-Westfalen, aus Oberhausen, dem Ruhrgebiet, der Brutstätte des Neuen Deutschen Films, dem ersten Nachkriegs-Migrations-Pott und der Nachkriegs-Kunstmetropolen. Deutschland-Trilogie, Geschichts- und Gesellschaftsdiagnose im Film vor und nach der Wende und Deutschland- Mythologie, Geschichts- und Gesellschaftsdiagnose auf der Oper, vor und nach der Krebsdiagnose.
Zwischen den Hügeln
Er bespiegelte, obduzierte und transformierte die deutsche Problematik bis hin zum “grünen Hügel” in Bayreuth, der ihm den Krebs brachte, wie er selbst sagte und bis hin zum “roten Hügel” in Burkina Faso, der seine Hoffnung auf ein neues Leben entfachte. Den Imperativ “Doing Culture! Doing Difference! Doing Design Politics!” hat Schlingensief höchst persönlich erfunden, verbreitet und spezifisch gegen eine Avantgardisierung, gegen eine Aufweichung im Kunstbetrieb, gegen eine Entradikalisierung des Widerstands eingesetzt.
Wo es nur noch um globale Biennalisierung, kommerzialisierte Multimedia, amerikanisiertes Massenmedieninferno und Multikultisprachmutationen geht, sind wir dankbar, eine deutsche Stimme zu hören – eine differenzierte Stimme, die privat und öffentlich spezifische 75 Minuten lang Fäuste auf die Leinwand hagelt: “In der Dunkelheit fühle ich mich wie im Kino und blicke auf die Leinwand in mir.”
Auf seinem letzten Rezept, ausgestellt in der Herz-Jesu Kirche, der Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, verschreibt uns Schlingensief, der Apothekersohn, folgende Anthropotechniken: 1. Katharsis, Reinigung, 2. Tiqqun, Reparatur, 3. Metanoia, Umkehr, 4. Autonomie, “lasst Euch nichts einreden, von Niemandem!”, 5. Fluxus, runter von den Marmorklippen, denn es gibt keinen Unterschied zwischen Leben und Kunst, Gott und Gehirn! und 6. Afrika, Zukunft!
Er hinterlässt ein Echtzeitoratorium des Tabubruchs und der Lebenssehnsucht. Gottes Scheitern als Chance. Ein memento mori, als Ort der Erinnerung und Einübung, als Requiem der Überlebenskunst, als Emergency Design!
Anm.d.Red.: Die Fotos im Text stammen von Neil B, James DiBianco, Tord Sollie und Vern. Sie stehen unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 2.0.
das ist pures romantisieren. der neureligiöse schlingensiefkult ist sehr anstrengend.
Wer “yabyum” heisst, ein sehr aussagekräftiger Name, hat als solcher und ansonsten ganz bestimmt viel zu sagen. Der Kommentar ist jedenfalls in seiner Vielschichtigkeit nicht zu übertreffen – und vor allem eine sehr angemessene Antwort auf die Vielschichtigkeit des Textes. Vielen Dank für die wunderbare Lektüre.