Auf meinem Gymnasium in einer österreichischen Provinzstadt hatte ich einen Lehrer, der das Notensystem offensiv problematisierte. Und zwar nicht erst nach dem Abitur oder außerhalb der Schulstunden, sondern im Unterricht. Er konfrontierte SchülerInnen beispielsweise mit der Feststellung, dass er nicht wisse, ob man in “Form” für einen Aufsatz eine andere Note bekommen beziehungsweise geben kann als in “Inhalt”.
Während meines Studiums an verschiedenen – damals noch west-deutschen – Unis war für mich jener Hochschullehrer der wichtigste, der bei den Alles-gelesen-oder-zumindest-zur-Kenntnis-genommen-Olympiaden grundsätzlich nicht mitmachte, sondern immer gleich sagte, wenn er etwas nicht kannte. Zudem erklärte er gerne, was er warum gar nicht kennen lernen wollte. Dabei vertrat er weder eine Lehre, noch (s)ein Fach. Vielmehr fing er gewissermaßen immer wieder von vorne an mit den Fragen, die ihn interessierten, und neue durften auch dazukommen.
Falsche Fragen und Unwissen
Nach ein paar Jahren an der Universität war mir schauderhaft deutlich geworden, dass eine solche Haltung absurderweise alles andere als selbstverständlich ist. Die von den meisten Dozenten und Studierenden geteilte (Selbst-)Disziplinierung ging dahin, dass man mit der Magisterarbeit ein Spezialgebiet gefunden haben musste.
Man sollte die auf diesem Gebiet üblichen Fragen stellen und, wenn möglich, mit der Magisterarbeit eine so exotische Forschungslücke im bestehenden Kanon finden, dass man die dann auch noch mit der Dissertation füllen konnte: also die schon von Nietzsche beschriebene akademische Erbsenzählerei. Sie war Lichtjahre entfernt von den Fragen, die ich wirklich beantwortet haben wollte; oder die ich mich wenigstens zu stellen trauen wollte.
Als ich begann, selbst an verschiedenen Universitäten Philosophie zu unterrichten, habe ich in den Niederlanden von einem Menschen am meisten gelernt, der aus einer anderen Zeit übrig geblieben war; der eigentlich gar nicht Universitätsdozent hätte sein dürfen, weil er nicht promoviert war. Er war darauf nur manchmal stolz. Viel öfter hat er diese Tatsache als einen Mangel und als Grund von Scham thematisiert.
Beim gemeinsamen Unterrichten (das in Bolognaland bekanntlich co-teaching heißt und meist umständlich beantragt und mit Mehrarbeit bezahlt werden muss, weil man unterstellt, dass Lehrende auf diese Weise der teaching load entkommen wollen) habe ich von diesem Kollegen etwas geradezu Paradoxes gelernt: nämlich dass es so etwas wie Autorität in der Symmetrie zwischen Studierenden und Lehrenden geben kann.
Wie kein anderer hat dieser Kollege Zeit und Energie aufgewendet, um Unterrichtsinhalte auf eine demokratische, d.h. allen Interessierten verständliche Weise zu präsentieren. Und er hat Lehrinhalte so vermittelt, dass sie sich als Resultat gemeinsamer Diskussionen entwickelten. Die universitären Bürokratien hat er schon deswegen auf das Wunderbarste durcheinander gebracht, weil er ein begehrter Dissertationsbetreuer war. Niemand (außer vielleicht Sokrates) hat so viel Unwissen immer zugegeben wie er und war doch zugleich eine Autorität.
Virtuelle Lehrer
Ich weiß bis heute nicht, ob die genannten Lehrer mich auch als Theoretiker am meisten überzeugten, weil sie Institutionskritiker waren oder ob sie derart gute Wissenschaftler wurden, weil sie auch Institutionskritiker waren. So hätte ich es natürlich gerne, denn das würde heißen (wenn nicht gar beweisen), dass Institutionskritik und -reflexion die Bedingungen für wissenschaftliche Exzellenz sind. Bekanntlich wird diese Exzellenz mit anderen Maßstäben gemessen.
Beim Nachdenken über die vielen Lehrer, die mich weniger oder negativ geprägt haben, fällt mir auf, dass ich sie größtenteils vergessen habe. Offenbar waren sie nicht wirklich prägend. Es war also nicht so, wie oft vermutet wird und wie ein bestimmter Hegelianismus es nahelegt, dass man nämlich gerade an den äußerst negativen Erfahrungen wächst: an der Abarbeitung an irgendwelchen Über-Vätern.
Wenn ich mich nicht täusche, aber Selbsttäuschungen sind gerade in Bezug auf eigene Biographiekonstruktionen wohl kaum auszuschließen, sind die negativen Figuren genauso verblasst wie die immer schon blassen Figuren. Auch wenn sie im schulischen und studentischen Alltag besonders ärgerlich bis autoritär waren und einem viel zu viel Energie geklaut haben.
Das bringt mich auf den Gedanken, dass die Auffassung, man müsse sich beim Lernen unter Leid an Überwältigendem abarbeiten, eine Männerphantasie sein könnte; jene Phantasie, wonach zum Erwachsenwerden gehört, dass erst mal erniedrigt und geschlagen wird (wie in so genannten studentischen Verbindungen immer noch gern gepflegt). Meine Erfahrung ist: Man kann auch aufstehen, ohne vorher zusammengeschlagen worden zu sein.
Abwesende Rollenmodelle
Natürlich hatte ich auch virtuelle Lehrer, die in der Form von Texten zum Glück ganz real vor einem liegen können: Adorno; Wittgenstein; Bourdieu; Foucault; der junge, sich von Althusser emanzipierende Rancière. Sie haben mit meinen realeren Lehrern gemeinsam, dass meine Faszination oder Identifikation immer dort endete, wo ich mir nicht vorstellen konnte, das Leben eines dieser Männer zu führen. “Ich möchte so eine sein wie” war in Bezug auf alle Genannten nie eine Option.
Weibliche role models haben mir mmer fürchterlich gefehlt – in der Schule und noch viel mehr in dem Fach, das mir spätestens im Studium das zentrale geworden ist: in der Philosophie. Ich habe zwar immer wieder Lehrer gehabt, an denen ich mich orientieren konnte, wenn es um Möglichkeiten – oder vielmehr Notwendigkeiten – ging, auf eine reflexive und institutionskritische Weise Philosoph zu sein. Aber ich wollte Philosophin werden.
Sie sprechen mir aus der Seele! Vielen Dank für diesen Beitrag!
Apropos weibliche Rollenmodelle: Warum nicht Hannah Arendt zum Beispiel?
http://www.boxgirls.org/berlin/startseite.html
@zk: oder Simone de Beauvoir?!
Man sollte co-teaching als Methode, die ich persönlich sympathisch und sinnvoll finde, aber auch in Frage stellen, so wie alle anderen pädagogischen Methoden auch. Für Hinweise und Denkanstöße bin ich dankbar, selber kann ich an dieser Stelle nur diesen Link bieten:
Is Co-Teaching Effective?
http://www.cec.sped.org/AM/Template.cfm?Section=Home&CONTENTID=7504&TEMPLATE=/CM/ContentDisplay.cfm
@ZK und Leon: ich finde eure Beispiele wirklich bezeichnend: Beauvoir und Ahrendt sind doch die ersten/einzigen Philosophinnen, die einem einfallen. Ich frage mich: taugen die beiden wirklich als role models?
Naja..taugen denn Nietzsche, Wittgenstein oder Sokrates als Rolemodels? Abseits ihres posthumen Status? Ruth Sonderegger kan doch eins werden…aber darum geht es doch weniger, oder? Ist doch alles kein Genderpolitisches Problem.
Wie konnte dieser Mensch ohne Doktortitel überhaupt eine Professor bekommen? Und wieso ist das eine Sache der alten Welt? Ich wäre über die Beantwortung dieser Frage sehr dankbar, sowie ich auch an dieser Stelle für diesen überaus lesenswerten Beitrag danken möchte.
Ich kann mir nicht so wirklich gut vorstellen, dass das Durcheinanderbringen von Bürokratien von den Leuten, die in ihnen funktionieren müssen, als eine angenehme Sache empfunden wird. Das Resultat mutet in einem nicht wirklich schönen Sinne kafkaesk an.
Ruth Sonderegger ist für diesen ehrlichen Bericht sehr zu danken. Sie versucht damit einen Ausbruch aus der oft sich so elitär gebenden akademischen Welt. Sehr selten sind diese Stimmen, leider. Sie fehlen uns – auch hier in der Berliner Gazette!!!
Zu den weiblichen role models würde ich sagen: natürlich sind Beauvoir und Arendt tolle Philosophinnen. Trotzdem hat mich bei Beauvoir ihr Verhältnis zu Sartre und bei Arendt ihre Anhimmelung Heideggers genervt.
Die Frage zur “alten Welt” finde ich sehr wichtig. Offenbar klingt, was ich geschrieben habe, so, als wäre früher – d.h. vor Bologna – alles oder zumindest vieles besser gewesen. So eine Behauptung wäre natürlich Schwachsinn – Institutionsgeschichte funktioniert genauso wenig linear wie Geschichte überhaupt. Ich denke, dass es immer wieder Phasen gab (hoffentlich auch in der Zukunft!), in denen die Grenzen zwischen Akademia und ihrem Außen durchlässiger
waren und der Umgang mit akademischen Graden ein entspannterer, nämlich Ausnahmen von der Regel nicht abgeneigter war. Bis vor nicht allzu langer Zeit konnte man in Deutschland z.B. ohne Magisterarbeit (“grundständig”) promovieren, es gab die interessanten Stellen der akademischen Räte etc. Ich glaube, man kann Titel- und Qualifikationsdebatten übrigens nicht von ökonomischen Fragen ablösen. Wenn die Finanzen knapp und die Bewerber_innen auf einen akademischen Job viele sind – wie das gegenwärtig gewöhnlich der Fall ist -, dann spielen in der ersten Rausschmiss-Runde formale Kriterien eine riesige Rolle – und damit eben auch Titel; ganz egal welche Inhalte und Lebenswege dahinter stehen. Man ist froh, überhaupt ein legales Diskriminationsmittel zu haben.
Ich als Studentin finde es toll, dass sich jemand aus der Uni heraus so offen gibt. In vielen Seminaren und Vorlesungen wird viel Wissen vorausgesetzt. Und wenn man Fragen hat, wird man auf die Bibliothek verwiesen. Wenn man sich überhaupt traut, die Fragen zu stellen.
Fand gerade das hier:
Das flexible Geschlecht
Gender, Glück und Krisenzeiten in der globalen Ökonomie
Berlin, 28.-30. Oktober 2010 im dbb Forum.
Welche Rolle spielen Geschlecht/Gender bei gesellschaftlichen Umbrüchen im Zeichen einer globalen Ökonomie? Egal ob Feminismus oder Gender Mainstreaming: Neben gerechten Geschlechterverhältnissen stand und steht auch immer die Vision von einer Gesellschaft, in der die Menschen in gerechten Verhältnissen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Haben bisherige geschlechterpolitische Fortschritte wirklich einen Schritt in diese Richtung gebracht oder entsteht eine neue gemeinsame Klasse der Überforderten? Ist die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche letztlich der alles bestimmende Faktor, der das Leben der Menschen heutzutage prägt?
Geschlechterkategorien selbst sind in den letzten Jahren zunehmend erodiert – haben sich Generationen von Gender-Debatten damit erübrigt? Sind Emanzipierte und flexible Menschen automatisch glücklich? Übersehen wir im alltäglichen Kampf um die eigene Wettbewerbsfähigkeit Möglichkeiten für ein besseres Leben?
Im Rahmen eines dreitägigen Kongresses mit dem Titel “Das flexible Geschlecht” sollen im Oktober 2010 neue und alte Ungleichheiten an den Schnittstellen von Geschlecht, Sexualität, Status, Identität und Differenz diskutiert werden und nach den Glücks- und Krisenmomenten heutiger Emanzipation gefragt werden. Die Veranstaltung wird von der Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung Hessen und der Berliner Landeszentrale für politische Bildung organisiert. Als Referentinnen geplant: Susan Pinker (Journalistin und Autorin des Buches: The Sexuel Paradox, USA), Eva Illouz (Soziologin, The Hebrew University of Jerusalem), Miriam Meckel (Universität St. Gallen), Angela McRobbie (Goldsmiths, University of London) und viele mehr.