Das Modell Autodidakt scheint im Netzzeitalter zu den beliebtesten Lernmodellen zu zählen. “Learning by doing”, “Do it yourself”, sprich: das eigenständige Erforschen des Internetsist für viele der einzige Weg, sich dem Medium zu nähern. Was hält die Digitalkultur sonst noch für Autodidakten bereit und was passiert mit jenen, denen das Selbst-Lernen nicht liegt? Und noch wichtiger: Wieviel Platz haben Bildungsinstitutionen für das Modell Autodidakt?
Mit diesen und anderen Fragen haben wir uns in der fünften Sitzung des Seminars Bildungsaktivismus auseinandergesetzt. Folgt man der Auslegung von Thomas Krüger, so erzeugt ein autoritäres Schulsystem Druck auf den Schüler. Dadurch wird eine Trotzreaktion hervorgerufen, die als Antriebsfeder für die eigene intensive Auseinandersetzung des Schülers mit einem bestimmten Stoff ist. Ist dieser Zusammenhang nachvollziehbar? Brauchen wir tatsächlich eine starke Hand, gegen die wir uns wehren und wegen der wir zu Autodidakten werden?
Wie bildet sich eine selbstkritische Schule?
Dieses Modell kann man auch ganz einfach mal auf den Kopf stellen. Die Vermutung liegt nahe, dass eine Schule, die ihre eigene Gestalt durch einen diskursiven Prozess zwischen Schülern, Lehrern und Lehrplan-Autoritäten entwickelt und sich an Gegebenheiten anpassen kann, als selbstkritische Schule verstanden werden kann. Diese “offene“ Schule würde im Zuge dessen eventuell kritische Schüler hervorbringen. Daraus ergibt sich die Frage: Inwieweit bildet eine selbstkritische Schule kritische Schüler?
Das Netz kann für diesen diskursiven Regelkreis wertvoll sein, wenn sich die Schule in ihrer jeweiligen Gestalt auch für weiteres Feedback öffnet. Treibt man diesen Gedanken weiter, kann man zu der Frage gelangen: Wie bildet sich eine selbstkritische Schule?
Braucht der Autodidakt Vorbilder?
Wie sieht es eigentlich mit der Gender-Frage aus? Was passiert, wenn eine Frau einen Beruf ergreifen möchte, der eine Männerdomäne ist. Wie im Fall von Ruth Sonnderegger, die Philosophin werden wollte und nur männliche role-models fand. Braucht der Autodidakt oder die Autodidaktin überhaupt Vorbilder?
Wiederum: Autodidakt-sein ganz ohne Anleitung, geht das eigentlich? Im Netz zumindest finden sich unzählige Anleitungen, die es Menschen ermöglichen, sich Dinge selbst beizubringen. Überall wimmelt es von Videos und Beiträgen, die einem zeigen, wie man einen Song auf der Gitarre spielt, ein bestimmtes Gericht kocht oder etwas bastelt. Ist das Internet also ein Eldorado für Autodidakten oder sind die YouTube-Anleitungen eigentlich nur ein Ersatz für die Lehrer-Autorität, sozusagen ‘virtuelle Lehrer’?
Können wir auch ‘gemeinsam’ Autodidakten sein?
Bleibt die Frage: Müssen Autodidakten immer Einzelgänger sein? In der gängigen Vorstellung ist der Autodidakt isoliert und einsam – ganz anders als die Mitglieder einer Lerngruppe beispielsweise. Dieser einsame Autodidakt muss einen Weg finden, das eigene Denken, Handeln und Sein mit dem korrektiven Potential einer Gruppe in Kontakt zu bringen. Eine so entstandene Gruppe kann also durchaus von autodidaktischer Energie angetrieben sein.
Die authentische Begegnung der Gruppenmitglieder, das Erkennen des gemeinsamen Interesses stärkt in so einem Fall die Motivation der Teilnehmer und beschleunigt den Bildungserfolg des Einzelnen ebenso wie den der Gruppe. Bei eindeutiger inhaltlicher Ausrichtung ist eine gesteigerte Effizienz wahrscheinlich.
Dadurch könnte das Interesse von McKinsey und Co. geweckt werden, die dann ihrerseits CIA-mäßig fragen, wie so etwas möglich sei, und versuchen würden, übertragbare Kriterien dieser erfolgreichen Gruppendynamik zu ermitteln, um sie in eigenen Systemen zu implementieren. “Übernahmefähig“ wären vielleicht folgende Ideen: flache Hierarchien, offene Strukturen oder die intrinsische Wertschöpfung der Teilnehmer.
Welche Rolle spielt in diesem Kontext die physische Präsenz? Was bringt das entkörperte Netz an Möglichkeiten? Sind dies hilfreiche Möglichkeiten? Eine Schlüssel-Rolle für die Motivation des Arbeitens in einer selbstorganisierten Gruppe scheint die Klärung von Identität und Absicht einzunehmen. Das könnte ein Nachteil für netzbasierte Gruppen sein. Und wie lässt sich die gedanklich energetische Öffnung der autodidaktischen Gruppe schließen?
Am Ende: Begriffsdefinition und Ausblick
Eine kurze Begriffsdefinition zum Abschluss: Der Autodidakt. Er kommt immer dann ins Spiel, wenn eine Zugangs-, Entscheidungs- oder Handlungsberechtigung gegeben wurde und nun die Qualifikation abgefragt wird. Dann gibt es alternativ, neben dem offiziellen Weg der institutionellen Laufbahn mit Zertifizierung und Einsetzung, den des Autodidakten. Er verbindet Leidenschaft, Talent und Eigenengagement und ist in der Regel mit vorzeigbaren Ergebnissen geschmückt.
Doch wie kommen Autodidakten nun zusammen? Wenn in einer Gruppe wie dem Chaos Computer Club oder der Berliner Gazette über einen langen Zeitraum autodidaktische Energien gebündelt werden, erscheinen die Gruppen allein aufgrund ihres dauerhaften Engagements als Institution. Tradierte formale oder auch inhaltliche Impulse könnten schleichend beginnen, den ‘freien‘ Geist zu binden.
Auf dieser Grundlage läss sich fragen: Wie lassen sich autodidaktische Energien und Impulse bündeln und auf den Boden bringen, ohne dem Energiefluss einen institutionalisierten Filter entgegenzustellen? Oder: Wie kann man einen räumlichen, sozialen, institutionellen Rahmen für ‘gemeinsames‘ autodidaktisches Lernen schaffen? Und wie gelingt es, dies nachhaltig zu tun?