Die Zeit ist reif, den Aufbau einer alternativen Macht von unten voranzutreiben, sowohl innerhalb Griechenlands als auch mithilfe globaler Vernetzung. Und die Frage lautet: Wie können wir eine bewegungsübergreifende Solidarität mit Griechenland gestalten? Die Sozialwissenschaftlerin und Berliner Gazette-Autorin Marina Sitrin unternimmt eine Bestandsaufnahme.
*
Griechenland ist ein geteiltes Land: Es gibt das Griechenland von Tsipras und das Griechenland der Bewegungen. Eine Zeit lang schien es, als gebe es nur ein vereintes Land, in dem die Bewegungen und die Regierung gemeinsam Hand in Hand arbeiteten. Tatsächlich gibt es aber zwei unterschiedliche Visionen und Realitäten.
Es gibt die Realität der Menschen, die von der Basis her Macht einfordern, und es gibt die Realität der Mächtigen. Viele Menschen in den Bewegungen haben dies schon immer gesagt, aber in der jüngsten Zeit haben die Mehrheit der Menschen doch abgewartet, ob sich die Vorstellung von einer zweigeteilten Realität nicht doch vielleicht als falsch herausstellen würde; sie harrten aus, warteten und hofften, dass es dieses Mal vielleicht doch eine Regierung geben würde, die für die Bevölkerung kämpft.
Durch das Referendum am 5. Juli 2015 wurde das Warten weiter intensiviert, und auch die Hoffnung vieler Menschen wurde stärker. Dann jedoch wurde die Hoffnung enttäuscht; das Warten hatte ein Ende. Die Regierung ist daraufhin in eine Richtung gegangen, und die Bewegungen in eine andere.
Graswurzelbewegungen als Bedrohung?
Tsipras war sich dieser Lage bewusst und wollte gleichzeitig nicht die gesamte Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung verspielen. Spätestens seitdem gibt es eine Spaltung innerhalb von SYRIZA, die dadurch verursacht wurde, dass Tsipras ein katastrophales Sparpaket akzeptierte, von dem er vorher geschworen hatte, dass er es nicht akzeptieren würde. Aber obwohl die Spaltung innerhalb von SYRIZA sehr real ist und den Führungsanspruch Tsipras’ innerhalb von SYRIZA bedroht, ist dieser Führungsanspruch doch von einer anderen Seite viel stärker bedroht: Die Bedrohung geht von der Bevölkerung und von den Graswurzelbewegungen aus.
Das von SYRIZA koordinierte Bündnis „Solidarität für alle“, das Netzwerk der Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen, beginnt sich nämlich aufzulösen. Unter den ersten, die das Bündnis verlassen haben, sind die Wohnungsschutzaktivisten. Nachdem die Regierung massenhafte Zwangsversteigerungen von Immobilien und Zwangsräumungen angekündigt hatte, gab es für sie keinen Grund mehr, mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Die in den Bewegungen organisierten Menschen äußern immer wieder, dass sie jetzt nicht mehr warten wollen. Es sei jetzt notwendig, den Aufbau einer alternativen Macht von unten voranzutreiben, sowohl innerhalb Griechenlands als auch mithilfe globaler Vernetzung.
Graswurzelbewegungen in ganz Griechenland haben sich in den vergangen Monaten getroffen, um darüber zu diskutieren, wie sie einander unterstützen und die sich stetig verschärfende Krise überleben können. Bis vor kurzem gehörte zu diesen Gesprächen auch die Frage, wie das Verhältnis zu SYRIZA aussehen würde, könnte oder sollte. Die Gespräche werden derzeit fortgeführt, wobei die Frage des Aufbaus einer alternativen Macht von unten immer öfter auf der Tagesordnung steht, und das Thema „SYRIZA“ ganz nach unten gerutscht ist, falls überhaupt noch darüber gesprochen wird.
Gründung eines Netzwerks der Bewegungen
Viele Diskussionen und Versammlungen zu Beginn des Sommers hatten das Referendum als Ausgangspunkt und drehten sich um das von den meisten Menschen befürchtete „Nein“ im Referendum und als Folge einen möglichen Austritt aus dem Euro, oder es ging zumindest um eine mögliche Ablehnung der Sparpläne und daraus folgend eine sich verschärfende Krise. Derzeit finden auch immer noch Versammlungen in Gemeinschaftszentren, Parks, Nachbarschaften und sozialen Solidaritätskliniken statt.
Wenige Tage nachdem die griechische Regierung den Sparplänen zugestimmt hatte, trafen sich hunderte von Menschen in Athen und Thessaloniki, um über die Gründung eines Netzwerks der Bewegungen zu beraten. Hier ging es vor allem um autonome Bewegungen, also Bewegungen, die nicht Mitglied in „Solidarität für alle“ sind oder die daran denken, ihre Mitgliedschaft zu beenden. Die Idee ist, sich zum Aufbau alternativer Netzwerke für das alltägliche Überleben und den Austausch von Dienstleistungen zusammenzuschließen und so die bereits existierende Macht von unten in die Form eines koordinierten Netzwerks zu gießen. Die Gespräche werden erst seit kurzem geführt, es ist jedoch deutlich eine Bereitschaft spürbar, so schnell wie möglich Nägel mit Köpfen zu machen.
Anestis, ein Mitorganisator seiner örtlichen Nachbarschaftsversammlung in Athen, äußerte sich nach dem Treffen über dessen Erfolg: „Wir hatten nicht mit vielen Leuten gerechnet, weil die Versammlung Ende Juli stattfand und die meisten Menschen in dieser Zeit nicht da sind. Es kamen aber dann über 100 Leute. Viele meinten, die Zeit des Wartens sei nun vorbei und dass die aktuelle Regierung sich in nichts von den anderen Regierungen unterscheide.“
Verbindungen zwischen Nachbarschaften
Anestis weiter: „Wir sprachen dann über die Frage, was wir im September machen sollten. Es gab eine rege Beteiligung an dieser Diskussion, und viele Menschen gaben zu, dass sie zwar all die Jahre an den Bewegungen teilgenommen hatten, sich aber auch etwas von der Regierung erhofft hatten. Aus ihrer Sicht hätten die Bewegungen in den vergangenen sechs Monaten nur sehr zögerlich agiert, weil sie schlicht darauf gewartet hätten, dass etwas passierte. Das sei auch der Grund, warum die vergangenen zwei Jahre so destruktiv gewesen wären.“
„Viele Verbindungen zwischen Nachbarschaften und den Bewegungen seien beispielsweise abgerissen. Viele Menschen hätten auch gedacht, dass das Memorandum zwischen Griechenland und der Europäischen Kommission weniger hart ausfallen würde. Die Diskussion in der Versammlung war häufig nicht einfach: Teilnehmer machten Vorschläge, was zu tun sei, sogar ganz konkrete Vorschläge, aber es blieb unklar, wer diese Vorschläge in welcher Weise umsetzen sollte und welche Art von Beziehungen die Basis für die Umsetzung der Vorschläge bilden sollten.“
„So sagten beispielsweise viele, dass wir mehr Nachbarschaftsversammlungen und Versammlungsnetzwerke organisieren sollten. Es blieb aber offen, wie das organisiert werden sollte und auf der Basis welcher Beziehungen das alles stattfinden sollte. Das war das einzige Manko dieser Gespräche … Wir treffen uns allerdings im September wieder.“
Universelle, kostenlose Gesundheitszentren
Am Wochenende des Referendums nahm ich auf Kreta an einem Treffen der sozialen Solidaritätskliniken teil. In den Gesprächen ging es darum, ob und wie die Kliniken ein autonomes Netzwerk gründen könnten, mit dem es ihnen gelingen würde, weiter unabhängig von der Regierung und anderen staatlichen Einrichtungen zu bleiben. Bei den Kliniken handelt es sich um universelle, kostenlose Gesundheitszentren, die von Freiwilligen betrieben werden.
Sie entstanden im Jahre 2011, um es den Menschen zu ermöglichen, mit den gestiegenen Preisen für die Gesundheitspflege fertig zu werden. Es gibt mittlerweile fast sechzig solcher Kliniken. Rund ein Dutzend dieser Kliniken werden vollständig von ihrer jeweiligen örtlichen Nachbarschaft finanziert, das heißt die Klinik akzeptiert beispielsweise weder von der Regierung noch von den politischen Parteien noch von der Kirche Geld.
Es gab zwar als Ergebnis dieses Treffens keinen endgültigen Plan für ein Netzwerk, aber die Teilnehmer aus den Kliniken verständigten sich trotzdem darauf, dass sie weiter autonom arbeiten wollen. Die Teilnehmer befürchteten zudem, dass von einem Nachlassen der Inanspruchnahme ihrer Dienste keine Rede sein würde und dass ihre Dienste in Zukunft sogar noch stärker in Anspruch genommen werden würden. Die neuen Sparpläne der Regierung sind ja nun verabschiedet worden, so dass diese Befürchtungen bereits eingetroffen sind.
In der sozialen Solidaritätsklinik in Iraklio
Zu dem Treffen hatte die soziale Solidaritätsklinik in Iraklio eingeladen. Angesichts des Referendums und der immer schärfer werdenden Sparmaßnahmen, hat die Klinik als eine der ersten die Menschen überall in Griechenland und in der Welt dazu aufgerufen, sich in Netzwerken der Unterstützung, der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe zusammenzuschließen. Ich zitiere aus der Erklärung der Klinik:
„#ThisIsACoup. 12. Juli 2015 – Der Euro-Gipfel. Für manch einen eine Überraschung; für andere nicht. In beiden Fällen bleibt eine Frage offen: Wie kann eine Reaktion von unten aussehen, mit der der Kampf gegen die vollständige Finanzialisierung unseres Lebens aufgenommen wird?“
„Der von der Basis geführte Kampf in Griechenland benötigt Unterstützung. […]“
„Dies ist der zweite Aufruf des internationalen Netzwerkes für Solidarität und gegenseitige Unterstützung. Das Ziel ist, in Griechenland sowohl die akuten als auch die langfristigen Bedürfnisse zu befriedigen. Dieser Aufruf stammt von selbstorganisierten Initiativen und ergeht an solche Initiativen. Der Aufruf verfolgt das Ziel, eine alternative Form sozialer Solidarität als Gegensatz zur ‘institutionalisierten Solidarität’ sichtbar zu machen und in die Praxis umzusetzen sowie deren Wirksamkeit zu beweisen. Mit ‘institutionalisierter Solidarität’ meinen wir die EU-EZB-IWF-Institutionen und das neue Sparprogramm des europäischen Stabilisierungsmechanismus’ (ESM) der Eurozone.“
„Wir möchten klarstellen, dass dieser Aufruf nicht rein zufällig entstanden ist. Er ist vielmehr aus unseren breiter angelegten Bemühungen entstanden, ein anderes Konzept für die Gesundheitspflege zu entwickeln, das von der gesellschaftlichen Ebene – und nicht vom Individuum – ausgeht. Das Konzept will Solidarität, Gegenseitigkeit und Gerechtigkeit, ohne Rassismus und ohne Unterscheidungen in Bezug auf Hautfarbe, Herkunft, sexuelle Orientierung oder Religion. […]“
„Wir planen mit autonomen, solidarischen Gesundheitszentren zu beginnen, die das Herzstück des Netzwerkes bilden sollen. Diese Einrichtungen sollen mit nichtkapitalistischen Formen der Arbeit, nichtmedikalisierter Gesundheitspflege und mit der Unabhängigkeit von Institutionen experimentieren. Jede Klinik wird als Zentrum fungieren und wird mit anderen selbstorganisierten Gruppen in der jeweiligen Stadt oder der weiteren Umgebung zusammenarbeiten. […]“
– Soziales Solidaritätsgesundheitszentrum und -Apotheke – Iraklio/Kreta (aus der vollständigen Erklärung)
Von Solidaritätskliniken bis hin zu alternativen Bildungs- und Wohnungsprojekten
Die Reaktion auf diese Erklärung war überwältigend. Über 100 Gruppen aus der ganzen Welt, vor allem aus Lateinamerika, unterzeichneten die Erklärung. Es wurden auch bereits Solidaritätsvereinbarungen geschlossen. Eine solche Vereinbarung betrifft beispielsweise den Austausch von Dienstleistungen zwischen einem genossenschaftlichen Reisebüro in Italien und auf Kreta und in Athen arbeitenden Kollektiven.
Die Italiener werden Reisen von Touristen nach Griechenland organisieren, und die Griechen werden die Unterkunft und die Verpflegung auf der Basis einer direkten Beziehung zu biologisch arbeitenden Nahrungsmittelerzeugern koordinieren sowie Treffen und Versammlungen mit Gruppen aus der jeweiligen Stadt organisieren. Das Spektrum der Gruppen reicht dabei von sozialen Solidaritätskliniken bis hin zu alternativen Bildungs- und Wohnungsprojekten. Dieses Projekt ist eine von potenziell hunderten neuen Beziehungen, die alle auf dem Prinzip der Beziehung zwischen Bewegungen basieren.
Da die Regierung klar zu erkennen gibt, dass sie die Bevölkerung nicht unterstützen möchte, tun sich die Bewegungen von unten nun zusammen, um zu zeigen, dass sie sich selbst helfen können und sich als Bewegungen gegenseitig unterstützen möchten. Wie heißt es doch in dem Motto der wiederhergestellten Arbeitsstätte „Vio.Me“ in Thessaloniki: „Wenn ihr es nicht könnt, dann machen wir es eben.“
Anm.d.Red.: Mehr Texte zum Thema in unserem Dossier Europakrise. Aus dem Englischen übersetzt durch Edward Viesel. Das Foto stammt von August Bril, CC BY 2.0.
Equazione sociale fisica antropologia sociale evolutiva_________________________
sergio-gandossi.blogspot.com
______________________________________________________
Was geht uns denn die nationalistisch linkspopulistische Regierungspartei in Griechenland an? Solange die mit strukturellem Antisemitismus auf die Krise reagiert und sich in Gläubigerkritik bequemt, kann ein emanzipatorischer Ansatz nicht auf dieser Basis begründet werden. Gesundheitszentren von unten mit hehren Zielen sind in etwa so nachhaltig wie die Pariser Kommune oder Freie Energie. Das Mirakel funzt nicht. Genau das ist dann ja die Tragödie.