Das Wort “Lesen” bedeutet eigentlich sorgfaeltiges Aufsammeln. Wein wird gelesen, gute und schlechte Linsen, oder Faehrten. Doch meist Sammeln wir Zeichen auf in Form von Texten. Die urspruengliche Sorgfalt unterliegt dabei einem immer staerker werdenden Beschleunigungsdruck und wird an ihrer Effizienz gemessen. So sind Schnelllesekurse auch Symptome eines multimedial forcierten Blicks vor dem immer naechsten “switch” und einer Flucht vor der Beharrlichkeit. [Keine Sorge, ich frage hier nicht wie oft der Buchstabe “e” im obigen Abschnitt vorkommt.]
Doch gibt es eigentlich ein richtiges Tempo beim Lesen? Texte sind Autopiloten, sie steuern ihre eigene Geschwindigkeit. Nie wird dies deutlicher als beim lauten Lesen von Lyrik. Jedes Gedicht fordert vom Leser sein ganz bestimmtes Tempo ein, der Rhythmus legt die Faehrte hin zu einer authentischen Fahrt. Hoert man Dichtern wie Celan oder Kaschnitz beim Lesen ihrer Texte zu, so wird erfahrbar wie die Zeilen ihre Stimme bewegen und nicht etwa umgekehrt, wie sie ganz hinter ihr Gedicht zuruecktreten. Markanterweise verweigert sich Lyrik jeder Schnelllesestrategie.
Manchmal kann ein Text aber auch stillstehen. Der Anfang von >Herz der Finsternis< zum Beispiel entzieht sich fuer mich einer kontinuierlichen Bewegung - trotz der Reise auf dem Kongo. Die Sprache Joseph Conrads, soeben fuer den Fischer Verlag neu ins Deutsche uebersetzt worden, ist so einnehmend, seine Beschreibungen so hinreissend, dass ich immer wieder halt mache und bei ihnen verweilen muss. Die Worte sind nicht mehr unterwegs, sie scheinen schon angekommen. Celans beruehmtestes Bild fuer die Selbststaendigkeit eines Textes ist das der >Flaschenpost<, die irgendwo an Land gespuelt wird, an >Herzeland< vielleicht. Nichts liefert bessere Geschichten als das [Auf-]Lesen von Strandgut.