Soziale Medien werden oft als eine Art (externer) Naturgewalt diskutiert, die ganze Gesellschaften formen, verändern und zerstören kann. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass Social Media ein Teil der Gesellschaft sind – entstanden im Spannungsfeld sozialer, wirtschaftlicher und politischer Interessen – und damit ebenso ein Produkt der Gesellschaft wie die Gesellschaft ein Produkt der Sozialen Medien geworden ist. Wenn wir das verstehen, können wir nicht nur besser über Themen wie “TikTok und unsere Kinder” diskutieren, sondern auch über Alternativen zu Big Tech nachdenken, wie Aileen Derieg argumentiert.
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In den letzten Jahren sind immer mehr Arbeiten erschienen, die sich kritisch mit dem Einfluss von Internetdiensten von Unternehmen, Plattformkapitalismus, Data Mining, Privatsphäre und Überwachung auseinandersetzen. In seinem Buch “The Internet Con – How to Seize the Means of Computation” (2023) zeichnet Cory Doctorow beispielsweise den Aufstieg der Big-Tech-Monopole und ihre schädlichen Auswirkungen auf die Gesellschaft nach, beschreibt aber auch, wie die Nutzer*innen in Plattformen gefangen sind, mit denen sie nicht zufrieden sind. Paris Marx zieht in “The Road to Nowhere” (2022) wiederum Parallelen zwischen der Entwicklung der Autokultur, die zu einer totalen Abhängigkeit vom Auto geführt hat, und den Big-Tech-Monopolen, die versuchen, Alternativen zu unterdrücken. So werden die ökonomischen, politischen, soziologischen und psychologischen Auswirkungen der Internettechnologien derzeit von Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen kritisch hinterfragt, während Künstler*innen, Aktivist*innen und Hacker*innen versuchen, Alternativen zu entwickeln.
Vor diesem Hintergrund bot der eintägige Transversal-Workshop “Publishing and Becoming Public After Social Media” (“Publizieren und Öffentlich-Werden nach Social Media”) am 19. März 2024 in Wien eine philosophische Perspektive und eröffnete damit einen erweiterten Blick auf Social Media, Subjekte und Gesellschaft.
Während Stefan Nowotny drei sehr kurze Auszüge von Gilles Deleuze und Félix Guattari, Christian Marazzi und Giuseppina Mecchia präsentierte, erwies sich ein Rückblick auf Nowotnys eigenen Aufsatz “Die Bedingung des Öffentlich-Werdens” (2003) als noch erhellender. Damals schrieb er in Bezug auf die “Illegalen”, die “Sans-Papiers”: “Es geht um ein Öffentlich-Werden, das nicht einfach im Übergang von einem “Nicht-öffentlich-Sein” zu einem “Öffentlich-Sein” (von der Unsichtbarkeit zur Sichtbarkeit, von der Nicht-Repräsentation zur Repräsentation) besteht, sondern in der Eröffnung einer Kollektivität in den Zwischenräumen der Repräsentation, die in das öffentliche Leben als soziales Werden im Wortsinne inter‑veniert.”
Sind die sozialen Medien schuld?
Seit mehr als zwanzig Jahren definieren uns die sozialen Medien immer “granularer” als “Zielgruppen”, angeblich, um uns mit Informationen zu versorgen, die uns interessieren, in Wirklichkeit aber, um feingranulare Datensätze an Datenbroker*innen zu verkaufen. Der Inhalt ist irrelevant, was zählt, sind Millisekunden der Aufmerksamkeit, in denen Werbung eingeblendet werden kann. Das Ankreuzen aller Checkboxen zur Identifikation von Geschlecht, geografischem Standort, ethnischer Zugehörigkeit oder anderen demografischen Merkmalen führt nicht zu Sichtbarkeit oder Repräsentation, sondern nur zu höherpreisigen Datensätzen. Dies ist inzwischen an vielen Stellen ausführlich analysiert und diskutiert worden, aber die erste Diskussion des Workshops drehte sich schließlich um die Frage, wie das “Öffentlich-Werden” politisiert werden kann, was gerade jetzt am dringendsten notwendig erscheint.
Die sozialen Medien durch die Brille der Schriften von Immanuel Kant, Karl Marx, Gilles Deleuze, Félix Guattari, Louis Althusser und anderen zu betrachten, eröffnete mir andere Perspektiven, da ich mich normalerweise eher auf die technologische Seite konzentriere. Ein Beispiel dafür ist das Konzept der Interpellation: Laut Althusser teilen staatliche Apparate wie Familie, Schule, Polizei und Massenmedien den Menschen von klein auf mit, was sie in Bezug auf Klasse, Geschlecht, Rasse und andere Identitäten sind – ein Akt der Interpellation durch Etikettierung, der impliziert, dass wir lernen, auf diese Etikettierungen zu reagieren, lies auch: zu gehorchen. Dieses Konzept scheint hier besonders nützlich zu sein, um über die übliche verzweifelte Reflexion über den Einfluss von TikTok und Instagram auf das Selbstbild junger Menschen hinauszugehen.
In einem anderen von Felix Stalder empfohlenen Inputtext schreibt Shusha Niederberger: “Seiner Ansicht nach existiert das Subjekt nicht unabhängig von seiner Umgebung, sondern wird durch die Anrufung von Institutionen (Althusser et al.) geschaffen und aufrechterhalten, doch im Kontext dieses Textes auch von Infrastrukturen. Der Prozess der infrastrukturellen Interpellation ist kein deterministischer Prozess, sondern operiert in Relation zu anderen Anrufungen, Selbstverständnissen und bereits etablierten Subjektpositionen”. Ein Subjekt, das durch institutionelle und infrastrukturelle Interpellationen geschaffen und aufrechterhalten wird, ist ein anderes soziales Imaginäres als unerfahrene Teenager*innen, die der Gefahr der Manipulation ausgesetzt sind. Den sozialen Medien die Schuld für die Misere junger Menschen zu geben, verschiebt die Verantwortung von dort, wo sie eigentlich hingehört: in die Gesellschaft als Ganzes mit all ihren pädagogischen, politischen, kulturellen und anderen Institutionen.
Identitäts-Checkboxen vs. Server-Optionen
Im selben Text untersucht Shusha Niederberger auch, wie sich der Registrierungsprozess bei Mastodon von der Einrichtung eines Twitter-Accounts unterscheidet, und zwar in einer Weise, die viele Menschen, die nach der Übernahme von Twitter durch Elon Musk zu Mastodon gewechselt sind, verwirrt und irritiert hat. Während kommerzielle Social-Media-Plattformen ein in sich geschlossenes, liberales Individuum voraussetzen, das sich durch die Auswahl vordefinierter Attribute aus Dropdown-Menüs oder Checkboxen identifiziert, fordert Mastodon neue Mitglieder zunächst dazu auf, einen Server zu wählen.
Im Jahr 2022 organisierte AMRO – Art Meets Radical Openness, ein kleines, alle zwei Jahre stattfindendes Festival in Linz, Österreich, eine Podiumsdiskussion mit dem Titel “Hosting With The Others“, bei der Systemadministrator*innen einiger alter “Kunstserver” aus den späten 1990er Jahren und Aktivist*innen einer neuen Welle von Community-Servern und Self-Hosting, einschließlich der wachsenden Praxis feministischer Server, zusammenkamen. Nach so vielen Jahren in den eingezäunten Gärten kommerzieller Social Media scheint es ein wachsendes Interesse an unabhängigen Servern zu geben, aber auch einen weit verbreiteten Bedarf an Erklärungen, was ein Server eigentlich ist. Einerseits bringt die Fokussierung auf die Maschinen, die Konnektivität ermöglichen, eine Ebene der Materialität in die Diskussion über soziale Medien zurück. Andererseits erfordern unabhängig betriebene, selbst gehostete oder gemeinschaftlich genutzte Server eine andere Denkweise. Das bedeutet, dass Annahmen über die “ständige Verfügbarkeit” in Frage gestellt werden müssen; es bedeutet, dass man sich der realen Menschen bewusst werden muss, die sich um die Maschinen kümmern und die manchmal essen, schlafen oder einfach nur spazieren gehen müssen. Konnektivität ist also nicht nur ein abstraktes Konzept, sondern eine Reihe konkreter Maßnahmen.
Wie Shusha Niederberger schreibt, kann es für Menschen, die daran gewöhnt sind, als Individuen wahrgenommen zu werden, verwirrend sein, als ersten Schritt eine Gemeinschaft wählen zu müssen. Außerdem ist Mastodon keine monolithische, zentralisierte Plattform wie Twitter, sondern eine Vielzahl kleiner bis mittelgroßer, miteinander verbundener “Instanzen”. Und es ist nicht einmal das ganze “Fediverse” (“eine Sammlung von Social-Networking-Diensten, die über ein gemeinsames Protokoll miteinander kommunizieren können (formell als Föderation bekannt)”), sondern nur eine Möglichkeit, sich mit anderen föderierten Instanzen wie Pixelfed oder PeerTube zu verbinden.
Wenn Mainstream-Medien Mastodon weiterhin als “Twitter-Alternative” bezeichnen (z.B. CNN: “A beginner’s guide to Mastodon, the Twitter alternative that’s on 🔥”, oder TechCrunch: “A beginner’s guide to Mastodon, the open source Twitter alternative“) und die Vor- und Nachteile der beiden Alternativen vergleichen, wird übersehen, dass sich das Fediverse nicht nur dadurch von kommerziellen Social Media unterscheidet, dass es werbefrei ist. Das zugrunde liegende ActivityPub-Protokoll ähnelt eher der E-Mail und spiegelt einen Ansatz wider, der eher auf vernetzte Gemeinschaften und Kollektive ausgerichtet ist als auf die Verbindung isolierter und atomisierter Individuen untereinander. Das Interessante an Mastodon ist nicht, dass es einen Zufluchtsort vor der toxischen Umgebung von Twitter bietet, sondern dass das Fediverse eine Möglichkeit bietet, öffentlich zu werden, die der kapitalistischen individualistischen Subjektivierung entgegensteht, und dass Subjekte, die bereits in Gemeinschaften eingebettet sind, Handlungsmöglichkeiten haben, die über die vordefinierten Attribute von “Zielgruppen” hinausgehen.
Auf dem Weg zu einem “föderalen” Wissen
In gewisser Weise spiegelte sich der Geist des Fediverse im Format des Workshops “Publishing and Becoming Public After Social Media” wider. Die Einladung an sechs Expert*innen aus verschiedenen Bereichen, kurze Texte oder Auszüge aus Texten anderer Expert*innen zu empfehlen, war eine willkommene Abkehr vom traditionellen Format der Podiumsdiskussionen, in denen einzelne Expert*innen sich und ihre Arbeit vorstellen. Vielleicht könnte man diese Form der kollaborativen Reflexion sogar als eine Art “Bündelung” (lies auch: Föderalisierung) von Wissen betrachten. Angesichts der Entwicklung der Social-Media-Plattformen der Unternehmen hin zu den dystopischen Zukunftsvisionen der TESCREAListen ist Widerstand nicht nur eine technische Frage, sondern bedarf auch einer kritischen philosophischen Reflexion.
Anmerkung der Redaktion: Die Autorin dieses Textes nahm am Workshop “Publishing and Becoming Public After Social Media” teil, der von Transversal im Rahmen der Reihe Peripheral Visions organisiert wurde.