Erinnerung ist die kleine Schwester der Reflexion, zusammen sind sie die Hebammen jeder Literatur; an etwas anderes als die Jugend aber kann ich mich nicht erinnern, weil ich mehr noch nicht erlebt habe. Ausserdem hat der Jugendbezug in meinem Schreiben noch einen politischen Vorteil: Junge Leute sind mutiger als aeltere, im Guten wie im Boesen; sich dieser Zeit zu verpflichten heisst also, sich gegen das Erschlaffen und die Verzagtheit zu wehren, die den Boesewichtern ihr Geschaeft so leicht machen.
Vom Hier und Jetzt will ich, dass es aufhoert, damit die Zukunft besser wird. In diesem Sinne muss im Text dann immer auch die Vergangenheit vorkommen, denn die ist schiefgegangen, sonst saessen wir ja nicht in dem Dreck, der uns umgibt, also muss man sie sich genau anschauen, um herauszufinden, wo wir falsch abgebogen sind.
Ich sitze verhaeltnismaessig lange an meinen Buechern; der groesste Teil der Zeit wird darauf verwendet, das Buch so straff wie moeglich festzuzurren, damit man es beim Lesen so schnell durchhat, wie der Stoff es zulaesst (richtig rasend schnell ist das oft leider nicht; manche Stoffe sind eben zaeh, zum Beispiel alle politischen) und wieder zum Leben kommt.
Daumenregel beim Schreiben: Zeit raffen fuer Passagen, die zum Handeln verfuehren sollen, Zeit strecken fuer andere, in denen es mir darum geht, die Leute von einem Gedankengang zu ueberzeugen. Aussparungen und raeumliche Juxtapositionen im Buchganzen handhabe ich dabei eher ausgehend vom Comic als vom Kino: Man soll zurueckblaettern und zweimal lesen koennen (aber nicht muessen).
Das Unfertige ist nur die eine Haelfte dessen, worum’s mir geht. Die andere ist das Richtige. Das heisst, ich sage: Wir wissen viel, aber nie alles. Das Mittelalter war gar nicht so absolutistisch, da hiess es vielmehr: Der Mensch weiss nichts und kann nichts wissen, absolut waren nur (praktisch) die Ohnmacht der Abhaengigen und (theoretisch) die Macht der Maechtigen.
Mir geht’s um eine Dialektik: Absolut ernstnehmen, was man weiss, aber offenhalten fuer Neuigkeiten. Unfertig heisst: Nicht abgeschlossen. Es heisst NICHT: irgendwie falsch. Den Satz “alle haben irgendwie recht, egal was sie sagen”, der sich mit “den Absolutismen des Mittelalters” sicher schlecht vertraegt, halte ich fuer saudumm. Niemand hat je voellig recht, aber viele haben ABSOLUT unrecht.
Absolute Zeit gibt es aesthetisch und sozial so wenig wie physikalisch. Menschen, die nichts zu sagen haben, kriegen davon das Gefuehl, die Zeit sei gegen sie (ob sie das als “zuviel (leere) Zeit” oder “zuwenig Zeit” erleben, haengt von den Umstaenden ab). Ich finde es entscheidend, die Einteilung der Zeit zu demokratisieren. Insofern ist mir die DVD oder das Buch lieber als ein Medium, dessen Ablauf, Zergliederung etc. man nicht steuern kann. Aber das sind Petitessen: Der eigentliche Zeit-Horror ist immer noch die Lohnarbeit; solange es Stechuhren gibt, ist mit Kunst dagegen nicht viel zu machen. Streiken! Streikbrecher angreifen! Sich organisieren! Kommt Zeit, kommt Tat.
“Rasender Stillstand”, “postmoderner Relativismus”, das sind so wolkige Abstraktionen mehr oder weniger privilegierter Intellektueller; wer sehen muss, wo die Miete herkommt oder wie man einen Krieg ueberlebt, befasst sich bald mit interessanteren Sachen. Auch das kann man ja dann intelligent oder dumm machen; ich habe nichts gegen Intellektuelle, aber sie sollten ihre teure Ausbildung, bei der sie unterscheiden und vergleichen lernen, dazu nutzen, Dinge zu unterscheiden und zu vergleichen, bei denen nuetzliche Ergebnisse herauskommen.