In Berlin zogen Mitte Oktober Hunderttausende für eine unteilbare Gesellschaft durch die Straßen. Doch was bleibt? Die Krise der menschlichen Handlungsfähigkeit in Zeiten von Artificial Intelligence (AI) und Autokraten-Renaissance ist das Leitmotiv der Berliner Gazette-Jahreskonferenz Ambient Revolts. Im zweiten Teil seines Essays zeichnet BG-Herausgeber Krystian Woznicki nach wie die europäische Aufklärung aus “Agency”, also der politischen Handlungsfähigkeit, etwas Exklusives gemacht hat.
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Die Tatsache, dass die im Europa der Aufklärung herbeifantasierte Vorstellung von menschlicher Handlungsfähigkeit voller Widersprüche war, ist seitdem immer wieder zum Vorschein gekommen. Die Kernidee der europäischen Aufklärung – Stichwort: egalitäre Handlungsfähigkeit für alle – sah sich etwa dann tiefgreifend in Frage gestellt, als Hegel den Kolonialismus unterstützte (Afrika sollte dem überlegenen Europa unterworfen werden), als Marx die Befreiung von der Sklaverei lediglich als Metapher für den Klassenkampf ins Feld führte, nicht jedoch auf buchstäbliche Sklaven bezog, oder aber als Shelley dem tiefgreifenden Horror Ausdruck verlieh, die technologischen Schöpfungen des Menschen könnten sich verselbstständigen und gar zu einer Bedrohung für ihn werden.
Der koloniale Subtext bei Hegel oder der Rassismus bei Marx – diese blinden Flecken im Modell der Agency liegen in historischer Nachbarschaft zu der Vorstellung einer unkontrollierbaren Maschine namens Frankenstein bei Shelley.
Bei ihnen kommt jeweils explizit oder implizit ein verdrängtes Anderes zum Vorschein, das in der Konzeption von Agency im Gefolge der emanzipatorischen Aufklärung ausgeblendet worden: einerseits Technik, andererseits Frauen und people of color – hier teils gewaltsam in Form des Genozids. Anders gesagt, ist Agency hier als Frage der Dominanz bzw. eines zu dominierenden Gegenübers gedacht worden, frei nach dem Motto: „ich kann nur dann handlungsfähig sein, wenn du es nicht bist“. Eine unterschiedslose und diskriminierungsfreie Ko-Konstitution von Agency als ein kollektives Handlungsvermögen war offenbar nicht denkbar.
Faschismus: Blütezeit des Klassifizierungswahns
Diese zivilisatorische Fehlleistung, die unserer kulturellen Vorstellung von Agency zu Grunde liegt, hat heute ein schrilles Echo, etwa im autoritären Wunsch nach einer effektiven Staatsgewalt wie ihn die Rechtspopulisten auch hierzulande routiniert zu nähren wissen. Wenn der zeitgleiche Siegeszug von Künstlicher Intelligenz kontextualisiert und problematisiert wird, etwa mit Verweisen auf die Ära des Faschismus – nicht zuletzt eine Blütezeit des Klassifizierungswahns –, dann ist das zwar historisch nicht falsch. Doch die Kritik führt damit nicht weit genug. Das Problem liegt tiefer und an einem problematischeren Punkt: Denn anders als der Faschismus, gehört die Aufklärung in Europa zum Selbstbild der Mehrheitsbevölkerung.
Wir können relativ einfach sagen: Faschismus wollen wir nicht. Doch, was bedeutet es heute, die Aufklärung in Zweifel zu ziehen. Es gilt etwa zu fragen: Wem wird in der Geschichte der Aufklärung Handlungsfähigkeit abgesprochen, wem zugestanden? Wer beansprucht Autorität darüber entscheiden zu können? Wenn diese Fragen unumgänglich geworden sind, dann weil wir nun an einem Punkt sind, an dem Agency als Narrativ eines von sich selbst eingenommenen Europas angesichts von Autokraten und KI tiefgreifend erschüttert worden sind.
Also begreift die Berliner Gazette-Konferenz Ambient Revolts die Gleichzeitigkeit von Autokraten-Renaissance und KI-Hype als Symptom einer größeren Krise, in deren Mittelpunkt die Frage nach Handlungsfähigkeit steht. Auf den ersten Blick erscheint die zunehmende Beliebtheit von Autokraten wie ein Gegenentwurf zur Verbreitung von Technologien, die augenscheinlich unabhängig von menschlicher Einflussnahme arbeiten, die, wie Shelleys Frankenstein, sich selbst verwalten.
Maschine vs. Mensch als Handlungsmacht
So scheint sich heute ein Endkampf zu ereignen: Maschine vs. Mensch als Handlungsmacht. Auf den zweiten Blick entpuppt sich die inhärente Aussage des jeweiligen Angebots als dieselbe. Sowohl Autokrat als auch KI soufflieren: „Demos, lass gut sein, überlass das nur mir, ich mache das schon.“ Und so lässt sich die Aktivierungsphrase „Okay, Google [mach mal xyz]“ analog lesen zu „Okay, Trump [mach mal xyz].“ Sind das nicht alles offensichtliche Verlockungen dazu, unsere individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit wegzudelegieren?
Über das symbiotische Verhältnis von KI und Autokratie ließe sich vielerlei sagen. Was der Berliner Gazette besonders wichtig ist: Wir versuchen deutlich zu machen, dass es nicht entweder ein Technik-Diskurs oder ein Politik-Diskurs ist, zwischen dem Welten liegen, die miteinander nichts zu tun haben, sondern dass die Frage nach politischer Handlungsfähigkeit aktuell durch alle Register hindurch virulent geworden ist.
Wir sind daher herausgefordert, der Krise der Agency sowohl im Netz zu begegnen (wie dies etwa Felix Stalder in seinem zweiteiligen Beitrag tut) als auch in anderen Kontexten. Beispielsweise in der so genannten „Flüchtlingskrise“ (wie Christian Petzolds Film „Transit“ nahelegt) oder in Anbetracht der Frage, wer heute Zugang zur Autorschaft als System der kulturellen Handlungsfähigkeit hat (wie sie beispielsweise das Werk der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel so denkwürdig aufwirft).
Ambient Revolts: KI entmystifizieren
Erst im Dialog und in der Zusammenschau der diversen Kontexte bekommen wir einen Eindruck vom Ausmaß und Charakter der Krise – und können auf dieser Basis Ansätze zur Überwindung entwickeln. Insofern kann es nicht nur um eine Zeit-Diagnose gehen, sondern vor allem auch darum, Grundlagen für das kollektive Handeln zu erarbeiten. „How can we rethink political agency in an AI-driven world?“ lautet die Leitfrage der Ambient Revolts-Konferenz.
Um dieser Frage nachzugehen, wollen wir versuchen mit Talks, Performances und Workshops die kleiner werdenden Räume für Handlungsfähigkeit zu vergrößern. Einerseits geht es dabei darum, KI zu entmystifizieren, andererseits darum, Zugänge zur Aneignung zu schaffen. Wo spielt KI heutzutage überall eine Rolle? Wie lassen sich die politischen und sozialen Konsequenzen ermessen?
Hier gibt es einige Überraschungen und vieles, was noch weitgehend unerkundetes Terrain ist. Etwa wenn wir fragen, was selbstlernende Systeme für die Gegenwart und Zukunft des menschlichen Lernens bedeuten. Oder wenn wir uns anschauen wollen, wie das KI-getriebene Zirkulieren von Waren – etwa wie es von Amazon perfektioniert worden ist – auf das Zirkulieren von Menschen übertragen werden soll, insbesondere auf das Zirkulieren von billiger und flexibler Arbeitskraft (in der Migrationsforschung gilt der so genannte „Sommer der Migration“ (2015) als Schlüsselmoment dieser Verschiebung, die als Logistifizierung des Migrationsmanagements reflektiert wird).
Oder wenn wir nach dem Entstehen von Gemeinschaften fragen, und dabei nicht nur die KI-getriebene Echokammern des Rechtspopulismus ins Blickfeld rücken, sondern auch prototypische Störfälle in KI-getriebenen Systemen, wie etwa im Zuge der Regenschirm-Revolution des Jahres 2014 in Hongkong eher zufällig und gegen den ursprünglichen Sinn der Technologie für emanzipative Zwecke zum Tragen gekommen.
Grasswurzel-Grundlagenforschung
All das soll Grasswurzel-Grundlagenforschung ermöglichen – nicht zuletzt im Hinblick auf handhabbare und zukunftsweisende Mikrostrategien. Wir wissen bereits einiges: neben der eingangs skizzierten Geschichte von KI sind auch diverse Konsequenzen bekannt, wie etwa, dass in zusehends automatisierten Arbeitsprozessen Menschen durch intelligente Maschinen ersetzt bzw. Menschen zu vollstreckenden Maschinen degradiert werden; oder, dass KI ohne Aufsicht und Kontrolle weitreichende Probleme verursachen kann – in Form von selbstlernenden Schadprogrammen wie Mirai oder Stuxnet oder in der Gestalt von „Keep Calm and Rape A Lot“-T-Shirts, die durch Algorithmen automatisch generiert und daraufhin auf Amazon angeboten worden sind. Doch wir sollten auch unser Nicht-Wissen zur Kenntnis nehmen.
Das führt auch zur Anerkennung unserer Grenzen in puncto Handlungsmacht und der Notwendigkeit, Agency im Wechselspiel mit der gesamten Umwelt zu entwickeln. Nur so können wir eine aktuell relevante Idee von Agency entwickeln. Machen wir uns nichts vor: Wir haben „schon lange“ eine gemeinsame Agency von Mensch und Technik. Wir haben „schon immer“ als Menschen mit anderen Menschen und auch mit anderen Spezies und Organismen zusammengelebt und in Abhängigkeit voneinander gehandelt – nur dass dieses „Mit“ eben nicht „schon lange“ bzw. „schon immer“ Teil unserer gesellschaftlichen Selbstbilder gewesen ist.
Heute, im Moment der Krise der Handlungsfähigkeit, könnte sich ein Raum oder eine Möglichkeit eröffnen, dieses „Mit“ präsenter zu machen und zugleich zu politisieren, um die Ausgestaltung des „Mit“ zu einer kollaborativen Angelegenheit zu machen. Ausgangspunkt ist allerdings nicht die Annahme, dass alle mit Agency zur Welt kommen – nein, wir können politische Handlungsfähigkeit als solche heute nicht für gegeben annehmen.
Weder für uns im vermeintlich aufgeklärten Europa, noch für alle anderen, die in Regionen leben, die einst die vermeintlich rückständigen Projektionsflächen der Aufklärung waren. Stattdessen sollten wir uns fragen, wie wir alle Träger von Agency werden können – frei von jedweder Diskriminierung. Also sollten wir Entstehungsprozesse politischer (d.h. immer auch kollektiver) Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen von Autokratie und omnipräsenter und gleichzeitig schwer fassbarer/verstehbarer KI ins Blickfeld rücken. Es wäre ein Anfang.
Anm. d. Red.: Lesen Sie hier den ersten Teil des Essays. Die Berliner-Gazette-Jahreskonferenz Ambient Revolts stellt politische Handlungsfähigkeit in Zeiten von Autokraten und Künstlicher Intelligenz zur Diskussion, im Berliner ZK/U – Center for Arts and Urbanistics, vom 8.-10. November, 2018. Dort werden auch fünf dreitägige Workshops zum Thema stattfinden, für die Sie sich bis zum 20. Oktober anmelden können. Mehr Infos auf der Konferenz-Webseite: https://ambient-revolts.berlinergazette.de. Der Autor dankt Frauke Mahrt-Thomsen für das kritische Nachfragen sowie Chris Piallat, Nina Pohler, Michael Prinzinger und Magdalena Taube für ergänzende Hinweise. Die Fotos oben stammt vom Autor und steht unter CC-Lizenz.