Work-Life Balance? Arbeiter*innen als Akteure einer ökologischen und sozialen Transformation jenseits von Wachstum

Angesichts des Zusammenbruchs ökologischer und ökonomischer Systeme könnten Arbeiter*innen zu den Hauptakteuren der notwendigen Transformation werden, weil ihr Leben sich unter dem aktuellen Druck am dramatischsten verändern wird, und weil sie gleichzeitig über das Wissen verfügen, das erforderlich ist, um die Umgestaltung unseres Produktionssystems umzusetzen. Nationale und internationale Gewerkschaften könnten die Arbeiter*innen entlang der gesamten globalen Wertschöpfungskette einbeziehen und dabei eine Kooperation zwischen Arbeiter*innen im globalen Norden und Süden ermöglichen, argumentiert Nora Räthzel in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “Allied Grounds”.

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“Ich arbeite um zu leben, aber welchen Sinn hat das, wenn ich nicht leben kann?”, fragt Alexis, ein Arbeiter in einer spanischen Kupferfabrik, und erklärt, warum er jetzt Überstunden ablehnt. Wenn wir auf die vielfältigen Bedürfnisse der Arbeiter*innen hören, können wir das Mantra “keine Arbeitsplätze ohne Wachstum” überwinden und einen ökologisch und sozial gerechten Wandel herbeiführen, der nicht vom Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) abhängt.

Aufgrund der herrschenden Produktionsweise, die unbegrenztes Wachstum postuliert, sind wir mit einer Krise des Lebens auf der Erde konfrontiert: globale Erwärmung, Wasserknappheit und -verschmutzung, Übersäuerung und Erwärmung der Ozeane, Zerstörung von Ackerland und der Verlust von Wäldern und biologischer Vielfalt gefährden das Leben der Menschen und aller anderen Lebewesen. Die derzeitigen grünen Politiken fokussieren vor allem auf neue Technologien in dem Glauben, dass “grünes Wachstum” die Lösung ist. Neue Technologien können nützlich sein. Doch wenn man ihren ökologischen Fußabdruck in Form von Materialien, Transport und Abfall berücksichtigt, erweisen sich viele von ihnen eher als Krisenverstärker denn als Lösung. Zudem führen neue Technologien, die effizienter produzieren zu erhöhter Nachfrage, deren Befriedigung wiederum mehr Ressourcen und Energie erfordert.

Angesichts dessen sitzen Gewerkschaften in einer Falle: Ein grünes BIP-Wachstum und die Entwicklung neuer Technologien scheinen der einzige Ausweg aus einer Zukunft mit hoher Arbeitslosigkeit, wachsender Ungleichheit und einem schwindenden Sozialstaat zu sein. Doch das BIP-Wachstum wird die ökologische Krise fortsetzen, was wiederum mehr Arbeitsplätze, und mehr Menschenleben kosten wird.

Schauen wir genauer hin, sind die Bedürfnisse der Arbeiter*innen komplexer. Sie fürchten zwar den Verlust ihres Arbeitsplatzes, würden aber auch lieber weniger arbeiten und gesellschaftlich nützliche Produkte herzustellen, die die Natur nicht zerstören. Arbeiter*innen haben immer wieder bewiesen, dass sie über das Wissen, die Kreativität und den Einfallsreichtum verfügen, um zu Akteuren eines tiefgreifenden Wandels zu werden. Orientieren wir uns an William Faulkner, der sagte: “Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen” und beginnen wir mit einem kurzen Blick in die Geschichte.

Arbeiter*innen wollen Brot… und Rosen

Die Mitte des 19. Jahrhunderts gegründeten Gewerkschaften kämpften für angemessene Löhne, Arbeitsplatzsicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Aber sie kämpften auch für eine Verkürzung der Arbeitszeit. Die Arbeiter*innen – Frauen, Männer und Kinder – schufteten 12 bis 16 Stunden am Tag. Es blieb keine Zeit zum Leben, zum Lebensgenuss. Gewerkschafterinnen in der Frauenwahlrechtsbewegung beschrieben die ganze Bandbreite der Bedürfnisse der Arbeiterinnen: “Die Frau ist das mütterliche Element der Welt und ihre Stimme wird dazu beitragen, die Zeit zu verkürzen, bis das Brot des Lebens, ein zu Hause, Schutz und Sicherheit, und die Rosen des Lebens, Musik, Bildung, Natur und Bücher, das Erbe eines jeden Kindes sein werden, das in dem Land geboren wird, in dessen Regierung sie ein Mitspracherecht hat”. (Helen Todd: “Getting out the Vote”, 1911)Im Jahr 1913 forderte ein Streik von 20.000 meist weiblicher, migrantischer Fabrikarbeiter*innen in Lawrence, USA, “Brot und Rosen”.

Weniger arbeiten, mehr leben: Post-Wachstum im Alltag

Heute leiden Arbeiter*innen unter Burn-out; sie wollen weniger arbeiten und mehr Zeit mit ihren Freund*innen verbringen. In den Niederlanden arbeiten 75 Prozent der Frauen Teilzeit, weil sie es wollen, auch wenn sie dadurch weniger verdienen. Millennials bevorzugen eine ausgewogene Work-Life-Balance statt höherer Gehälter. Eine Studie über Tech-Beschäftigte in Spanien ergab, dass von denjenigen, die ihr Arbeitsleben ändern wollten, 64,5 % der Frauen und 56,7 % der Männer weniger arbeiten wollten.

Die Verkürzung der Lohnarbeitszeit, um die Produktion zu reduzieren, den Arbeiter*innen mehr Zeit für andere Tätigkeiten zu geben und die Arbeit zu verteilen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden, sind einige der wichtigsten Vorschläge der  Degrowth-Bewegung. Als Ausgleich für die Verringerung der bezahlten Arbeit schlagen sie vor: ein universelles Grundeinkommen, freien Zugang zu sozialen Dienstleistungen, eine Begrenzung der Wohnungsmieten und ein Mindesteinkommen.

Produzent*innenstolz: Arbeiter*innen konvertieren ihre Arbeitsplätze

In den 1970er Jahren beschäftigte der britische Konzern Lucas Aerospace 18.000 Arbeiter*innen in 17 Fabriken, die vor allem militärische Ausrüstung herstellten. Die Labour-Regierung kürzte die Militärausgaben, und Lucas Aerospace plante die Entlassung Tausender Arbeiter*innen angeblich um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Mehrschichtige Collage: Arbeiter*innen, die gegen die Waffenproduktion bei Lucas Aerospace protestieren und „sozial nützliche Arbeit“ fordern; Ausschnitte aus dem Plakat „Alternativen sind möglich“, das den Erfolg des Arbeiterprotests zur Einstellung der Produktion von Panzern zugunsten von Landmaschinen illustriert; Frauen, die bei Lucas Aerospace arbeiten. Kunstwerk: Colnate Group, 2023 (cc by nc).
Artwork: Colnate Group, 2023 (cc by nc).

Das “Lucas Aerospace Combine Shop Stewards Committee“, das sich aus den Gewerkschaften der Arbeiter*innen und Angestellten in allen 17 Fabriken zusammensetzte, entwickelte eine neue Strategie, um gegen diese Entlassungen zu kämpfen. Sie entwickelten einen “Alternativplan” für Produkte, die mit den vorhandenen Fähigkeiten, Materialien und Maschinen hergestellt werden konnten, um “die bislang unberücksichtigten Bedürfnisse der sozial Benachteiligten und Machtlosen zu befriedigen”. Es wurden über 100 Projekte vorgeschlagen, darunter innovative grüne Produkte wie Wärmepumpen, Solarzellentechnologie, Windturbinen und Brennstoffzellentechnologie. Die Flut von Vorschlägen für “sozial nützliche Arbeit” zeigte nicht nur die Fähigkeiten der Arbeiter*innen, sondern auch ihr Interesse, Dinge zu produzieren, auf die sie stolz sein konnten, weil die den Menschen und dem Planeten gleichermaßen nützten.

Ein Lucas-Plan für heute

Heute zeigen Arbeiter*innen des ehemaligen GKN-Werks in Florenz, wie ein Kampf um den Erhalt von Arbeitsplätzen zu einem universellen Kampf für sozial und ökologisch nützliche Produkte ohne Wachstumsnotwendigkeit werden kann. Als die Fabrik 2021 geschlossen wurde, besetzten die Arbeiter*innen die Fabrik, um für ihre Arbeitsplätze zu kämpfen. Der Kampf transformierte sich zu einem Kampf für eine Konversion ihrer Arbeitsplätze und eine andere Art zu leben. Ihr Slogan lautet #insorgiamo (erheben wir uns). Ihre Forderungen lauten: “Stoppt die Zerstörung des bebaubaren Landes, der Wasserspeicher, der nutzlosen Großproduktionen. Verstaatlichung der Autofabriken und ihre Einbindung in einen Pool, der öffentliche, ökologisch nachhaltige Verkehrsmittel produziert. Erneuerung der öffentlichen universitären Forschung, um Lösungen zu entwickeln, die ökologisch sinnvoll sind. Öffentliche, kostenlose Verkehrsmittel, Kontrolle der Lebenshaltungskosten, für Klimagerechtigkeit“. Die GKN Arbeiter*innen haben die gesamte Region in ihren Kampf einbezogen, Arbeiter*innen in ganz Italien mobilisiert und Aktivist*innen und Intellektuelle auf der ganzen Welt inspiriert.

Als sie die besetzte Fabrik für Besucher öffneten, kamen Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen. Mit ihnen und mit der Gruppe Fridays for Future entwickelten sie einen alternativen Produktionsplans für GKN. Unter anderem enthält Vorschläge für die Produktion von Solaranlagen aus lokalen Materialien und von grünem Wasserstoff. Wenn das Ziel der Produktion nicht Profit, sondern die Herstellung von Gebrauchswerten ist, verschiebt sich das Interesse von der quantitativen auf die qualitative Dimension der Arbeit. Nicht die Menge der hergestellten Produkte ist dann das Ziel, sondern ihre Nützlichkeit. Die Arbeit wird zur Quelle der Befriedigung.

Reden ist gut, Zuhören ist notwendig: Transformative Strategien von unten entwickeln

Zunehmend erleben wir, dass das Leben auf der Erde in die Krise geraten ist. Dies könnte der Moment einer politischen Kehrtwende sein, der Moment, in dem die Arbeiter*innen selbst zu Hauptakteuren einer solchen Kehrtwende werden und den Weg zu einer ökologischen und sozialen Transformation öffnen. Denn sie sind diejenigen, deren Leben sich am dramatischsten verändern wird: zum Negativen, wenn die ökologische Krise sich verschärft, zum Positiven, wenn sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse nutzen, um zur Transformation der Arbeitsprozesse beizutragen.

Die Aufgabe besteht darin, von unten, von den Arbeiter*innen initiierte Transformationsprozesse in Gangz zu setzen und diese dann auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene zu institutionalisieren. Ansätze dazu gibt es bereits. Gewerkschafter*innen in verschiedenen Betrieben und Sektoren schlagen z.B. Versammlungen der Arbeiter*innen vor, die Perspektiven der Transformation entwickeln. Beschäftigte der Luftfahrtindustrie in Gewerkschaft UNITE argumentieren:

“Ein offener und demokratischer Diskusssionsprozess, in dem Empfehlungen erarbeitet werden, die die Perspektive der Arbeiter*innen einbeziehen, führt am ehesten zum Erfolg. Die Rolle der Gewerkschaften sollte darin bestehen, diese Dialoge zu fördern, positive Vorschläge zu bestärken, und zwar innerhalb Sektoren und zwischen den Sektoren. Die Gewerkschaft muss “Arbeiter*innenversammlungen” unterstützen, um unabhängige, von den Arbeiter*innen selbst entwickelte Visionen einer nachhaltigen Zukunft für jeden Industriesektor zu erarbeiten.”

Die Rolle der Gewerkschaften: Organisation von Arbeiter*innenversammlungen auf Betriebsebene

Die schottischen Öl- und Gasarbeiter*innen schreiben: “Sozialpartnerschaftliche Instrumente ähnlich der Kommissionen für just transitions haben den Ausstieg aus dem Kohlebergbau in Ländern wie Deutschland und Spanien gesteuert. Gewerkschaften und lokale Regierungen waren daran beteiligt und sicherten die Verbesserung der Infrastruktur und die Schaffung von alternativen Arbeitsplätzen zu, aber es gab keinen Mechanismus, mit dem die Arbeiter*innen selbst in die Planung einbezogen werden konnten.”

Die Gewerkschaften sind die Akteure, die solche Arbeiter*innenversammlungen auf lokaler und regionaler Ebene organisieren könnten. Ausgehend von den allgemeinen Fragen, wie die Arbeiter*innen in Zukunft leben und arbeiten wollen, könnten sie konkreter werden und ihre jeweiligen Arbeitsplätze analysieren: Welches ist der ökologische Fußabdruck des Arbeitsplatzes? Welchen Nutzen hat das Produkt, für wen, und wie viel wird benötigt? Woher kommen die Materialien, Werkzeuge, Maschinen, wohin geht das Produkt, wenn es verbraucht ist?

Solche Fragen würden die Arbeiter*innen entlang der Wertschöpfungskette im Globalen Norden und Süden einbeziehen und diese in die Planungsprozesse einbeziehen – eine Perspektive, die in den meisten gewerkschaftlichen Just Transition-Plänen nicht enthalten ist. Die Einbeziehung von Forscher*innen und anderen Expert*innen in diese Versammlungen, wie es die GKN-Beschäftigten taten, würde die Arbeiter*innen darin unterstützen, einen umfassenden, praktikablen Plan zu entwickeln, der Vorschläge für Veränderungen auf betrieblicher Ebene mit Vorschlägen für Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene verbindet und die internationale Solidarität der Arbeiter*innen entwickelt.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist ein Beitrag zur Textreihe “Allied Grounds” der Berliner Gazette. Weitere Inhalte finden Sie auf der “Allied Grounds”-Website. Schauen Sie mal rein: https://berlinergazette.de/de/projects/allied-grounds/

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