Ob Wall Street oder Scientology – Anonymous schrecken vor keinem Gegner zurück. Die maskierten Kämpfer (siehe Bild) setzen sich für Meinungsfreiheit sowie soziale Gerechtigkeit ein und sind gerade dabei zum Inbegriff des vernetzten Protests zu werden. Doch wie funktioniert eine Bewegung, hinter der weder eine Gruppe noch ein Netzwerk, sondern mehrere Schwärme stehen? Medientheoretiker und Berliner Gazette-Autor Felix Stalder stellt die spektakulären Aktionen in einen größeren Zusammenhang.
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Sie häufen sich in letzter Zeit, die digitalen Angriffe von Hackern, die unter dem kollektiven Pseudonym “Anonymous” für Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit eintreten. Anfang Januar traf es die Internetseite des globalen Stahlkonzerns ArcelorMittal in Belgien – das Unternehmen hatte ein Hüttenwerk in Lüttich geschlossen und die Arbeiter entlassen. Im Dezember 2011 veröffentlichten mutmaßliche Anonymous-Hacker die privaten Daten von zehntausenden Kunden von Stratfor, einem US-amerikanischen Unternehmen für geopolitische Analysen, das von Kritikern auch als “Schatten-CIA” bezeichnet wird; im August 2011 wurde die Seite des syrischen Verteidigungsministeriums gehackt; und im Juni traf es die Website der spanischen Polizei, die kurz zuvor drei vermeintliche Anonymous-Aktivisten verhaftet hatte.
Darüber, wer sich hinter der Anonymous-Maske verbirgt, wird viel spekuliert: Stecken Elitehacker dahinter oder nur unbedarfte Jugendliche oder gar gefährliche Cyberterroristen? An allem könnte etwas dran sein, nur wird dabei das zentrale Merkmal des Gesamtphänomens glatt übersehen: Anonymous ist nämlich nicht eins, sondern viele. Hier agiert keine Gruppe oder ein Netzwerk, sondern ein Schwarm oder, noch präziser: mehrere Schwärme, die einander verstärken.
Im Grunde genommen ist Anonymous ein, wenn auch extremes Beispiel für die großen Protestbewegungen, die im Laufe des letzten Jahres in der arabischen Welt, Israel, Europa und in den USA entstanden sind. Die Unterschiede zwischen diesen neuen Bewegungen und den politischen Systemen, gegen die sie opponieren, werden insbesondere an ihren andersartigen Organisationsformen deutlich: Auf der einen Seite stehen hierarchische Strukturen, die auf dem Prinzip der Repräsentation basieren, indem durch Wahlen legitimierte Regierende im Namen aller entscheiden – mit der Einschränkung, dass diese Legitimität durch Korruption, Vetternwirtschaft und Missachtung der institutionalisierten Gewaltenteilung in vielen Fällen geschwächt wurde.
Auf der anderen Seite stehen Kollektive ohne Anführer an ihrer Spitze, die das Prinzip der Repräsentation ablehnen und die direkte Teilhabe an konkreten Projekten favorisieren. Hier basieren Entscheidungen über bestimmte Themen auf dem ad hoc getroffenen Konsens statt auf der nach bestimmten Regeln ermittelten Stimmenmehrheit. Das Verhalten dieses neuen Kollektivs entzieht sich der Logik der etablierten politischen Institutionen, deren Vertreter es gewohnt sind, auf konkrete Forderungen zu reagieren.
Schwärme – Rebellion im Netz
Einfach gesagt stellt der Schwarm eine vorübergehende Gemeinschaft aus unabhängigen Individuen dar, die sich mit simplen Mitteln und Regeln horizontal organisieren. “Die Komplexität entsteht aus dem meritokratischen Prinzip, das bestimmt, wie der Schwarm operiert und als Organismus handelt”, erklärt Rick Falkvinge, Mitbegründer der schwedischen Piratenpartei. “Weil die Teilnahme an einem Schwarm freiwillig ist und die Leute hoffen, dass sie hier etwas für sie Wichtiges verändern können, besteht die einzige Art von Führung darin, sie zum Handeln zu inspirieren.” Die Stärke des Schwarms ruht auf der Menge der Teilnehmer und der Bündelung ihrer vereinzelten, voneinander unabhängigen Bemühungen.
Der Experte für soziale Medien, Clay Shirky, hat drei unabdingbare Voraussetzungen für das Entstehen einer solchen lose organisierten Kooperation identifiziert: das Versprechen, die Mittel und die Vereinbarung. Das Versprechen dient als Auslöser zum Handeln. Es muss für eine genügende Anzahl von Menschen relevant und erreichbar erscheinen. Das digitale Werkzeug ist heute online leicht verfügbar, wie die berühmte Open-Source-Software “Low Orbit Ion Cannon” (Loic), die nach der Ionenkanone aus dem Science-Fiction-Klassiker “Krieg der Sterne” benannt wurde. In Foren, Wikis oder Chats kann die vielstimmige Kommunikation über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden. Mit der Vereinbarung akzeptiert man die Bedingungen für den Eintritt in den kollektiven Handlungsraum.
Nur wenn die drei Voraussetzungen für eine große Zahl von Nutzern erfüllt sind – ein attraktives Versprechen, verfügbare Werkzeuge und eine nicht zu umständliche Vereinbarung -, kann die Kooperation beginnen. Das Ganze ist jedoch nie statisch und unabänderlich, so kann etwa der Schwarm wachsen, die Richtung wechseln oder auseinanderfallen. Damit solche Schwärme nicht zu chaotischen und kurzlebigen Angelegenheiten werden, muss es ein viertes Element geben, einen gemeinsamen Horizont, der “es den verstreuten Mitgliedern eines Netzwerks erlaubt, sich gegenseitig als Teil eines gemeinsamen Universums von Bezügen und Vorstellungen zu erkennen”, wie der Kulturkritiker Brian Holmes erklärt.
Skuriler Humor, Antiautoritarismus und tabufreie Rede
Anonymous ist also eine Serie von Schwärmen. Jeder Schwarm organisiert sich rund um einen bestimmten Aufruf zum Handeln, agiert unabhängig von den anderen und muss seine eigene Kombination aus Versprechen, digitalem Werkzeug und Vereinbarung bilden, um die Nutzer anzuziehen. Doch gleichzeitig sind die Schwärme dadurch vereint, dass sie sich gegenseitig unterstützen und unter derselben offenen Identität operieren, die aus wenigen, ziemlich allgemeinen Slogans, grafischen Elementen und kulturellen Referenzpunkten besteht. Jeder kann diese Identität wie eine Maske tragen, aber Anonymous zu sein, ergibt nur Sinn, wenn einem die sehr spezielle Mischung aus skurrilem Humor, Antiautoritarismus und tabufreier Rede zusagt, die sich Anonymous im Laufe der Zeit angeeignet hat.
Trotz der vielen Versuche, das “Internet zu zivilisieren” – ein Vorsatz, den zuletzt Nicolas Sarkozy beim G-8-Treffen im Mai 2011 in Paris bekräftigt hat -, existieren weiterhin im Web dunkle Ecken, in denen alles erlaubt ist. Von besonderer Bedeutung für Anonymous ist die Website 4chan.org, ein technisch einfaches, aber sehr beliebtes Onlineforum, das 2003 gegründet wurde. Dort können Bilder und Texte eingestellt werden, ohne dass man sich registrieren muss – sie erscheinen unter der Identität “anonymous”. Das aktivste Forum der Seite, /b/-Random, beinhaltet explizit keinerlei Regeln für Postings. Zudem hat die Seite keinen Speicher, so dass alle Beiträge, die keine Antworten erhalten, in der Rangliste immer tiefer rutschen und letztendlich gelöscht werden – meist innerhalb von Minuten.
Der einzige Speicher existiert in den Erinnerungen der Nutzer. Somit verschwindet alles, was nicht leicht erinnerbar ist und wiederholt werden kann. Um ein schnelles Verschwinden zu verhindern, werden täglich hunderte Beiträge in Form von Aktionsaufrufen formuliert, zum Beispiel der Vorschlag, einen willkürlich ausgewählten Wikipedia-Artikel zu verunstalten. Wenn der Aufruf genügend Leute anzieht, wird sich ein kleiner Schwarm auf den Artikel stürzen – einfach nur zum Spaß.
Tom Cruise, Guy Fawkes und Meinungsfreiheit
Aufgrund der Notwendigkeit, Dinge durch Wiederholung und Mitmachen am Leben zu erhalten, ist mit der Zeit eine kollektive Kultur entstanden, die auf Individualität oder Herkunftsangaben verzichtet. Innerhalb von fünf Jahren wurde aus dem technischen Platzhalter “anonymous” die kollektive Identität “Anonymous”. Der gemeinsame Nenner ist ein sehr starkes, geradezu bedingungsloses Bekenntnis zur Meinungsfreiheit, verbunden mit einem tiefen Misstrauen gegenüber jeder Form von Autorität, die versucht, diese Freiheit zu begrenzen.
Es war daher kein Zufall, als eine Gruppe im Winter 2008 begann, die Anonymous-Identität für eine Kampagne gegen Scientology zu nutzen, die schon seit Jahren von Hackern bekämpft wird. Die Cyberaktivisten haben immer wieder Insiderinformationen über Betrug und Manipulation veröffentlicht, während Scientology jeweils beachtliche Ressourcen aufwendete, um solche Informationen zu unterdrücken und das persönliche Ansehen ihrer Kritiker zu zerstören. Anonymous beteiligte sich an dem Kampf, nachdem Scientology versucht hatte, die Verbreitung eines internen Motivationsvideos zu unterbinden, in dem der Filmstar Tom Cruise – ein hochrangiges Mitglied – einen geistig verwirrten Eindruck macht. Als Antwort auf die üblichen juristischen Drohungen wurde ein nicht ganz ernst gemeintes Video verbreitet, in dem Anonymous die Zerstörung von Scientology ankündigte.
Nach einer heftigen Debatte auf mehreren Chatforen – ein wichtiger Teil der Infrastruktur spontaner Echtzeitkoordination – wurden nicht nur Onlineaktionen gegen die Scientology-Website koordiniert, sondern auch ein globaler Aktionstag ins Leben gerufen. Am 18. Februar 2008 gingen in mehr als 90 Städten in den USA, Europa, Australien und Neuseeland Scientology-Gegner auf die Straße. Um sich gegen eventuelle Racheaktionen der Organisation zu schützen, tarnten sich viele Teilnehmer mit der inzwischen berühmten Guy-Fawkes-Maske – eine Anspielung auf den anarchistischen Rebellen aus der Comicserie “V for Vendetta”. An diesem Tag trafen sich Anonymous-Aktivisten zum ersten Mal außerhalb des Internets und solidarisierten sich mit anderen Protestgruppen. Aus Spaß wurde Ernst.
Diese Proteste blieben in den folgenden zwei Jahren der politische Fokus von Anonymous. Im September 2010 entstand mit der Operation “Payback” ein weiterer Anonymous-Schwarm. Er begann als Angriff auf die indische Firma Aiplex Software, die engagiert worden war, um Tauschbörsen wie The Pirate Bay zu zerstören. Payback weitete sich schnell auf die Website von MPAA (Motion Picture Association of America) und andere Pro-Copyright-Organisationen aus. Die Aktionen standen unter dem gemeinsamen Motto: “Sie sprechen von Piraterie, wir nennen es Freiheit.”
Anonymous goes Wallstreet
Im Zuge der “Payback”-Operation wurde Anonymous stärker politisiert sowie technisch und strategisch versierter. Im Dezember 2010, nachdem WikiLeaks von Spenden abgeschnitten worden war, formierte sich Operation Payback neu und hackte die Websites von MasterCard, Visa, PayPal und der Bank of America. Im Januar 2011 konzentrierte sich Anonymous darauf, die Websites der tunesischen Regierung anzugreifen und verlieh damit den tunesischen Bloggern ein Gefühl von globaler Solidarität.
Im Laufe des Jahres 2011 vervielfältigten sich die Anonymous-Schwärme, unzählige Aktionsaufrufe kursierten. Auslöser waren oft Leute, die einfach nur Aufmerksamkeit suchten oder von der medialen Aufmerksamkeit profitieren wollten. Doch manche Aufrufe schafften es, genügend Mitstreiter anzuziehen. Am 23. August 2011 zum Beispiel veröffentlichte Anonymous ein Video, in dem zur Besetzung der Wall Street aufgerufen wurde – eine Idee, die bereits seit mehreren Wochen von der kanadischen Aktivistengruppe Adbusters verbreitet worden war. Als sich Anonymous einmischte, erhöhte sich schlagartig die Aufmerksamkeit für diesen Vorschlag, woraufhin sich mehrere unabhängige Initiativen für die Aktion zusammenschlossen. Gemeinsam begannen sie am 17. September 2011 die unbefristete Besetzung der Wall Street.
Anonymous kreiert immer wieder Slogans und Verknüpfungen, mit denen sich viele identifizieren können, wie etwa die Gleichsetzung von Medienpiraterie mit Freiheit. Den meisten etablierten Akteuren, besonders einigen NGOs, die von den einflussreichen Kräften in Politik und Gesellschaft ernst genommen werden wollen sind, solche Statements dennoch zu extrem. Aber die Radikalität von Anonymous schafft es immer wieder, latente Energien freizusetzen, wohingegen die bedächtigeren, “vernünftigeren” Statements nur lauwarme Reaktionen ernten. So erweitert sich der öffentliche Raum auch für andere Debatten, nachdem sich der politische Diskurs jahrzehntelang im engen Rahmen des Mainstreams bewegt hatte.
Diese Form von Organisation, so mächtig sie in ihrer Spontaneität auch ist, kann sich nur auf destruktive Weise mit den etablierten Institutionen auseinandersetzen. Zurzeit kann und will sie keine eigenen Alternativen schaffen. Allerdings schafft sie einen gemeinsamen, oppositionellen Horizont, der es einfacher machen könnte, zukünftige Aktionen abzustimmen. In vermeintlich stabile Wände hat sie bereits Risse geschlagen. Diese Risse in etwas Konstruktives zu verwandeln, ist die Aufgabe anderer. Zunächst hat Anonymous erfolgreich den Raum des Möglichen erweitert.
Anm.d.Red.: Weitere Beiträge zu Medienaktivismus erschienen im Rahmen eines Berliner Gazette-Seminars zum Thema. Der Beitrag oben erschien zuerst in Le Monde Diplomatique.
dieser Rundgang hat mir gefehlt!
gute plastische erklärung und einordnung des phänomens. ist ja wirklich was neues und schwer im getriebe der desinformationsregimes…
gerade wurden 4 angebliche anon-hacker festgenommen (http://www.huffingtonpost.com/2012/02/28/spain-anonymous-hackers-arrested_n_1306630.html). was bringen solche polizeiaktionen? gegen einen schwarm?!
inzwischen sind es 25 in vier Ländern:
http://www.bbc.co.uk/news/world-latin-america-17195893
@#3,4: “Spain’s interior ministry said that one of the four arrested was the alleged manager of Anonymous’ computer operations in Spain and Latin America.”
es geht also doch nicht ohne die Vorstellung von Anführern? oder besser noch: es geht nicht ohne die Vorstellung von “managern”? wie passt das zum Schwarm? die haben offenbar noch nicht soooo viel verstanden oder wir verstehen anon nicht…
auch wenn weitgehend verständlich geschrieben, so doch nicht immer verständlich in der Wertung bzw. Einordnung, da weitgehend und nahezu ausschließelich positiv gewertet, was diese A.-Bewegung da verzapft.
Dabei machen die doch auch Sachen kaputt, verursachen Schäden, deren Reparaturen teils viel Geld kosten. Warum ist hier davon nicht die Rede?
Warum werden nicht auch die (vielleicht auch unbeteiligten und unschuldigen) Opfer genannt und entsprechend eingeordnet? Ist das Schönfärberei? Oder ist der Autor der Meinung, politische Bewegungen können nun mal nicht anders, es gehöre halt dazu und man müsse das entsprechend akzeptieren?
Hallo Felix, respekt, echt guter überblick. das schwarm-konzept kenne ich bisher nur im zusammenhang mit wikipedia (dort wird das ja unter schwarmintelligenz verbucht). daher habe ich zwei fragen: 1) ist hier mit schwarm dasselbe gemeint wie im wikipedia-zusammenhang? und 2) die schwarmintelligenz ist in letzter zeit auch kritisiert worden (stichwort “digitaler maoismus” von jaron lanier) – kann man diese Kritik auf die Anonymous-Bewegung übertragen? Ich würde mich sehr über Antworten freuen, denn mich interessiert das Thema sehr!
kann mir jemand erklären, warum Chile angegriffen worden sein soll? ausgerechnet Bibliotheken dort?
@Leander Den Wikipedia Artikel finde ich nicht so hilfreich. Zunächst ist mit Schwarm eine Organisationsform gemeint, in der sich alle an einander orientieren, anstatt dass alle auf einen einzigen Anführer schauen. Daraus entsteht zunächst einmal Handlungsfähigkeit. Ob daraus auch Intelligenz entsteht, ich weiss nicht. Diese liegt wohl doch eher in der Definition der “Operation” und dem Bereitstellen der Tools. zu 2) das mit dem digitalen Maoismus finde ich bei Anonymous nicht so ausgeprägt. denn es ist ja nicht nur ein einziger Schwarm, sondern eben sehr viele, und einige der technisch/operativ komplexen Aktionen — etwas das Abhören einer Telefonkonferenz zwischen Scotland Yard und FBI waren wohl eher kleine eingeschworene Gruppen als Schwärme. Aber das grundsätzliche Problem, dass mit einer solchen Organisationsform in Grund auch Lynchjustiz betrieben werden kann, das besteht, klar.