Am Rand der Großstadt: Was hat uns die Aussteigersiedlung Eden heute noch zu sagen?

Der Versuch, der kapitalistischen Industriegesellschaft ein gesundes, selbstbestimmtes Leben auf natürlicher Grundlage entgegen zu setzen, ist fast so alt wie die Industriegesellschaft selbst. Ein schillerndes Beispiel wäre die 125 Jahre alte genossenschaftlich organisierte Obstbausiedlung Eden in Oranienburg. Doch wie kann der Versuch, das Paradies auf Erden zu errichten, Bestand haben? Vielleicht durch eine ständige Reformierung der Reformgedanken? Der Kulturkritiker und Berliner Gazette-Autor Dietrich Heißenbüttel wagt eine Bestandsaufnahme.

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Kreuzberg ist Touristenattraktion geworden, Friedrichshain Partymeile. Grundstückspreise und Mieten schießen durch die Decke. Die Pioniere der angesagten Quartiere, die hier einst neue Möglichkeitsräume entdeckten, verlassen zunehmend entnervt die Stadt, um sich in der Peripherie anzusiedeln: immer noch in Reichweite der Metropole Berlin, aber in ruhiger Abgeschiedenheit und zu noch bezahlbaren Preisen. So ging es dem Künstlerduo bankleer. Doch statt irgendwo hinzuziehen, entschieden sie sich für einen Ort, an dem dieses Hinausziehen an die Peripherie, in Stadt- und Naturnähe, bereits eine 125-jährige Tradition hat: in die Oranienburger Genossenschaftssiedlung Eden.

Damit verbanden sich Fragen: Was hat sich die „älteste noch bestehende lebensreformerische Siedlungsgenossenschaft“ (Judith Baumgarten) vom Geist ihrer Gründer bewahrt? Was ging mit den Einschnitten des Nationalsozialismus, der DDR und der Abwicklung der Ost-Ökonomie durch die Treuhand verloren? Und vor allem: Auch heute gibt es viele Bestrebungen, die denen der Lebensreformer um 1900 auf frappierende Weise ähneln.

Vegetarische und vegane Ernährung, Urban Gardening zur partiellen Selbstversorgung, neue genossenschaftliche Organisationsformen und Initiativen zur Boden- und Geldreform sind in Berlin und anderswo heute in aller Munde. Diese Themen bewegten schon die Gründerväter von Eden. Lassen sich hier neue Verbindungen knüpfen?

Solche Fragen sind nun Gegenstand des groß angelegten Projekts Re-Eden, das mit fünf über den Sommer verteilten Veranstaltungen versucht, die einstigen Ansätze mit neuen Initiativen und Akteuren kurzzuschließen, auch um mögliche Perspektiven für die Siedlung herauszuarbeiten. Das ist insofern gar nicht so einfach, als es sich nicht um den ersten Versuch handelt, die Genossenschaftssiedlung neu zu denken. Nachdem der zu DDR-Zeiten verstaatlichte Obstverwertungsbetrieb nach der Wende von der Treuhand geschlossen worden war, fanden zu Beginn des neuen Millenniums Workshops mit Architekten zu einer „ökologischen Mustersiedlung Eden“ statt. Es entstanden ein Kindergarten mit der größten Lehmbaukuppel Europas und eine Mehrgenerationen-Wohnanlage, die bis heute über einen Mangel an Bewerbungen nicht klagen kann.

Re-Eden: Kunst mit politischen Ambitionen

Allerdings war die Genossenschaft durch die Schließung des Betriebs und den Verkauf des West-Ablegers im Taunus, der die Reformhäuser mit Erzeugnissen der Marke Eden belieferte, ihrer wichtigsten Einnahmequellen beraubt. Das Kapital, das ihr aus dem Verkauf zugeflossen war, ging 2008 durch die Finanzkrise verloren. Seither streiten sich die Genossen um den richtigen Kurs. Es gibt alte Wunden, tiefe Verletzungen und nach wie vor gegensätzliche Ansichten. Hätten die Initiatoren des Projekts dies alles vorher gewusst, hätten sie vielleicht gar nicht anfangen können.

Aber sie waren neu in der Siedlung, bereits am Monte Verità den Spuren Lenins nachgegangen und beseelt von den überraschend aktuellen Gedanken der Gründer. Gut vernetzt in der Berliner Kunst- und Alternativszene, wollten sie deren Akteure nach Eden holen, um die eigenen Vorstellungen am historischen Gegenüber einer Überprüfung zu unterziehen und der heute bestehenden Siedlung durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihren Gründungsgedanken neue Anstöße zu geben.

Re-Eden ist zum einen ein Kunstprojekt. Aber hier beginnt bereits ein Vermittlungsprozess: Partizipative Kunst im öffentlichen Raum mit politischen Intentionen, wie sie die Arbeiten von bankleer kennzeichnet, ist vermutlich weit jenseits davon, was sich viele Edener unter Kunst vorstellen. Umgekehrt gibt es lokale Formen, die vielleicht nicht mit dem hohen Anspruch von Kunst verbunden waren, die einige der beteiligten Künstler*innen nun aufgreifen.

Bestes Beispiel ist die Parade „Skizze für Eden“ der Choreografinnen Elisa Zucchetti und Nandhan Molinaro (ESPZ), die das Projekt Ende Mai eröffnet hat und Ende September noch einmal am Abschluss stehen soll: In Eden gab es eine alte Tradition, das so genannte Aufwecken. Vor den periodischen Jahresfesten zogen Kinder musizierend durch die Straßen, um die Bewohner zusammenzutrommeln. Zucchetti und Molinaro griffen diese Tradition auf, indem sie mit dem Kindergarten und der Musikwerkstatt Eden, der lokalen Musikschule zusammenarbeiteten.

Dies entpuppte sich, vielleicht sogar unbeabsichtigt, als ein genialer Schachzug, weil zu solchen Aufführungen immer Eltern und Verwandte kommen. Zudem brachte Zucchetti zwei Berliner Chöre mit, in deren einem sie selbst singt und die sich auch mit dem Edener Singekreis zusammentaten, und ließen sich von der ältesten Bewohnerin der Siedlung den traditionellen Maibaumtanz zeigen. Der Erfolg war, dass der Umzug durch den zentralen Teil der Siedlung, mit drei Edener Akteuren als Paradiesvögel in fantastischen Kostümen, die offizielle 125-Jahr-Feier am Vortag beinahe in den Schatten stellte.

Lebensreform, Bodenreform und Wirtschaftsreform

Bereits im April hatten ArchitekturstudentInnen des Natural Building Lab und der Habitat Unit der TU Berlin ein Aufsehen erregendes Mobiliar für das Projekt gezimmert: geeignet als Sitzgelegenheit, um zu signalisieren, dass etwas passiert, Notizen anzubringen oder sich auf 1,50 Meter hohen Bänken sitzend über die hohen Edener Hecken hinweg zu unterhalten.

Zusammen gestellt zur „Agora“, stellten sich hier die Beteiligten vor: Künstler, die bis September weitere Projekte verwirklichen wollen, aber auch ein Gärtner aus Eden, der Workshops zur Selbstversorgung als Lebenskonzept anbietet, ebenso wie weitere Beteiligte aus der Siedlung und aus dem Großraum Berlin, die weitere Workshops zu Mikrotechnologien für regenerative Energien, Archivarbeit, zur Ressource Wasser oder zur Freinet-Pädagogik durchführen wollen.

Zwischen dem Auftakt im Mai und dem fünftägigen Abschlussfestival im September finden drei Eden-Salons statt. 1914 hat sich die Siedlung ein Wappen gegeben, bestehend aus drei stilisierten Bäumen. Sie stehen für die drei Grundprinzipien, nach denen sich die Aktivitäten der Siedlung richteten: Lebensreform, Bodenreform und Wirtschaftsreform. Jedem dieser Themen ist ein Salon gewidmet, zu dem jeweils herausragende Experten eingeladen sind.

Aber auch lokale Experten kommen zu Wort. Der erste Salon zum Thema Lebensreform hat bereits stattgefunden. Bernd Wedemeyer-Kolwe, der im vergangenen Jahr ein Buch zur Lebensreform veröffentlicht hat, ging in seiner Einführung auch auf die problematischeren Aspekte der völkischen Lebensreformer ein. Waltraud und Dieter Eisenberger, die sich unter anderem um die Ausstellung zur Geschichte Edens verdient gemacht haben, steuerten den lokalen Bezug bei.

Andrea Mischke und Anikke Knackstedt, die Schulleiterinnen der Kinderschule Oberhavel, die sich an den Prinzipien Célestin Freinets orientiert, holten das Thema Reformpädagogik aus der Zeit um 1900 in die Jetztzeit. Die Diskussion, an der auch Vertreter des Vorstands und Aufsichtsrats der Genossenschaft teilnahmen, wurde zur Aussprache, in der manche alten Enttäuschungen aufs Tapet kamen, aber zugleich Ansätze erkennbar wurden, den Streit hinter sich zu lassen und neue Ideen zu entwickeln.

Blick in die Zukunft

Nun steht am 1. Juli der zweite und am 26. August der dritte Salon an. Hier geht es um handfestere Dinge: Bodenreform, das schließt einerseits die Frage mit ein, ob die Erhöhung des Erbpachtzinses oder eine von der Genossenschaftsleitung angestrebte dichtere Bebauung von Teilen der Siedlung noch mit dem Prinzip, den Grund und Boden dauerhaft der Spekulation zu entziehen, vereinbar sei. Andererseits geht es auch um die Frage der Selbstversorgung: Die Edener Grundstücke sind darauf angelegt, eine siebenköpfige Familie zu ernähren.

Heute pflegen zwar viele Edener liebevoll ihre schönen großen Gärten, doch die meisten gehen einer Arbeit außerhalb der Siedlung nach und im Supermarkt einkaufen. Mit David Haney, der über den Gartenarchitekten Leberecht Migge geforscht hat, und Marco Clausen von den Prinzessinnengärten, soll die Frage der Selbstversorgung früher und heute zur Sprache kommen. Sabine Horlitz wird aufalternative Modelle wie Community Land Trusts und die Gründe für eine Neue Gemeinnützigkeit eingehen.

In Eden lebte ab 1911 auch Silvio Gesell, der in der Siedlung vieles von seinen Vorstellungen bereits verwirklicht sah. Gesell steht für Boden- und Wirtschaftsreform. Im Privateigentum an Grund und Boden und in der Akkumulation von Kapital sah er die Grundübel der kapitalistischen Gesellschaft, seine Freiland- und Freigeld-Theorie war für ihn ein dritter Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Heute, wo die kommunistische Welt seit bald 30 Jahren untergegangen ist und der schrankenlose Kapitalismus die Welt erneut an den Abgrund zu treiben droht, gewinnen seine Vorstellungen wieder an Resonanz.

Auf Gesell berufen sich die Anhänger von Regional- und Komplementärwährungen, die, wenn sie nicht zirkulieren, an Wert verlieren. Würde nicht ein erpresserisches Banken- und Bündnissystem dies verhindern, hätte Griechenland mit einer eigenen Währung, nur für den Gebrauch im regionalen Umfeld, für die täglichen Bedürfnisse der Menschen, längst wieder auf die Beine kommen können. Und die Gläubiger hätten dabei noch nicht einmal etwas zu verlieren, da die internationalen Handels- und Kreditverhältnisse davon unberührt blieben.

Derzeit findet global wie auch innerhalb Europas das Gegenteil statt: Die ärmeren Länder sind völlig außerstande, jemals die Kredite zurückzuzahlen, die ihnen von den Banken der reichen geradezu aufgedrängt wurden, weil diese ihr Kapital, wo aufgrund mangelnder Kaufkraft infolge von Lohndumping kein Wirtschaftswachstum entstehen kann, im Produktivbereich kaum mehr sinnvoll anlegen können. Stattdessen flüchten sie nun ins Betongold, was Grundstückspreise und Mieten in schwindelerregende Höhen treibt und selbst in den reichsten Städten der reichsten Länder Armut und Wohnsitzlosigkeit nach sich zieht.

Dabei ließe sich das Problem lösen, sogar ganz ohne revolutionären Umsturz. Dazu müsste nur der Grund und Boden in die öffentliche Hand, die ihn ohnehin durch Investitionen in die Infrastruktur erst in Wert setzt, wie der Trierer Wirtschaftsprofessor Dirk Löhr betont. Ein Ökonom, der bereits im 19. Jahrhundert den Zusammenhang zwischen Armut und ungleich verteiltem privatem Grundbesitz erkannte, war der Amerikaner Henry George. Aber auch Gesell vertrat ähnliche Positionen, indem er Grundbesitz zu Gemeinbesitz machen, damit der Spekulation entziehen und nur in Erbpacht zur Nutzung vergeben wollte. In Eden wird dies bis heute so praktiziert.

Alternative Wirtschaftsmodelle

Am dritten Eden-Salon sind zwei herausragende Kenner der Theorien Gesells und alternativer Wirtschaftsmodelle beteiligt: Werner Onken hat Gesells Werke herausgegeben, seine Biografie geschrieben und den entsprechenden Teil in der Edener Ausstellung bestückt. Er ist zugleich Redakteur der Zeitschrift für Sozialökonomie und betreut das Archiv für Geld- und Bodenreform in Oldenburg. Andreas Bangemann ist Chefredakteur der Zeitschrift Humane Wirtschaft, die regelmäßig neue Ansätze der Wirtschaftsreform diskutiert, und Geschäftsführer der Silvio-Gesell-Tagungsstätte in Wuppertal.

Um konkrete Perspektiven für die Eden-Genossenschaft auszuloten, die vor einigen Jahren steuerrechtlich den Status der Gemeinnützigkeit verloren hat, ist die Architektin Angelika Drescher geladen, die unter anderem im Büro Die Zusammenarbeiter als Projektsteuerin gemeinschaftsbasierte Vorhaben wie am Spreefeld Berlin oder im Haus der Statistik auf den Weg bringt. Ob es mit Hilfe dieser geballten Kompetenz gelingt, in Eden neue Entwicklungen anzustoßen, lässt sich natürlich nicht vorhersagen. Aber einen Versuch ist es wert, schließlich muss die Genossenschaft ohnehin versuchen, nachhaltige Perspektiven zu ihrer weiteren Entwicklung zu finden.

Anm. d. Red.: Lesen Sie in unserem Dossier Mein Berlin mehr Texte über die Veränderungen in der Hauptstadt. Das aktuelle Programm des Eden kann man sich hier anschauen. Das Foto stammt vom Autor und steht unter CC-Lizenz.

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