Die unabhängige Gewerkschaft MPRA wurde im Jahr 2018 aus fadenscheinigen Gründen durch ein Gericht in St. Petersburg verboten. Während der Kampf um die Fortsetzung ihrer Aktivitäten andauert – u.a. versuchte die MPRA kürzlich eine Demonstration durchzuführen, was aber an den Covid-19-Auflagen scheiterte – ist es an der Zeit, einen Blick auf die Geshichte dieser alternativen Arbeiter*innenorganisation zu werfen. Denn sie ist, wie Sarah Hinz und Jeremy Morris zeigen, insbesondere in Zeiten von Neo-Autoritarismus und neo-liberaler Kooptierung ein Lehrstück für Arbeiter*innenkämpfe.
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Die Arbeitsbeziehungen in Russland sind immer noch geprägt von der Ära der UdSSR. Aufgrund der ideologischen und strukturellen Unterwürfigkeit der Gewerkschaften gegenüber der Kommunistischen Partei, zeichneten und zeichnen sie sich durch eine gewisse Ruhe aus. Obwohl Privatisierung und Marktorientierung in den 1990er-Jahren Arbeitskonflikte auslösten, fiel es Gewerkschaften schwer, ihre Identität und Rolle neu zu definieren. Seit 2000 führt die Zunahme transnationaler Unternehmen zur Entstehung alternativer, aktivistischer und demokratischer Gewerkschaftsbewegungen. Obwohl weiter in der Minderheit, sind sie politisch engagiert und konfliktorientiert. Doch transnationale Arbeitgeber*innen reagieren und blockieren Versuche, gegen Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz aufzubegehren. Dieser Beitrag beleuchtet diese Dynamik am Beispiel von VW und Benteler in Kaluga im Jahr 2012. Trotz der Erfolge neuer Gewerkschaften wiegt das Erbe der UdSSR nach wie vor schwer. Putins autoritäres System ist zudem bemüht, Gewerkschaften zu kooptieren, und die Fähigkeit zu Basismobilisierungen einzuschränken.
Gewerkschaften zwischen Wohlfahrtsstaat und autoritärer Transformation
Russland hat eine lange autoritäre Geschichte. Die Industrialisierung der UdSSR unter Stalin setzte auf Zwang und Ausbeutung. Dieses Verhältnis zwischen Staat und Arbeiter*innen änderte sich in der Post-Stalin-Zeit nicht grundlegend. Wissenschaftler*innen wie Donald Filtzer, Michael Burawoy und Stephen Kotkin diskutierten, ob die Arbeiter*innen – angesichts eines mangelnden verbindenden Ventils, um kollektiv Missstände anzusprechen – Mikrotaktiken des Widerstandes anwandten, oder gingen der Frage nach warum sie – angesichts rapider Veränderungen und der Verbäuerlichung der Industrie – daran scheiterten, ein Klassenbewusstsein zu entwickeln.
Zusätzlich verkompliziert wurde dies durch die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, in dem Gewerkschaften und Betrieben die Rolle der Umverteilung zukam. Ein paternalistischer Gesellschaftsvertrag dominierte; die Arbeiter*innenschaft verzichtete zugunsten höherer Löhne und Sozialleistungen stillschweigend auf ihre potenzielle Verbandsmacht. Ihr “gesellschaftlicher Lohn” beinhaltete Wohnraum, Kindergärten und sogar subventionierte Betriebskantinen. Besonders in der Rüstungsindustrie (ein dominierender Teil der Industrieproduktion) konnte dies bis zu zwei Drittel des Einkommens ausmachen. Die Arbeiter*innenschaft betrachtete den Staat daher häufig als autoritär, aber doch “wohltätig” (Mandel 2001). Staatsbetriebe beauftragten die Gewerkschaften im Grunde mit der Verteilung von Sozialgütern. Während der Gesellschaftsvertrag infolge wirtschaftlicher Probleme der UdSSR ab den 1970er-Jahren zerfiel, ist das autoritäre Erbe von Korporatismus und Paternalismus für die Organisation und das Bewusstsein der Arbeiter*innenschaft noch immer prägend.
Als das Sowjet-System zusammenbrach, mangelte es massiv an qualifizierten Arbeitskräften. Große Streiks zeigten, dass die Arbeiter*innen in der Lage waren, ihre strukturelle Macht in Forderungen nach Demokratisierung des Arbeitsplatzes und weiter gehende Reformen zu übersetzen. Doch sogar 1989 setzten sich Gewerkschaften während eines heftigen Streiks im Kohlebergbau mit der Geschäftsführung an einen Tisch – gegen den Willen der Arbeiter*innen, die Veränderung forderten. Daraufhin entstanden unabhängige Gewerkschaften im Bergbau und in der Transport- und Automobilindustrie. Sie repräsentierten nur eine kleine Minderheit, während die “traditionellen” korporatistischen Gewerkschaften weiterhin vorherrschten und die alternative Gewerkschaftsbewegung schließlich erstickten. Die 1990er-Jahre waren von ökonomischer Unsicherheit und politischen Kämpfen geprägt. Die frustrierende Situation brachte Zyklen intensiver und verzweifelter Protestaktionen, unabhängig von den traditionellen Gewerkschaften, hervor.
Kaum Solidarität und gezielte Einschüchterung
Der Dachverband FNPR (Federatsiia Nezavisimikh Profsoiuzov Rossii, Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands) war mit rund 20 Millionen Mitgliedern im Jahr 2018 noch immer der größte seiner Art in Europa. Doch trotz zunehmender Arbeiter*innenmilitanz rufen die bürokratischen FNPR-Gewerkschaften heute kaum zum Streik oder Protest auf. Sie lehnen den Klassenkampf ab, und ihr Erfolg in der Kommunikation von Arbeiter*innenbelangen ist gering. Viele Mitgliedschaften sind unfreiwillig – ein Erbe der Zwangsmitgliedschaft in der UdSSR. Das verstärkt die “Trägheit” der Gewerkschaften und großer Teile der Arbeitswelt. Seit ihrer Gründung 1990 haben diese Organisationen vor allem ihre institutionelle “partnerschaftliche” Position verteidigt, und zwar auf Kosten der Einkommen, Arbeitsbedingungen und Sicherheit ihrer Mitglieder.
Bemerkenswert ist auch die geringe Solidarität zwischen Sektoren. Trotz trilateraler Vereinbarungen und Institutionen besteht keine Koordination zwischen Gewerkschaften und politischen Parteien. Seit den frühen 2000er-Jahren kommt ein zunehmend repressives Arbeitsgesetz und ein erstarkter Sicherheitsapparat Arbeitskonflikten zuvor, indem gezielt Aktivist*innen ins Visier genommen werden. In Schlüsselmomenten hat Putin politisch interveniert und Appelle an eine “autoritäre” Ordnung mit einer paternalistischen Rhetorik im sozialkonservativen Duktus gegenüber der Arbeiter*innenschaft und (zeitlich nicht festgelegten) Konzessionen wie bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen kombiniert.
Doch selbst die erdrückende Atmosphäre in Putins Russland kann den Arbeiter*innenwiderstand nicht völlig auslöschen. Proteste entziehen sich dem repressiven Code, verwenden die “verborgenen Transkripte” des Widerstands, individuelle Taktiken oder Onlinekampagnen. Schlüsselsektoren wie die Automobilindustrie oder Dienstleistungen, die stark von Ausbeutung geprägt sind und nicht von Traditionsgewerkschaften dominiert werden, sind Nischen neuer aktivistischer Organizer*innen. Die Fallstudie in diesem Beitrag handelt genau von dieser Chance: Wenn sich die Arbeitswelt wandelt, neue Formen von Arbeitsbeziehungen entstehen und das Gewerkschaftserbe in den Hintergrund rückt, wird die Organisation der Arbeiter*innenschaft trotz oder gerade aufgrund vieler Hindernisse zunehmend möglich.
Das Beispiel Volkswagen
Im Folgenden geht es um den in Russland dominanten deutschen Produzenten Volkswagen. 2008 eröffnete VW das Werk in Kaluga, südwestlich von Moskau. Der Fall eines erfolgreichen westeuropäischen Automobilkonzerns, der auf den russischen Markt vordringt, veranschaulicht neue Konflikt- und Verhandlungsformen zwischen Arbeiter*innen und Geschäftsführung. Da ausschließlich für den russischen Binnenmarkt produziert wird, gibt es nur wenig Verbindungen zu und Abhängigkeiten von dem Hauptsitz in Deutschland. Daher gibt es wenige Möglichkeiten, die etablierten “deutschen” Verhandlungsformen zwischen Kapital und Arbeit auf die “russischen” Arbeitsbeziehungen zu übertragen.
Unsere Daten stammen aus einer Feldforschung in der “traditionellen” Industrie der Region Kaluga seit 2009 sowie aus der Analyse neuer transnationaler Konzerne (transnational corporations, TNCs). Zusätzlich nutzt die Studie eine interviewbasierte Feldforschung von 2012–2013 zur Entwicklung alternativer Gewerkschaften in ausländischen Unternehmen, bei Automobilherstellern und Zulieferfirmen.
Neue aktivistische und konfrontative Gewerkschaften
In den 2000er-Jahren bildete sich eine neue, alternative Gewerkschaftsbewegung, die das traditionelle System der Arbeitsbeziehungen herausforderte. Mit der Zeit könnte sie in der Lage sein, das Kräfteverhältnis der Arbeitsbeziehungen zu verschieben. Dies ist jedoch verknüpft mit einer breiteren Erfahrung von Arbeiter*innen mit intensiver Neoliberalisierung und Deregulierung infolge des Eintritts transnationaler Firmen in wichtige Industriesektoren, der Überwindung paternalistischer Haltungen von Arbeitgeber*innen und Staat sowie dem Ausmaß an Zwang und Kooptierung durch die Behörden. Im Folgenden beschäftigen wir uns mit dem Machtzuwachs der Arbeiter*innen im ersten russischen VW-Werk, wo solche Entwicklungen besonders deutlich zu beobachten sind.
Obwohl der russische Automobilmarkt aufgrund des dominanten Rohstoffsektors nur 3,8% des russischen BIP ausmacht, verzeichnete er bis 2008 die höchste wertmäßige Wachstumsrate weltweit. Die Bestrebungen Russlands zur wirtschaftlichen Diversifizierung sahen vor, durch einheitliche Steuern und maßgeschneiderte Infrastruktur, ausländisches Kapital für Joint Ventures und Investitionen in die Entwicklung unbebauter Flächen anzulocken.
Die Kaluga-Region ist aufgrund ihrer Nähe zu Moskau und Westeuropa für ausländische Autobauer*innen besonders attraktiv. Als VW sich 2008 ansiedelte, taten es ihm eine Reihe weiterer wichtiger ausländischer Zulieferer*innen gleich und bescherten der Region einen erheblichen Aufschwung. Anfang der 2010er-Jahre waren bei dem heute größten ausländischen Autohersteller in Russland am Standort Kaluga rund 6.000 Arbeiter*innen beschäftigt, etwa 70% davon in der Montage. Die Fluktuation war jedoch außergewöhnlich hoch, 1.000 neue Arbeiter*innen im Jahr waren keine Seltenheit (bis die Ukraine-Krise die Nachfrage reduzierte). Das weist sowohl auf den anhaltenden Fachkräftemangel als auch die große Unzufriedenheit der Arbeiter*innen mit den intensiven Produktionsprozessen hin.
Die wachsende Bedeutung ausländischer Firmen in Russland läutete eine neue Ära für alternative Gewerkschaften ein. Diese ergriffen schnell die Gelegenheit, die Rechte und Belange der Arbeiter*innenschaft in den transnationalen Unternehmen zu thematisieren, die nicht wie die einheimischen Firmen in einem postsozialistischen Erbe verhaftet waren. Die wichtigste dieser Gewerkschaften, die MPRA (Mezhregional’nyi profsoiuz “Rabochii assotsiatsiia”, Interregionale Gewerkschaft “Arbeitervereinigung”, ehemals Interregionale Gewerkschaft der Automobilarbeiter), ging nach jahrelangen intensiven Arbeitskonflikten 2007 aus einer lokalen Gewerkschaft in einem Ford-Werk in St. Petersburg hervor. Die MPRA zählt ca. 3.000 Mitglieder aus 40 Regionen. Sie nutzt die traditionell starke betriebliche Arbeiter*innenverhandlungsmacht in der Automobilindustrie, indem sie große Gruppen von Arbeiter*innen im Produktionsprozess mobilisiert, um typische Forderungen durchzusetzen, oft unter Bezugnahme auf privilegierte Kolleg*innen in der Unternehmenszentrale.
Arbeiter*innen-Organisation bei VW
Bei VW in Kaluga erfolgte kurz nach Eröffnung eine umfassende gewerkschaftliche Organisierung durch die MPRA. Vom Management anerkannt wurde sie jedoch erst nach vier Jahren, im Zuge der ersten Tarifverhandlungen 2012, als die MPRA bereits 1.200 Mitglieder hatte. Den Erfolg verdankt sie besonders den großen Streik- und Protestaktionen für den Abschluss eines Tarifvertrags bei Benteler, einem der wichtigsten lokalen VW-Zulieferer. Seitdem ist die MPRA nicht nur bei Benteler die dominante Gewerkschaft und offizieller Tarifpartner, sondern auch bei VW. Dort verdrängte sie eine traditionelle FNPR-Gewerkschaft, die kurz nach ihr entstanden war.
Wie im Fall von VW und Benteler mobilisiert die MPRA meist für konkrete Proteste mit bisweilen unkonventionellen Mitteln, z.B. mit Dienst nach Vorschrift oder landesweiten Boykotten. Die Störung empfindlicher Wertschöpfungsketten verursacht erhebliche Kosten. Solche Kampfmaßnahmen umgehen das repressive Arbeitsrecht und somit die hohen Hürden für legale Streiks. Weniger bürokratische Barrieren innerhalb der sehr flexiblen Organisation sind auch vorteilhaft für die meist lokal tätigen Gewerkschaften.
Sowohl auf Betriebs- als auch auf Branchenebene befinden sich die Gewerkschaften noch im Lernprozess und versuchen, ihre Ressourcen in der MPRA zu stabilisieren. Für eine dauerhafte Verhandlungsmacht galt es, den unterschiedlichen Mitgliederinteressen gerecht zu werden und zugleich die Belegschaft über laufende Verhandlungen mit der Unternehmensleitung zu informieren. Die Verhandlungsmacht auf Branchenebene ist fragil, da die Tarifverträge auf Betriebe beschränkt sind. Dadurch bleiben die Aktionen der Gewerkschaften lokal, was ihren Einfluss mindert. Gewerkschafter*innen sehen überbetriebliche, verbindliche Vereinbarungen als “kaum erreichbar” an. Sie konzentrieren sich auf Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im eigenen Werk. Auch sind TNCs im Automobilsektor gemeinhin nicht in Arbeitgeberverbänden organisiert. Die MPRA hätte auf Sektor- oder Regionalebene also gar keinen Tarifpartner.
Trotz oder vielmehr aufgrund der erfolgreichen Durchsetzung von Tarifverträgen bei VW und Benteler im Jahr 2012 wurden einige Gewerkschaftsmitglieder kurz nach der Beilegung der Arbeitskonflikte von lokalen Sicherheitsdiensten zur “Extremismus”-Bekämpfung, festgenommen und befragt. Sie wurden schließlich wieder freigelassen, jedoch nicht über Sinn und Zweck der Untersuchungen informiert. Die versuchte Einschüchterung aktiver Gewerkschaftsmitglieder zeugt vom wiederauflebenden Autoritarismus im Verhältnis zwischen Staat und Arbeiter*innenschaft.
Gehen wir nochmal ein paar Jahre zurück: Von der Feindseligkeit gegenüber Gewerkschaftsarbeit zeugen auch die drastischen Arbeitsrechtsreformen von 2001, die besonders das Aktionsrecht kleinerer, alternativer Gewerkschaften beschneiden. Deren Ziel ist es, in die Politik einzugreifen und Arbeitsmarkt wie Sozialpolitik zu beeinflussen oder gar die Fähigkeit zu erlangen, soziale Unruhen zu provozieren. Das war für die Regierung Bedrohung genug, um die Änderungen schon früh im Putin-Regime zu rechtfertigen. Jede Umgestaltung des etablierten Systems böte alternativen Gewerkschaften die Möglichkeit, Einfluss zu gewinnen. Deshalb unterstützt die Regierung die Traditionsgewerkschaften als dominante Akteure, obwohl sie gesellschaftlich immer weniger Zuspruch haben.
Als kleine Gewerkschaft, die vor allem in transnationalen und Automobilunternehmen in fragmentierten Arbeitsbeziehungen agiert, ist der Spielraum der MPRA, in die breitere Arbeiter*innenklasse oder Gesellschaft zu expandieren und damit auch Arbeiter*innen anderer Branchen zu erreichen, begrenzt. Jüngste Entwicklungen, wie das Verbot der MPRA 2018 erschweren diesen Prozess. Der neuen Bewegung fällt es schwer, ihre Erfolge auf Werksebene und auch entlang von Wertschöpfungsketten in eine dauerhafte Organisationsmacht und wirklichen Einfluss auf Institutionen und Politik umzuwandeln. Letzteres wird besonders vom Autoritarismus gebremst. Ob neue Gewerkschaften nicht nur überleben, sondern sich unter den widrigen Umständen weiterentwickeln, bleibt offen. Die MPRA arbeitet jedenfalls unermüdlich weiter.
Verschiebung der Kräfteverhältnisse?
Die Entstehung neuer konfliktorientierter Gewerkschaften in Russland scheint vielversprechend. Die neuen Gewerkschaften wie in Kaluga nutzen unkonventionelle Protestformen, um sich für Arbeiter*innenbelange einzusetzen. Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den transnationalen Firmen entlang der Wertschöpfungskette sowie die unterschiedlichen nationalen, politischen und wirtschaftlichen Determinanten der ehemals sozialistischen Länder erschweren jedoch eine klare Einschätzung der Arbeiter*innenschaft und ihrer Gewerkschaften. Die Feldforschungen zeigen aber, dass sie sich erfolgreich für Arbeiter*innen eingesetzt und das etablierte System infrage gestellt haben, indem sie vor allem in ausländischen Unternehmen umfassend organisierten. Obwohl sie auf Werksebene in einigen TNCs im Automobilsektor etwa zehn Jahre lang beträchtliche Erfolge verzeichneten, sind die Aussichten auf dauerhafte Konsolidierung nicht allzu positiv.
Unsere Analyse deutet darauf hin, dass die Entwicklungen weitgehend in der hohen primären Verhandlungsmacht der Arbeiter*innenschaft in einem Sektor begründet sind, in dem Importmangel die Unternehmensspielräume einschränkt. Die MPRA verzeichnet aufgrund der fortschreitenden Verschlechterung der Beschäftigungslage in der Automobilbranche sowie der anhaltenden wirtschaftlichen Probleme in Russland einen deutlichen Mitgliederrückgang. Das hat zu einer Stagnation der Verbandsmachtgeführt. Die ausschließlich lokale Fokussierung verbaut – trotz einiger Erfolge – die Chancen auf sektorale und regionale Vereinbarungen. Dieses Hindernis setzt sich bis auf die institutionelle Ebene fort, auf der die neuen Gewerkschaften praktisch keine Möglichkeit haben, die festgefahrenen Institutionen der Arbeitsbeziehungen zu überwinden, die sich durch das anhaltende Monopol traditioneller Gewerkschaften und einen pseudopaternalistischen Staat auszeichnen.
Eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses ist daher nur langfristig zu erwarten. Ironischerweise birgt das Vorgehen des autoritären Staats das Potenzial, die Entwicklung zu beschleunigen. Die anhaltende Sparpolitik im öffentlichen Sektor hat unter den Beschäftigten der öffentlichen Dienste zu verstärkter Organisierung “von unten” geführt – 2019 wurden 20% der Arbeitsproteste von Beschäftigten im Gesundheitssektor organisiert, die höhere Löhne fordern (TsSTP 2020). Wenn aktivistische Gewerkschaften die Initiative zurückgewinnen wollen, müssen sie die Schauplätze der materiellen Produktion verlassen und an der Front kämpfen, an der die Neoliberalisierung in Russland gerade den größten Schaden anrichtet – im öffentlichen Sektor und im Bereich neuer Dienstleistungen wie Uber und Essenslieferdiensten.
Anm. d. Red.: Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des in gedruckter Fassung kürzlich im Sammelband Mehr als Arbeitskampf! (2021) erschienenen Texts.
2 Kommentare zu “Alternative Gewerkschaften in Russland: Widerstand gegen Neo-Autoritarismus und Kooptierung”