>Da ist es wieder, dieses Deutschland<, dachte ich, als ich im September letzten Jahres von der Schweiz aus mit dem Zug nach Darmstadt fuhr und beim Umsteigen in dem von Frittierfett geschwaengerten Untergeschoss des Mannheimer Hauptbahnhofs einen ueberbruehten Kaffee trank. Ich spuerte im Freudschen Sinne des Wortes etwas Unheimliches, es war das Wiedersehen mit etwas >Heimlich-Heimischen<, sprich: einem verdraengten Bekannten.
Nach Herbstlaub, Bushaeuschen, Fuenfzigerjahre-Bauten und einem von Roger-Whittaker-Sound untermalten Stadtfest fand ich mich Stunden spaeter in der Eingangshalle des Darmstaedter Landesmuseums wieder. Vergeblich versuchte ich bei den dort angestellten Garderobieren passendes Kleingeld fuer das Schliessfach einzutauschen und musste zum Wechseln schon wieder einen trostlosen Kaffee trinken. Von den im Vestibuel sitzenden Menschen kannte ich niemanden, anstelle von Infotischen und Fachpublikum waren dort nur Kinder und alte Leute. Irgendwann fuellte sich der Raum und die Besucher beugten sich mit angespannten Mienen ueber den Ablaufplan. Um vierzehn Uhr betraten wir den Ort des Geschehens im Obergeschoss: den Darmstaedter BlockBeuys.
Der BlockBeuys umfasst eine der groessten Sammlungen plastischer Arbeiten von Joseph Beuys. Seit 1969 hat der Kuenstler die Objekte und Zeichnungen in verschiedenen Etappen im Hessischen Landesmuseum zu einer begehbaren Installation zusammengefuegt, die sich ueber einen Parcours von sieben Raeumen erstreckt. Grossplastiken aus Eisen, Kupfer und Filz draengen sich dort neben Glasvitrinen, die mit Wachsabdruecken, organischen Materialien oder unbekannten chemischen Substanzen gefuellt sind. Die Dichte der Objekte, die kupferfarbene Wandbespannung und das gedaempfte Licht erzeugen eine intime Atmosphaere, in der man sich wie im Inneren einer riesigen Batterie fuehlt. Der provozierendste Eindruck ist jedoch der des Todes: im Trocknen, Zerfallen und Vergilben kann man den Dingen beim Sterben zusehen – eine Vorstellung, die jeden Museumskonservator aus dem Gleichgewicht bringt.
Im Gegensatz zu fast allen anderen Beuys-Arbeiten ist das Darmstaedter Ensemble nicht verliehen oder verkauft worden und deshalb den Besuchern in der urspruenglich vom Kuenstler eingerichteten Form zugaenglich. Dem Willen der amtierenden Museumsdirektorin nach soll sich genau das aendern. Ein Generalsanierungskonzept fuer das Museum sieht den Abbau des Blocks und dessen Neuaufbau in umgestalteten Raeumen mit frischen weissen Waenden und neuem Industriefussboden vor. Gegen diesen Beschluss hatte sich eine Initiative aus Kunsthistorikern, Freunden des Kuenstlers und besorgten Buergern gegruendet, die zu der von zahlreichen Journalisten verfolgten Diskussionsveranstaltung eingeladen hatte.
Spaetestens nach einer einleitenden >Klangmeditation<, in der wir dazu angehalten wurden, gemeinsam zu einen tiefen Ton zu summen, war mir klar, dass ich hier nicht auf einer der ueblichen Konferenzen gelandet war, sondern bei einem dieser eigenartigen sozialen Konglomerate, die das Beuyssche Oeuvre immer wieder provoziert. Zum Konzept der Veranstalter schien es zu gehoeren, eine Gemeinschaft der aesthetisch Erregten zu suggerieren, die mir uebereilt, ja naiv vorkam – ich summe nur allein in der Badewanne.
In den folgenden zwei Stunden sollte ich mein Ressentiment jedoch in einem Feuerwerk aus Vortraegen und Bekenntnissen, Statements und Fragen, Reden und Gegenreden vollends verlieren. Ergraute Professoren, junge Museumsbesucher, revolutionaer gestimmte Altlinke, Kuenstler, Hausfrauen und skeptische Beobachter redeten, stritten und tauschten zunehmend emotionsgeladen Argumente von Denkmalschutz [>der BlockBeuys ist kein Werk sondern ein architektonischer Gesamtkomplex<] ueber Pragmatik [>zweimal umziehen ist wie einmal abgebrannt<] bis hin zu Anarchie [>Beuys konsequent weiter denken, heisst: den Block abfackeln<] aus.
Je weiter die Diskussion voran schritt, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass es gar nicht mehr um Fussbodenleisten, Kabelschaechte und den Widerstand gegen die Museumsdirektorin ging. Eigentlich ging es um die Frage: Was ist Kunst? Wo beginnt und wo endet ein Werk? Und was tut es mit mir? Selbst zwanzig Jahre nach dem Tod von Joseph Beuys hatte diese sterbende Installation also noch immer die Kraft, eine diskutierende Gemeinschaft zu erzeugen. Ihre Grundlage war nicht der Konsens, sondern der Streit.