Im Mai 1989 erhielt ich den Einberufungsbefehl zur NVA. Das was dann der Ausloeser. Wir stellten sofort einen Ausreiseantrag. Mit der politischen und wirtschaftlichen Lage waren wir ja sowieso unzufrieden. Am 8. 11. 1989 hatten wir wieder einmal einen Termin bei den DDR-Behoerden. >Prinzipiell ist es natuerlich moeglich auszureisen, Herr und Frau Curth. Aber Sie muessen ein paar Bedingungen erfuellen. Wir brauchen einen Nachweis darueber, dass die Telefonrechnung bezahlt ist und dass Sie keine Kohlebestellung mehr offen haben. Ausserdem muessten Sie uns bis morgen frueh um 8 Uhr neue Passfotos vorlegen.< Das war natuerlich Schikane.
Wie die Mehrheit der DDR-Bevoelkerung hatten wir kein Telefon. Wir wohnten in einem Neubau in Berlin Hellersdorf. Oefen gab’s da ja keine. Und Passfotos in weniger als 24 Stunden? Keine Chance. Dann gab es dieses Schlupfloch. Wir wussten: jetzt oder nie. Ueber die Westmedien hatten wir erfahren, dass die tschechische Grenze zu Westdeutschland seit einigen Stunden passierbar und die Ausreise von der DDR in die CSSR ebenfalls wieder moeglich war. Am 9. November gegen 1 Uhr morgens ging es los. Klamotten fuer die naechsten Tage, eine Landkarte, alle wichtigen Papiere, etwas Geld und Schecks, ein grosses >Muenchner Hofbraeu<-Emaille-Schild, von dem wir immer noch glauben, dass es mindestens 70 Jahre alt und moeglicherweise das einzig erhaltene mit dem Bezug zu Leipzig ist und das heute noch auf dem Dachboden steht. Dann noch einen Kinderwagen mit unserer neun Monate alten Tochter Sarah darin. Wir packten alles in unseren papyrusfarbenen Trabant 601, Baujahr 1974 mit Kupfermetallic-Dach und Sonderausstattung Schiebedach. Im Morgengrauen erreichten wir dann eine Autoschlange am unteren Ende der DDR. Da standen alle an und wollten rueber. An einer Geldwechselbude hat meine Frau dann noch Geld gewechselt, damit es so aussieht, als wuerden wir in Tschechien Urlaub machen wollen, falls man uns fragt. Nach einigen Stunden waren wir in Schirnding, Bayern. Uns fiel ein Stein vom Herzen - geschafft! Und Sarah hatte den wichtigsten Moment ihres Lebens verschlafen. Zur Begruessung bekamen wir Bananen, einen Tankgutschein, eine ADAC-Landkarte und Pampers mit Belehrung ueber die richtige Anwendung. Dann schickte man uns in die Bundeswehrkaserne Hammelburg. Auf der Autobahn hatten wir nur etwas Angst, mit Trabi-Tempo 99,5 km/h von einem >Westauto< mit doppelter Geschwindigkeit gerammt zu werden, und vielleicht auch eine Panne zu haben, denn Trabi-Ersatzteile gabs im Westen keine. In Hammelburg wurde uns ein Kasernenzimmer mit Doppelstockbetten zugewiesen. Da bin ich mit meiner Frau spaet abends auf dem Gelaende herumgelaufen, als wir ploetzlich Soldaten rufen hoerten: >Kommt mal! Kommt schnell, kommt schnell her zu uns in den Fernsehraum!< Sie brachten gerade die Nachrichten im Fernsehen: In Berlin haben sie die Mauer aufgemacht. Wir haben uns beide angeschaut und gesagt: >Das kann jetzt nicht wirklich wahr sein. Das kann nicht wahr sein!< Haetten wir noch ein paar Stunden gewartet, haetten wir es einfacher haben koennen. Aber wir wussten es ja nicht. Wir dachten, dass wir bestimmt die letzten waren, die abgehauen sind. Wenn die Mauer weg ist, hat man ja keinen Grund mehr wegzugehen. Uns ging es ja auch hauptsaechlich um Reisefreiheit, und im Osten hatten wir schon fast alles gesehen. Am naechsten Tag sind wir weiter nach Nordrheinwestfalen, wo ich Verwandte hatte. Dort kamen wir ins zentrale Aufnahmelager Unna-Massen, welches seinem Namen alle Ehre machte und die Massen nicht mehr fassen konnte. Wir bekamen sofort Geld zur Ueberbrueckung. Ausweichquartier war dann die DRK-Schule in Muenster. Von da aus habe ich in Duesseldorf eine Arbeit mit Wohnung gesucht. Wir wollten ja fuer immer bleiben. Dass wir dann Anfang der 90er doch wieder zurueck sind, ahnten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht. [Dies ist der erste Text in der Reihe >Was und wie war dein persoenlicher Mauerfall?< und erscheint heute genau 20 Jahre, nachdem das Geschilderte passierte.]
Sehr interessanter Text. Wem genau ist das denn passiert?
Das ist die Geschichte meiner Eltern. Es wird wenig über die berichtet, die kurz vor dem Mauerfall noch in den Westen flüchteten/ausreisten. Und als Tochter finde ich es um so interessanter, die Geschichte(n) der eigenen Eltern zu hören und anderen zu erzählen…