Das ungelesene Potenzial

Immer wenn ich Beitraege ueber Leute wie Karl Marx lese, habe ich ein gespaltenes Gefuehl. Super, dass informiert und gut geschrieben an einen erinnert wird, dessen Werk bekannt ist wie in Berlin die nach ihm benannte Allee, aber dessen Werk eben leider selten so haeufig aufgesucht wird, wie die Berliner Karl Marx Allee und sei es nur von Touristen. >Mist<, denke ich gleichzeitig, weil ich mich frage: Fuehrt so eine gut gemeinte Vermittlung in einer Welt, die letzten Endes nur noch aus Vermittlungen zu bestehen scheint, nicht dazu, dass man sich damit begnuegt, die Vermittlung, sprich: das zusammenfassende Haeppchen zu lesen, statt das Original?

Infos zu dieser Eigenwerbung hier.

Die Theater- und Performance-Gruppe >Rimini Protokoll< stellt kongenial fest, dass die grosse Analyse von >Das Kapital< einen prominenten Platz im Kanon jener Buecher habe, die alle kennen und doch nur wenige richtig gelesen haben. Dabei habe kein anderes Buch die oekonomische Theorie und politische Wirklichkeit so entscheidend beeinflusst wie Marx’ Hauptwerk des wissenschaftlichen Sozialismus. Was tun? Warum nicht >Das Kapital< als einen dramatischen Text begreifen, dessen sieben Siegel nur mit Hilfe von acht Menschen aufgebrochen werden koennen, die mit, in und fuer dieses Werk gelebt haben?

>Rimini Protokoll< arbeiten bekanntlich gerne mit menschlichen Ready-mades und auch bei ihrem Marx-Projekt heisst es: Wer die Buehne betritt, spielt sich selbst. Die Mitglieder der Gruppe haben Menschen ausfindig gemacht, die dem Ersten Band von Karl Marx’ unvollendetem Hauptwerk etwas abgewinnen koennen, die dem schweren Text ihren Witz und ihre Biografien entgegen stemmen koennen, etc. Schliesslich: Bei diesem Buch der Buecher gehe es gar nicht darum, wie die Regie es lese, sondern wer es ueberhaupt gelesen hat, nicht so sehr darum, was darin stecke, sondern wo in der Gesellschaft es steckt, wer es benutzt und kennt, welcher politischen Couleur und wirtschaftlichen Praxis auch immer.

3 Kommentare zu “Das ungelesene Potenzial

  1. Ich finde den Ansatz interessant solche Texte wieder zugänglicher zu machen mit den Methoden wie Rimini-Protokoll sie anwendet. Ich bin keine Verfechterin von sogenannten Digest-, also vorverdauten Ausgaben von Texten (Der Zauberberg auf 5 Seiten oder so…) So ein Buch wie den Zauberberg wirklich zu lesen, von der ersten bis zur letzten Seite, das ist ein Erlebnis, das man nie wieder vergisst, wie eine Reise in eine andere Welt. Genau wie auf die Reise in die Ferne, muss man sich auf das “Lesen” einlassen. Das Problem fängt aber schon in der Schule an, wo man das Lesen gar nicht mehr richtig lernt. Zumindest hat meine Schulzeit bei mir erstmal genau das Gegenteil bewirkt – ich war von längeren Texten erstmal abgeschreckt, konnte sie nicht verstehen. Vielleicht hatte ich auch nur Pech mit den Lehrern, vielleicht ging es den anderen ganz anders?

  2. ich habe gehört, es gibt in deutschland noch immer viele menschen, die analphabeten sind – und das nicht nur im übertragenen sinne….

  3. @Samson:

    Wikipedia sagt dazu:

    “In Deutschland sind 2004 nach Schätzungen 0,6% der Erwachsenen totale sowie zwischen etwa 6,5% und 11,2% funktionale Analphabeten.”

    Als funktionaler Analphabetismus oder Illetrismus wird die Unfähigkeit bezeichnet, die Schrift im Alltag so zu gebrauchen, wie es im sozialen Kontext als selbstverständlich angesehen wird. Funktionelle Analphabeten sind Menschen, die zwar Buchstaben erkennen und durchaus in der Lage sind, ihren Namen und ein paar Worte zu schreiben, die jedoch den Sinn eines etwas längeren Textes entweder gar nicht verstehen oder nicht schnell und mühelos genug verstehen, um praktischen Nutzen davon zu haben. Eine feste Grenze zwischen „verstehen“ und „nicht verstehen“ existiert jedoch nicht.

    Auf 3 Sat gabs neulich eine Sendung zu diesem Thema, im Programmtext heisst es:

    “In Deutschland leben nach Schätzungen rund vier Millionen funktionale Analphabeten, die trotz Schulbesuch erhebliche Lese- und Rechtschreibschwächen haben. Damit haben diese Menschen nicht nur auf dem Arbeitsmarkt sehr geringe Chancen. Sie sind auch in ihrer gesamten Lebensqualität beeinträchtigt. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung liegt die Zahl der funktionalen Analphabeten in 14 von 20 untersuchten Industrieländern bei mehr als 15 Prozent.”
    http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/nano/redaktion/101964/index.html

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