„Ich würde Mathe sagen“: Lebenskünstler an der Röntgenschule, Berlin-Neukölln

Müssen wir alle so sein wie Lena Meyer-Landruth oder Mehrzad Marashi? Müssen wir im Alltag als Schauspieler eine Rolle spielen? Kann man nur auf diese Weise privat und beruflich erfolgreich sein?

Bei dem Seminar Lebenskünstler an der Röntgenschule in Berlin-Neukölln, haben die SchülerInnen der Klasse 10 A im Fach Ethik über ihren Alltag und über verschiedene Momente geschrieben, in denen sie die Rollen wechseln und, ja: sich selbst vermarkten. Dabei haben sie folgende Fragen diskutiert: Wieviel (Eigen-)Werbung muss ich machen? Was erwarten die anderen Menschen von mir? Was will ich sein? Was will ich werden? Und was kann ich von Künstlern lernen?

Zusammen mit KünstlerInnen haben sie an Selbstdarstellungen in unterschiedlichen Medien gebastelt: Selbst-Portraits in Text, Bild, Video und Musik.

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Sitzung 1, 15.9.2010 – Thema: Selbstdarstellung

Was für Medien benutzt Du im Alltag? statistische Erhebung

Was ist eine Selbstdarstellung?

Kurzgespräche mit allen SchülerInnen; pro SchülerIn eine Frage aus dem Katalog, der am Profil einer Person ausgerichtet ist; Protokollierung der Antworten; Vorstellung der Selbstdarstellungen der fiktiven Personen Hakkim und Christina, die aus dem Querschnitt aller SchülerInnen enstanden sind; Diskussion über das Ergebnis.

Was ist ein Protokoll und wie entsteht es?

Vorstellung des Interview-Formats der Berliner Gazette am Beispiel des Protokolls von Paul Thérésin (aus dem McDeutsch-Buch). Lektüre des Texts und Diskussion über Inhalt & Sprache.

Protokolle der ersten Sitzung:

Hakkim:
Ich bin 16 Jahre alt. Mein Lieblingsfach ist Englisch. Ich mag es, weil es Spaß macht und weil ich es gut kann. Manchmal spreche ich es auf der Straße. Neulich war ein Engländer bei meinem Vater zu Besuch. Nach der Schule gehe ich gerne Schwimmen. Aber nicht im Verein, einfach so, mit Freunden. Im Augenblick mache ich meinen Führerschein, deshalb schaffe ich es nicht regelmäßig schwimmen zu gehen. Beyoncé ist mein Idol. Ich mag ihre Stimme. Rihanna ist auch cool. Und Justin Timberlake – der kann toll tanzen. Später möchte ich Kfz-Mechatroniker werden. Ich will eine Ausbildung machen, um das zu lernen. Reich zu werden ist nicht mein Ziel. Ich möchte in Zukunft lieber sorgenfrei sein. In sieben Jahren werde ich zusammen mit meiner Familie nach Istanbul ziehen. Wir bauen dort ein Haus.

Christina:
Ich werde im Oktober 16. Mein Lieblingsfach: Ich würde Mathe sagen. Aber kein Kopfrechnen. Da bin ich schlecht. Ich mag zum Beispiel Pythagoras. Arbeitslehre gefällt mir auch. Am liebsten treff ich mich nach der Schule mit Freunden, chatte, gehe mit meinem Hund raus. Wie bei jedem Mädchen ist mein Hobby shoppen, schminken, schwimmen, Fahrradfahren, spiele gern mit meinem kleinen Bruder Can. Ich mag TV und gucke am liebsten Comedy-Serien auf RTL2. Familien-Comedy-Serien z.B. „Still Standing“. Da geht`s um eine Familie, die haben zwei Teenager und ein kleines Kind. Da geht`s um deren Probleme. Ich mag Will Smith und gucke Prinz von Bel Air. Das ist lustig. Mein Traumberuf: Bauingenieur. Dafür muss ich zur Schule gehen. Zuerst Abi machen. Dann Studium. Ich könnte mir die Dinge auch selbst beibringen. Ich zeichne Pläne selber, mache ein eigenes Produkt. In Zukunft möchte ich reich sein und ohne Sorgen in Berlin leben: Ich habe eine Familie; ich habe ein Kind. Ich finde es schön, als Familie zu leben. Berlin gefällt mir auf jeden Fall – es gibt sicher Orte, wo es mit Familie besser funktioniert. Berlin ist nicht die allerkinderfreundlichste Stadt.

Sitzung 2, 22.9.2010 – Thema: Rollen spielen

Frage: Welche Figur in „Verrücktes Blut“ hat Dir gefallen?

Analoge Bilderschau der Figuren aus dem Theaterstück; Stimmungsbild der Klasse über Zählungen von „Gefällt mir“-Bekundungen; Auswertung der Resonanz; Diskussion über die Figuren im Hinblick auf Kriterien: Wer spielt sich selbst? Wer spielt eine Rolle?

Welche Rolle spielst Du in Deinem Alltag am liebsten?

SchülerInnen haben 15 Minuten Zeit über ihre Rolle(n) im Alltag zu schreiben; man kann mehr als eine Lieblingsrolle haben; man kann sich an fiktionalen Rollen orientieren, etwa an jenen aus dem Stück „Verrücktes Blut“; die Antworten werden eingesammelt, abgetippt und in Protokoll-Form gebracht.

Wie könnte mein Protokoll aussehen?

Vertiefung eines Vorbilds: Fortsetzung der Lektüre des Protokolls von Paul Thérésin (aus dem McDeutsch-Buch) und Diskussion des Texts im Hinblick auf Inhalt und Sprache.

Protokolle der zweiten Sitzung (zwei Beispiele):

Fahad:
Ich spiele die Rolle von Musa, weil meine Mitschüler es sagen. Und weil mir der Name auch gefällt. Ich glaube, auf mich trifft auch Hakim zu, weil er Faxen macht und so. Ich glaube er spielt genau die Rolle, die ich auch spiele. Ich glaube, wenn er in meiner Klasse wäre, würden wir uns sehr gut verstehen. Und wenn Musa in meiner Klasse wäre, dann wäre das ein Jackpot. Das wäre die beste Klasse, die ich mir vorstellen könnte. Die beiden verarschen ja auch die Lehrer und beleidigen andere Schüler. Ich würde aber trotzdem gerne mit denen befreundet sein, weil ich glaube, dass wir uns gut verstehen würden. Und die knechten ja auch andere Schüler, das mache ich auch sehr gerne. Und die begrabschen auch andere Mädchen. Das ist schön zu hören, dass es von meiner Art noch mehr gibt. Solche Menschen wie Hassan knechte ich auch gerne. In meiner Klasse gibt es auch einen Jungen, den ich immer knechte und auch eine Mädchen-Knechtin. Ich provoziere auch gerne so wie Hakim oder Musa. Ich will jetzt noch ein paar Sätze über Bastian schreiben. Ich find ihn auch nett, weil er mit Waffen und so handelt. Und er begrabscht auch Mädchen, so richtig Playboy. Ich begrabsche auch gerne Mädchen.

Sebastian:
Ich spiele im Alltag am liebsten den Sohn. Ich helfe meinen Eltern beim Einkaufen und bei ihrer Arbeit. Wir sind Hauswart. Da haben wir viel zu tun. Im Winter helfe ich meistens bei den Treppen, so verdiene ich mein Taschengeld. Manchmal gehe ich mit dem Hund gassi. Manchmal stelle ich die Mülltonnen vor das Haus, damit die Müllabfuhr sie abholt. Es ist gut ein Sohn zu sein. Ich spiele aber auch gerne die Rolle des Kumpels. Manchmal brauch mein Kumpel Hilfe bei seinen Hausaufgaben oder wenn er sich bei bestimmten Aufgaben nicht zurecht findet. Ich bin auch gerne in der Bruder-Rolle. Meine kleine Schwester ist drei Jahre alt. Mit ihr gehe ich nach der Schule immer raus und wenn sie meine Hilfe braucht, helfe ich ihr auch oder wenn sie mit einem ihrer Spielzeuge nicht klar kommt. Ich helfe auch meinem kleinen Bruder, wenn er nicht klarkommt oder menier 11jährigen Schwester bei Mathe oder meiner 15jährigen Schwester in einem anderen Fach. Ich bin meistens ein sehr hilfsbereiter Mensch, bei bestimmten Sachen.

Sitzung 3, 29.9.2010 – Thema: „Was bin ich?“

In Anlehnung an das berühmte TV-Ratespiel, erfragen die SchülerInnen mit verbundenen Augen die zwei unterschiedlichen Berufe des Gastdozenten Marcel Eichner (Programmierer und Blogger)

Wie kann ich mich und meine Arbeit präsentieren?

Marcel Eichner stelle sich und seine Projekte vor: u.a. eine bei ihm in Auftrag gegebene Webseite für eine Modemarke und das selbstgegründete Filmfanzine horrorblog.org

Welche Rolle brauche ich zum Überleben?

Im Anschluss an die erste Schreib-Session haben SchülerInnen ihre Äußerungen zu vertiefen; sie haben zehn Minuten Zeit, um sich schriftlich darüber zu äußern; die Antworten werden eingesammelt, abgetippt und in das Protokoll eingebaut.

Wie trete ich in sozialen Netzwerken auf?

Diskussion über Facebook und Bildung von drei Gruppen: NutzerInnen, Unentschiedene/Nicht-NutzerInnen und Skeptiker/ Gegner; Diskussion in den Gruppen über die (Nicht-)Nutzung

Sitzung 4, 6.10.2010 – Thema: Facebook

Frage: Warum benutzt Du Facebook? Die Facebook-NutzerInnen in der Klasse stellen anderen SchülerInnen ihre Motivation vor: Kommunikation mit Familie und Freunden; Freunde finden; Eigenwerbung/“Fame“; Spiele.

Wie kann ich meine Facebook-Nutzung optimieren?

1) Diskussion in drei Gruppen: NutzerInnen, Unentschiedene/Nicht-NutzerInnen und Skeptiker/Gegner.
2) Arbeit im Computer-Raum in drei Gruppen; Ziel Gruppe A: Privateinstellungen optimieren; Ziel Gruppe B: Konto aktivieren/Profilfoto machen; Ziel Gruppe C: Fake-Konten erstellen zum Experimentieren. Ziel aller Gruppen: Finde Deine Klassenkameraden im Netzwerk und vernetzte Dich mit ihnen!

Sitzung 5, 17.11.2010 – Thema: Foto-Portrait

Frage: Wie stellst Du Dich gerne auf Fotos dar?

Gastdozentin Antje Majewski (begleitet von Juliane Solmsdorf) stellt sich und ihre Arbeit im Bereich der visuellen Künste dar; Schwerpunkt: Portrait.

Ziel: Vorbereitung der SchülerInnen auf die praktische Arbeit, die in der kommenden Sitzung bevorsteht: Fotoshooting: Die SchülerInnen werden sich gegenseitig fotografieren. Jede/r soll sich bis dahin überlegen, wie er/sie dabei dargestellt werden möchte (Kleidung, Accessoires, Make-up,…).

Als Inspirationsquelle dienen Modemagazine, Kataloge und Portfolios.

Erste praktische Übungen mit einer professionellen Kamera.

Sitzung 6, 24.11.2010 – Thema: Foto-Shooting

Wie inszensiere ich mich selbst vor der Kamera?

Die SchülerInnen besuchen Antje Majewskis Atelier, bauen dort ein Fotostudio auf und fotografieren sich gegenseitig. Die Auswahl der Fotos bleibt den SchülerInnen überlassen.

Sitzung 7, 24.11.2010 – Thema: Musik und ich

Künstlergespräch mit Dirk Dresselhaus alias Schneider TM: Musiker, Soundtrack-Komponist, Produzent, Klangkünstler. Austausch über Hörgewohnheiten sowie die Bedeutung von Musik im eigenen Leben/für einen selbst. Mit Hörbeispielen aus dem Werk von Dresselhaus sowie den Datenbanken der SchülerInnen.

Klangexperiment zur Frage: Was ist Musik? Was kann man mit Musik ausdrücken? Hörbeispiel einer abstraken Komposition von Dresselhaus. SchülerInnen hören mit verbundenen Augen. Kino im Kopf. Im Anschluss: Assoziationen als Tafelbild. Gespräch über Bilderwelten, Quellen, Produktionsprozesse.

Sitzung 8, 08.12.2010 – Thema: Geräusche machen Musik

Nach der Theorie-Sitzung mit Dirk Dresselhaus alias Schneider TM kommt es zur Praxis: Die SchülerInnen bekommen die Möglichkeit mit Alltagsgegenständen Geräusche zu generieren, die über technologische Filter verfremdet werden; sie hören sich selbst dabei und können die Verfremdungen steuern.

Beim Experimentieren treten jeweils zwei SchülerInnen und der Dresselhaus in einen kreativen Dialog; die anderen SchülerInnen erarbeiten derweilen Entwürfe für ein Art Work der entstehenden Musik.

Die Musik wird aufgenommen und am Ende der gesamten Gruppe vorgespielt: „Es klingt wie Karneval in Rio.“

Sitzung 9, 15.12.2010 – Thema: Video-Portrait

Gastdozent Joerg Offer (u.a. Videoregisseur für MTV) stellt sich und seine Arbeit vor – im kommerziellen und im non-profit Bereich. Am Beispiel einiger ausgesuchter Clips erklärt er wichtige Ansätze der Selbstdarstellung im Video.

Diskussion mit den SchülerInnen; im Anschluss daran stellen die SchülerInnen ihre eigenen Favoriten vor: Video-Portraits, die sie auf YouTube gesehen haben.

Abschließend bilden sich Gruppen: Besprechung möglicher Themen und Ideen für ein selbstgemachtes Video-Portrait.

Sitzung 10, 05.01.2011 – Thema: Ein Video machen

Bei einer Aufwärmübung kommen die SchülerInnen jeweils einzeln an die Tafel und schreiben Neujahrsgrüße auf, die von einem Schüler auf Video aufgenommen werden.

Zwei Ideen werden von den SchülerInnen vorgebracht und daraufhin zwei Gruppen gebildet: Gruppe 1 geht in die Hasenheide mit dem Ziel Selbst-Portraits im Freien zu drehen. Gruppe 2 (eine fiktionale Band) bleibt in der Schule, schreitet unterschiedliche Orte bis hin zum Musikzimmer ab, eine Schülerin filmt sie dabei.

Abschließend kommen beide Gruppen wieder im Klassenzimmer zusammen und tauschen sich über das Video-Experiment aus. Es wird besprochen, was mit den unterschiedlichen Videos passiert und wie bei der Kompilierung des Materials eine grundlegende Dramaturgie aussehen könnte.

Joerg Offer nimmt das Material mit und verspricht, es bis kommender Woche den Vorgaben entsprechend zu bearbeiten.

Sitzung 11, 12.01.2011 – Thema: Ausstellung planen

Die SchülerInnen sichten die Ergebnisse des Projekts: Videos, Texte, Fotos und Musik.

Das Ergebnis der Diskussion: Ein Plan für die Ausstellung entsteht. Die Fotos sollen zu einer Slideshow zusammengestellt, die Musik über Kopfhörer zugänglich gemacht, die Texte werden an die Wand gehängt und die Videos wie ein Film vorgeführt werden.

Sitzung 12, 19.01.2011 – Thema: Evaluation des Projekts

Die SchülerInnen bekommen einen Feedback-Fragenbogen zu dem Projekt und damit die Möglichkeit Kritik an dem Projekt zu üben.

Abschließendes Feedback-Gespräch über die Möglichkeiten der Vernetzung mit den anderen Schulen und über die Nachhaltigkeit des Projekts: Welche Auswirkungen kann es haben – für die SchülerInnen, für die Schule und andere Beteiligte?

Leitung des Seminars

Sarah Curth, geboren 1989 in Berlin. Schreibt Artikel für Online-Medien, u.a. für den Reiseblog SpottedByLocals. Macht ihren eigenen Weblog Lotterliebe.de. Seit 2009 arbeitet sie ehrenamtlich als Redakteurin/Autorin für die Berliner Gazette.

Krystian Woznicki, geboren 1972 in Kłodzko, Polen. Organisiert Kulturprojekte und macht seit zehn Jahren die Berliner Gazette. Er hat zwei Bücher geschrieben: den „Wissenschaftsroman“ (Aachener Zeitung) „Abschalten“ (2008) und „Wer hat Angst vor Gemeinschaft? Ein Dialog mit Jean-Luc Nancy“ (2009).

4 Kommentare zu “„Ich würde Mathe sagen“: Lebenskünstler an der Röntgenschule, Berlin-Neukölln

  1. Das klingt nach einem für die Schüler wie für die Leitenden bereichernden Seminar aus vielen guten Ideen – dank für die Dokumentation hier!

  2. @Hanjo: Das war es auf jedenfall. Es war für alle Beteiligten eine neue Erfahrung, manchmal schwierig, manchmal leicht aber vor allem spannend und aufregend!

  3. “Müssen wir alle so sein wie Lena Meyer-Landruth oder Mehrzad Marashi?”

    Um gottes willen,,wen alle so wären wie die zwei,da wäre ja die menscheit ausgestorben, sorry ne man sollte seine persönlichkeit lieber behalten.

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