Das Leben ist ein Nebenjob

Hochsommer. Meine schweißnassen, druckerschwärze- verschmierten Hände umkrallen den Fahrradlenker. Ich bin 13 und aus der Puste. Noch zwei Straßen, dann bin ich fertig.

Die Luft ist so dünn wie die Meldungen im “Wochenspiegel”, den ich an die Haushalte in Pritzwalks Norden verteile. Dann Wolkenbruch. Ich flüchte mich in einen Hauseingang in der Beethovenstraße, streife mir die klatschnassen Haare aus dem Gesicht und frage mich: “Wo bin ich hier nur hineingeraten?”

Zeitungsaustragen war mein erster Nebenjob, die erste Tätigkeit für die ich bezahlt wurde. Danach war ich Sommersekretärin im Baubüro, Verkäuferin in der Pritzwalker Tabakbörse und der Videothek Moviestar, Inventarisierungstussi, Call-Center-Agentin, Hilfskraft in der Bibliothek u.v.m.

Meine Nebenjobs wurden mit der Zeit besser: das heißt besser bezahlt und interessanter. Inzwischen spreche ich auch gar nicht mehr von Nebenjobs (die Präposition “neben” suggeriert, dass man sich nicht so viel Mühe gibt), sondern von meinen “Existenzen”.

Für immer ohne Festanstellung

Die meisten Leute, mit denen ich 2003 Abitur machte, haben heute keine Festanstellung. B. zum Beispiel arbeitet freiberuflich bei einer Unternehmensberatung. Sie hofft, das “nicht ewig machen zu müssen”. E. hat eine eigene Kneipe eröffnet und ist nach sechs Monaten Pleite gegangen. H. macht eine Ausbildung als Heilpfleger, für die er selbst bezahlen muss. Einzig C. hat einen “echten” Job beim Ordnungsamt. Neulich ist sie zum zweiten Mal Mutter geworden.

Die Leute, die ich nach dem Abitur kennenlernte, sind vornehmlich im so genannten Kulturbetrieb (Betrieb!) tätig. Denen geht es eigentlich auch nicht anders. Nehmen wir F. – er ist totunglücklich, weil er seinen Job verloren hat. Und was war das für ein Job! Maloche als Fester Freier für ein Popkulturmagazin. Dann kommt plötzlich ein Investor, alles wird verschlankt, der Umzug verordnet, der Job gestrichen.

Bücher schreiben als Therapie

Zugegegeben: F. ist kein Freund von mir, sondern heißt eigentlich Förster und ist der Protagonist in Spucke, dem Romandebüt von Ex-Spex Wolfgang Frömberg. Spucke ist – neben vielen anderen Dingen – eine Aufarbeitung von Frömbergs eigenen Erlebnissen bei der Spex, eine Art Selbsttherapie für den Gefeuerten.

Mit Spucke in der Hand, kann ich ohne Illusionen der Zukunft entgegen blicken. Ich weiß, dass sich meine Arbeitsexistenz hybrid gestalten wird und dass das, was ich gerade mache (im Moment sind es an die drei verschiedene Jobs), keine Übergangsphase ist, sondern das “echte Leben”.

Ich bin ganz cool und habe keine Angst. Nur manchmal zwickt es ein bisschen, wenn ich mich in meiner Phantasie fünf Jahre in die Zukunft beame: Kann ich mir dann Kinder “leisten”? Urlaub machen? Und gesund bleiben? Nichts ist gewisser als die Ungewissheit.

16 Kommentare zu “Das Leben ist ein Nebenjob

  1. Ich habe mal auf dem Schrottplatz der Telekom gearbeitet. Als Nebenjob im Sommer. Jeden morgen ging es um 6 Uhr los. Hat sich auch wie Zukunft angefühlt.-

  2. Ich möchte etwas generelles zu Spucke loswerden. Hab das Buch auch gelesen, hatte da ganz andere Assoziationen. Der Förster ist ein Drückeberger und jammert nur rum. Soll doch froh sein, dass er für so einen quatsch wie interviews machen bezahlt wird. Was die Nebenjobs angeht: Schon mal von digitaler Boheme gehört und wir nennen es arbeit. das haben die schon alles gesagt! Ist doch alles alter Käse. So um die drei,vier Jahre alt.

  3. @netzprofi: Aber Spucke, wenn ich es richtig verstanden habe, ist ein Gegenentwurf zur digitalen Boheme!

  4. @zk (bedeutet dein name zentralkommitee?): Gegenentwurf? Das kann ich nicht bestätigen. Dazu fehlt dem Buch die konkrete Aussage. Aber so ist wahrscheinlich Popliteratur: Der Protagonist erlebt was und dazu fällt ihm dann ein Popsong ein, der zitiert wird. Blöd nur, wenn man als Leser das Lied net kennt. Dann gibt es keine Überschneidungen. Mein Kommentar bezog sich eher auf das Thema “Nebenjobs”. Ist das Lebensmodell Nebenjob in Bezug zu aktuellen Debatten um Leben und Arbeit uz shehn?

  5. In der unter Frömberg verantworteten Spex wurde der Hype um “Wir nennen es Arbeit” nicht unterstützt. Es gab damals einen Verriss. Frömberg selbst vertritt definitiv eine Gegenposition zur digitalen Boheme. Zitat: “digitale Boheme? das ist für mich Sascha Lobo in der Vodaphone Werbung. Eine Elite, die so tut, als stehe sie für die gesamte Gesellschaft.”

  6. Während es den arbeitslosen Landarbeiter einst in die Stadt trieb, wo er im Zeitalter der Industrialisierung zum Proletarier wurde, so flüchtet der moderne Großstädter für ein erholsames Wochenende aufs Land. Während der Landarbeiter sich in die beschleunigte Welt aufmachte, versucht der Städter, aus ihr zu flüchten. Doch sicher ist, dass es für beide kein Entrinnen aus der modernen sich immer weiter beschleunigenden Gesellschaft gibt. Bot der industrielle Fortschritt dem Neu-Städter vielleicht Arbeit in einer Fabrik, so kommt der stadtflüchtige Wochenendtourist aus einer Welt der Entindustrialisierung – der modernen Dienstleistungsgesellschaft. Konnte der zum Industriearbeiter gewordene Dörfler mit einer Vollzeitstelle bis zur Rente rechnen, so hangelt sich der Erholungssuchende von Praktikum zu Praktikum oder von Job zu Job. Immer bereit, dank Handy und Laptop jederzeit erreichbar und interaktionsfähig gelingt ihm selbst in der Freizeit kein abschalten.
    Der Begriff allein ist verräterisch, setzt er doch den Menschen mit der Maschine gleich und so wie die Industrie für 24-Stunden Maschinen-Laufzeiten kämpfte, erwartet die Wirtschaft auch vom Menschen eine fast 24-stündige Verfügbarkeit. Wenn es die Technik möglich macht, wird der Mensch gezwungen, ihr zu folgen, denn Zeit ist Geld und alles muss möglichst just in time erledigt werden. Dabei hat sich die Konkurrenz durch die moderne Technik und die Öffnung der Märkte zusätzlich entgrenzt. Es ist inzwischen nicht nur jeder ein Konkurrent, nein er ist es auch zu jeder Zeit. Wenn Geld bekanntlich nicht schläft, wie kann es sich dann der Mensch leisten, eine Entwicklung zu verschlafen. Und im Bemühen, jederzeit zu funktionieren, werden die Akteure zu Egoisten und entfremden sich immer mehr voneinander. Sie finden keine Zeit mehr, Freundschaften zu pflegen, einen Lebenspartner zu suchen, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen. Wer sollte sich um die auch kümmern? Der Fernseher, der Computer, die Ganztagsschule? Dass in vielen Fällen die ersten beiden Möglichkeiten real genutzt werden, erschreckt nur noch am Rande.

  7. @ netzprofi: man sieht, wer im netz als profi gilt: derjenige, der am lautesten schreit…

  8. @Krystian: Ist das Zitat aus einer Publikation oder quasi off the record? Würde ich nämlich gerne mal lesen.

  9. @ Salvy: Das Zitat ist “off the record” aber den besagten WIR NENNEN ES ARBEIT-Verriss gibt es in der letzten Kölner Spex zu lesen.

  10. ich nochmal: lest doch mal was ich geschrieben habe. mir ging es nicht um spucke, sondern um den text von magdalena und ich frug: ist modell nebenjob hier ein weiterdenken von dem ganzen wir nennen es arbeit kram??? vielleicht kann ja mal jemand darauf antworten!!!

  11. modell king kong – jefällt mir!!! ich bin manchmal n bisschen boshaft im netz, aber eigentlich gantz handzam! also keene angst vorm großen affen!

  12. @netzprofi: Das mit dem Jammern von Förster in Spucke kann ich nicht nachvollziehen – er ist doch sehr proaktiv. Zu deinem anderen Punkt: Lebensmodell Nebenjob/ Wir nennen es Arbeit: Natürlich schwingt diese Debatte darin mit oder ich muss ab und an daran denken (neulich hat mich ein Uni-Professor gefragt: “Frau Taube, gehören Sie dazu, zu dieser ‘digitalen Boheme’?”) – die Thesen von Friebe und Lobo sind in ihrer Zuspitzung und Einfachheit eben sehr beliebt. Aber ein Weiterdenken dieses Sachverhalts ist mein Text eher nicht. Vielmehr eine Bestandsaufnahme, angeregt durch das Lesen von Spucke.
    @Dirk Rohde: Vielen Dank für den ausführlichen Hinweis. Ihre Sicht ist doch etwas pessimistisch, oder?
    @Krystian: Netzprofi/King Kong: Super Idee!

  13. Was heisst denn hier weiterdenken der digital Bohème, wenn es einfach mal so ist, dass es kaum feste Anstellungen im “Kulturbetrieb” gibt? Das ist die Realität!

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