Das Ellenbogenprinzip: Wie die Schocktherapien im Osten den Homo oeconomicus zum Stottern bringen

Die frühen 1990er, eine Kleinstadt in Sachsen. Während aus dem “Osten” quasi über Nacht ein funktionierender Teil der deutschen Volkswirtschaft werden soll und im Zuge dessen drastische Schocktherapien verordnet werden, entdecken die Leute bestimmte Körperteile neu. Insbesondere die Ellenbogen, die neuerdings ruckartig ausgefahren werden müssen – ob in Arbeitsämtern oder Kellern, die in verdeckte Geschäfte verwandelt worden sind. Manche haben Erfolg, andere scheitern. Die Theaterarbeit(en) von Johanna-Yasirra Kluhs und Tanja Krones lassen diese Leute zu Wort kommen und eine unerhörte Erzählung der Ökonomie im Osten der Nachwendezeit entstehen.  

*

Johanna: 2019 haben wir zusammen ein Stück gemacht: “Mit Echten reden 1: Das Ellenbogenprinzip”. Als Tanja von den Sophiensälen in Berlin eingeladen wurde, mit einer Theaterproduktion zu einem Festival beizutragen, das das 30-jährige Jubiläum der so genannten “Wende” thematisierte, begann sie eine Reihe von Gesprächen in ihrer Heimatstadt, die später transkribiert und in das Skript eines Theaterabends mit drei Darsteller*innen unterschiedlichen Alters verwandelt wurden. Die politischen Konflikte zwischen ihren ehemaligen Schulfreund*innen trafen Tanja.

Es ging dabei oft um Erfahrungen von Verlust, Frustration und Irritationen nach der Wende. Tanja suchte nach ihren eignen verlorenen Jugenderinnerungen, indem sie nahestehende Menschen von damals nach ihren Erinnerungen fragte. Welche Verbindungen gibt es zwischen Politik und Geschichte und den persönlichen Biographien? Ausgangspunkt für die Gespräche und das Stück war ein Mantra von damals, das sich in Tanjas Kopf festgesetzt hatte, ohne dass es einen festen Zusammenhang gab: “Du musst jetzt lernen, die Ellenbogen auszufahren”, “Du musst jetzt lernen, die Ellenbogen auszufahren”.

Ellenbogen-Choreografie

Da wir uns also intensiv mit dem Wissen und den persönlich-politischen Positionen von X Menschen aus der ehemaligen DDR beschäftigt haben, fragte uns die Berliner Gazette: Ist es möglich, aus den realen Stimmen und Biografien der Menschen eine Geschichte der Ökonomie des “Ostens” zu destillieren? Könnt ihr dabei größere Dynamiken darstellen?

Tanja: Was passierte 89/90 im Osten, in der Welt, in mir selbst, was passiert dort heute? Das sind Dinge, die ich mich gefragt habe. Also habe ich 2019 ein Projekt gestartet, ich bin nach Sachsen und Sachsen-Anhalt gefahren, habe 300 Seiten Text aus Interviews mit meiner Familie und Freunden gesammelt. Ich habe sie so aufgeschrieben, wie ich sie gehört habe. Hier stelle ich einige Menschen vor, die ich getroffen habe. Ich lasse sie reden, lasse ihre Geschichten für sich stehen.

Wie hat sich die Arbeit verändert?

Es ist zu hören: Herr T. 1990 ist er etwa 35 Jahre alt: “Du musst jetzt lernen, die Ellenbogen auszufahren. Das System, in dem wir leben, wenn du da nach oben kommen willst, dann brauchst du breite Ellenbogen. Nur mit Kuschelkurs geht nix. Schon die Kleinen kommen heute mit breiter Brust auf dich zu. Die haben ein ganz anderes Selbstvertrauen.

Manchmal is es schön, manchmal auch nicht. Ist so. Nach der Wende, da haben wir uns alle nichts zugetraut. Wir haben uns dort selber klein gemacht. Wenn sich für dieselbe Stelle zwei Mann gemeldet haben, und es wurden Gespräche geführt, dann hat immer der Wessi gewonnen. Trotz gleichen Wissensstands, die konnten das einfach besser darstellen.”

Wer macht welche Arbeit?

Es sind zu hören: Zwei Frauen, die zur Zeit der Wende Teenager waren. Yvonne und Nadja.

Yvonne: “Die kamen alle aus dem Westen! Die hatten die ‘angesehenen Positionen’ und die Anderen mussten sehen, wie sie klarkommen. Und dass das frustriert. Ich weiß nicht, ob es da Leute gab, die sich irgendwie klein gemacht gefühlt haben oder denen Anerkennung fehlte. Aber irgendwann bricht’s halt raus.”

Nadja: “Interessant ist doch die Frage, welche Einstellung man hat. Wie großzügig ist man im Leben, mit sich, mit anderen? Ich bin jemand, ich gebe immer Trinkgeld beim Bäcker. Oder dem Paketmann. Ich denk mir, dass diese Leute bestimmt unter 1000 Euro verdienen und ob ich jetzt zweiundachtzig Cent oder einen Euro hinlege – das ist mir eigentlich egal. So viel Brot kann ich gar nicht kaufen, dass mich das arm machen würde. Aber manche denken da anders, die sind so vergnatzt. Das ist aber kein Ost-West-Ding.”

Yvonne: “Es gibt hier definitiv kein Schlaraffenland, aber ich finde halt trotzdem, dass es den Leuten insgesamt gut geht. Die haben alle ihre Eigenheime, die meisten haben Jobs, machen Urlaube, haben Autos. Alle, die ich so kenne, die führen im Grunde ein gutes bürgerliches Leben.”

Nochmals: Wie hat sich die Arbeit verändert?

Wieder spricht Herr T.: “Ich hatte Verwandtschaft im Westen. Ich weiß, dass man dort arbeitslos werden kann. Das sollte mir nicht passieren und deshalb hab ich mich eben gekümmert. Es gab verschiedene Ideen: Eine Lotto-Annahmestelle eröffnen zum Beispiel. Eines Tages begegneten wir dann jemanden, der bei uns zur Kur war. Trug einen schwarzen, langen Ledermantel. Ein Weinbauer. Der hat dann natürlich seinen fetten Mercedes mit riesigem Kofferraum geöffnet und da war alles voller Weinkisten.

Und da haben wir dann – mit drei Familien insgesamt – eine Firma gegründet. Weinhandel. Ich holte mir eine Genehmigung, dass ich neben der Arbeit so etwas betreiben darf. Eigentlich kauften die Leute hier am liebsten den billigen, süßen Wein aus Ungarn. Trotzdem: Wir haben das dann über zwei Jahre so nebenher, aus dem Neubaukeller heraus gemacht. Es lief aber nicht so richtig und irgendwann haben wir das Projekt einschlafen lassen.”

Wie kamst du an Arbeit?

Es spricht Frau, Irene L.: “Ich war 39. Ich bin da einfach so mit dem Strom geschwommen. Ich bekam relativ schnell die Anfrage: “Wie sieht’s aus Frau L. als Kassentrainerin?” Und dann hatte ich einen Firmenwagen.

Ich hatte ein Vorstellungsgespräch in einer Kleinstadt in Sachsen, im Rathaus. Da waren 500 Leute und ich war die erste, die da war. Da sagten sie: ‘Die L. kommt und kommt zuerst rein und kriegt sofort ihre Papiere.’

Ich bin da reingegangen, da saß die ganze Jury. Aber schon das hat denen gereicht, meine Ausstrahlung. Die haben sich angeschaut und dann gesagt ‘hier die Papiere’. Und ich bin da raus, da saß ein Haufen Leute und ich nur: ‘Hier bitte schön, ich hab schon.'”

Anm. d. Red.: Schauen Sie sich hier die Video-Performance der beiden an.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.