Das elektrifizierte Du

Wir leben in einem Zeitalter der totalen Inszenierung. Dialoge scheinen nur noch mit einem elektrifizierten Du möglich. Nach der YouTube-Diagnose erzählt der Medientheoretiker Siegfried Zielinski im zweiten Teil seines Essays davon, wie wir einander mit peinlicher Genauigkeit fremd werden.

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Das Du trete in das Zentrum der Aufmerksamkeit, und sei es als elektrifiziertes Du. Der durch die Dialogphilosophie Martin Bubers gedanklich trainierte Flusser hat das in seinen letzten Lebensjahren als eine Möglichkeit des Einzelnen definiert, sich wieder hin zu Gott bewegen zu können, nachdem dieser in Auschwitz sein Antlitz vollends verborgen hätte. Die Begegnung mit dem Du ist in dieser Variante jüdischer Philosophie die einzige Möglichkeit, Gottes angesichtig werden zu können. Auf die Situation telematischer Vernetzung projiziert, hieße das für Flusser: von Monitor zu Monitor, von einem Bildschirm zum anderen, wenn sie einander zugeneigt sind.

1990 sagte er in einem Gespräch mit László Beke und Miklós Peternák: »Nur durch die Liebe zu meinem Nächsten kann ich Gott lieben. Dann ist das […] einzig zulässige Bild das Gesicht des Anderen. Aber das synthetische Bild […] ist die andere Person; […] durch das Computerbild kann ich zu einer anderen Person sprechen. Sie sendet mir ihr Bild, ich arbeite an ihm und schicke es zu ihr zurück – das ist das jüdische Bild. Das ist kein Götzenbild. Das ist auch kein Heidentum. Es ist die Art und Weise, wie ich meinen Nächsten liebe und durch die Liebe zu meinem Mitmenschen Gott liebe. Ich bin kein guter Ausleger des Talmuds, aber ich würde sagen, von einem bestimmten Standpunkt des Talmuds aus ist das synthetische Computerbild auf eine perfekte Art und Weise jüdisch.«

Das ist Flussers Vorstellung vom telematischen Dialog gewesen, bevor dieser massenhaft installierte Wirklichkeit geworden ist. Die konkrete Qualität der synthetischen Bilder, die Flusser dabei im Kopf hat, bleibt im Verborgenen. Dazu hat er auch in anderen Schriften nichts Wesentliches ausgeführt. Weder in der Perspektive seiner theologischen Argumentation noch in medientheoretischer Hinsicht kann es sich um repräsentative Bilder handeln. Aus dem narrativen Experiment Vampyrotheutis infernalis, das auch eine Erzählung in Bildern ist, können wir nur ableiten, dass es sich um visuelle Artefakte handelt, die eine andere Wirklichkeit herzustellen in der Lage sind als diejenige, die wir außerhalb der Bilder kennen, Wissenschaftsfiktionen zum Beispiel.

Die Film gewordene Suche nach Dialog

Der britische Regisseur Chris Petit hat die Befindlichkeit derjenigen, die zwanzig Jahre nach der Etablierung des Internets alltäglich auf der Suche nach dem Dialog mit einem fiktiven Gegenüber sind, in seinem letzten Film grandios in Szene gesetzt. Er heißt Content und ist auf den ersten Blick immer noch von der Idee getrieben, dass Kamera und Auto zwei Apparate sind, die dem gleichen dispositiven Kontext entstammen. Auf der anderen Seite verbleibt der Film ganz im Innern eines privat-intimen Lebensraums, ja, sogar im Innern des Apparats telematischer Kommunikation. Content ist in diesem Sinn Road- und Home-Movie zugleich:

»Just once, for one day in my life, I would like to feel that I and everyone speaking to me, were talking full sense.«
»I would like to fall in love before it’s too late, don’t care who with.«
»I would like a feeling of assignation to life, not sitting here calculating how many fucks I have got left. The middle-ground is hardly there anymore.«

Die totale Sichtbarkeit

Der mittlere Grund – das ist in zeitlicher Perspektive die Gegenwart. Die jugendlichen Gestalten Petits, die solche Sätze sagen, bewegen sich vor der Kamera, die in der zitierten Passage von Content eine simulierte webcam ist, wie in einem merkwürdigen Spiegelkabinett, in dem ihnen ständig jemand anderes begegnet und ihr Bild erhaschen will. Sie inszenieren sich für die totale Sichtbarkeit, innerhalb deren sie sich zur selben Zeit zu verstecken trachten: unter Hutkrempen, hinter tief in die Augen fallenden Ponies, riesigen Brillen, Kapuzen, oder indem sie ihre Gesichter von der Kamera weg ins Halbprofil drehen. Solche halbherzigen Versteckspiele sind uns – unter historisch ganz anderen Vorzeichen – von den existenzialistischen Schattenfiguren der frühen Filme von John Cassavetes, Shadows (1958) und Faces (1968), vertraut. »Technologien des Selbst« nennt Michel Foucault solche reglementierten Einübungen in Identität. Andy Warhols Fabrik in New York war das ideale Labor für die Ausbildung entsprechender Haltungen und Posen.

I’ll be your mirror

I’ll be your mirror hieß der zur Suche nach einer anderen Identität gehörende Soundtrack, den Lou Reed 1966 für Velvet Underground komponierte, und den Nico, die Ikone aus der Fabrik Warhols, kongenial auf der Bühne interpretierte: »I’ll be your mirror / Reflect what you are, in case you don’t know / I’ll be the wind, the rain and the sunset / The light on your door to show that you’re home […] Let me stand to show that you are blind / Please put down your hands / cause I see you«. Die imaginäre Überwindung der Lacan’schen Trennungen, die so viel Schmerzen verursachen, durch die romantische Wiedervereinigung der Blicke der Einen und des Anderen / des Anderen und der Einen, zumindest im ekstatischen Moment der Rock-Poesie.

Warum die romantische Idee in der Post-Romantik notwendig durch die Dispositive des Technologischen gebrochen ist, formuliert William Burroughs auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs. Das Kurzschließen der kybernetischen Schleife von Mensch und Maschine, vom Einzelnen und dem technisch basierten System, steht im Fokus seiner Streitschrift Electronic Revolution, auf deren Titel ein streunender Köter Elektrokabel aus seinem After ausscheidet: »Wenn ich sage ›Ich sein‹, ›Du sein‹; ›Ich selbst sein‹, ›Jemand anders sein‹ – gleichgültig, wie man mich auch benennen mag oder was ich von mir aussagen mag: ich bin nicht dieses verbale Etikett ›ICH‹ und kann es nicht sein […] Wenn man die Beziehung von ›Ich‹ zu ›Körper‹ wie die eines Piloten zu seiner Maschine sieht, dann erkennt man die Macht des RM-Kommandos ›Ein Körper sein‹ in ihrer ganzen verheerenden Wirkung. Wenn man dem Piloten einhämmert, er sei die Maschine – wer steuert dann die Maschine?«

Einander fremd werden – mit peinlicher Genauigkeit

In tiefer Vertrautheit mit dem anderen und mit peinlicher Genauigkeit einander fremd zu werden, mag die summa summarum einer oberflächlichen und zynischen Beobachtung zeitgenössischer junger Existenzen in den europäischen und nordamerikanischen techno-basierten Gemeinschaften sein. In der militant-radikalen Verlängerung einer rhetorischen Kernfigur Agambens feiert die französische Theoriegruppe Tiqqun gern eine derartige arbiträre Singularität. Als Kritik an der Auswirkung kybernetisch basierter Macht formuliert, birgt ein solches Konzept von Singularität die Gefahr in sich, in faschistoides Handeln umschlagen zu können. Radikale Arbitrarität kennt keine Verantwortung gegenüber dem Anderen. Sie ist bereit, die Unversehrtheit des Individuums aufs Spiel zu setzen.

Kommunikation entsteht aus der Erfahrungen von Blockade

Sicher bilden die in sozialen Netzwerken ihre Arbeits- und Restzeit Verbrauchenden keine societas im traditionellen Sinn einer verbindlichen Kommunikationsgemeinschaft. Jede Kommunikation hat ihre Herkünfte in Erfahrungen von Blockaden, Brüchen, Trennungen, Mangel. Die vernetzten Vereinzelten können indessen unmöglich völlig beliebige Singularitäten sein, denn das telematische Dispositiv mit allen seinen attraktiven Oberflächen und Verbindlichkeiten wirkt längst identitätsstiftend zwischen ihnen. Durch ihre aufeinander bezogene techno-kommunikative Tätigkeit konstituieren sie eine Gemeinschaft, zu der sie einen positiven Bezug haben; sie ist bei ihnen beliebt. Sie kann allerdings auch in Haltungen der Arbitrarität im Sinn unterwürfiger Willkür abgleiten, wenn das Telematische das einzige ist, was der Gemeinschaft in der Aktualisierung vorübergehend Stabilität verleiht.

Netzwerken heißt, auf ein Gegenüber hoffen

Jede Generation schafft sich ihre eigenen Paradiese, und jede Generation benötigt ihren eigenen Zugang zu den Nicht-Orten der Verheißung, die einmal Utopien genannt worden sind; das sind ihre guten Rechte. Die gemeinen Bewohner der so genannten sozialen Netzwerke sind effektive Werbeträger, Multiplikatoren, Produkte. Aber sie sind auch Vereinzelte auf der Suche nach für sie sinnvollen Betätigungen und vor allem nach respektvollen Zuneigungen, die jenseits der statistischen Freundschaftserwartungen und Glückserfahrungen angesiedelt sind, die sie täglich erleben. Sie wollen nicht nur Assoziierte innerhalb eines maschinellen Funktionskreises sein, bei dem das ständige Unterstromstehen die größtmöglich erfahrbare Sensation darstellt. Ihr kommunikatives Handeln ist von der Hoffnung getrieben, die Freundschaft aus dem technischen Jenseits möge mitunter ins Diesseitige eines Erlebnisses verlängerbar sein, es möge auf der anderen Seite jemanden geben, der zuhören kann und der eine Sprache spricht, die nicht mit der rücksichtslosen Sprache der Eingliederer und Protokollführer identisch ist.

Anm. d. Red.: Der erste Teil des Essays erschien bei uns unter dem Titel Gegenwartseffekte. Die Fotos oben stammen von Andi Weiland und stehen unter einer Creative Commons Lizenz. Der Text entstammt Siegfried Zielinskis Buch [… nach den Medien] – Nachrichten vom ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Merve Verlags.

7 Kommentare zu “Das elektrifizierte Du

  1. Lieber Herr Zielinski

    Zwei Fragen. Sie sprechen im ersten Teil, in den zwei letzten Absätzen, die Erkenntnis an, “[daß] zum Ausgangspunkt eines Handelns werden [kann], das [man] sich der Unmöglichkeit souveräner Subjektivität längst bewusst ist.” Sind ihnen heute in der politischen Landschaft irgendwo Kräfte bekannt, die versuchen diese Erkenntnis in ihre politisches Handeln einzubeziehen?

    Zum anderen, wäre es nicht besser, anstatt die Gefahr des Umschlags in ein “faschistoides Handeln” bei Tippun und Agamben zu verorten, diese im »Zwang zur Individualität« zu sehen? Ganz konkret z.B. bei Mark Zuckerberg mit seiner programmatischen Behauptung “You have one identity!” Ist nicht dieser Trend zur totalen Gleichschaltung über die telematische Maschine, die den Menschen per Schnittstelle einer osmotischen Indoktrination aussetzt und den Menschen unmerklich blind und taub gegenüber jeglicher neoliberaler Willkür macht, eine Art Neo-Faschismus?

  2. How long does it take to see what we are building?
    How long does it take to make up for what we’re doing?
    How many are those who think … God was obliged …. ….
    more .. may be important tomorrow … tomorrow I’ll pick …
    hello
    I concendo a moment of time ….

  3. Die aktuelle Generation ist also in den sozialen Netzwerken doch nur auf der Suche nach der “echten” Erfahrung von Freunschaft?

  4. Bitte, das ist doch etwas hardcore losgeträumt! Die Suche nach dem “Echten”, sind wir denn da schon wieder… Ist ja nicht so, dass keiner “zuhören” will.

    Einen Fetzen finde ich nützlich in der Analyse des tamagotchisierten Lebens: “..die romantische Idee in der Post-Romantik notwendig durch die Dispositive des Technologischen gebrochen”.

  5. Nicht so einfach zu sagen: Der Wunsch nach dem “Echten”, das lese ich auch im Text oben als These.

    Üblicherweise wechseln sich ja immer eher barocke mit eher schlichten Weltsichten ab. Nach der Erschütterung der alten Welt/Ordnung kommt der Wunsch nach dem wahren, unverdorbenen, echten, natürlichen Leben. Ganz typisch in Texten der 20er Jahre.

    Was die Post-Romantik betrifft, so wundere ich mich: Eigentlich ist die klassische Romantik schon immer mit “technischen Dispositiven” verwoben. Und eine “Romantisierung der Welt” zu fordern und die Suche/Sehnsucht nach dem “Echten”, eigentlich gehört das zusammen, so ganz seltsam paradox.

    Einerseits Informationsflut, Transparenz, Interaktionsflut, Tamagotchisierung wie früher bei wenigen Börsenhändlern, ständiges Lauschen, andererseits..?!

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