#ChildhoodUnplugged: Digital ausgebrannte Kindheit und mögliches Kindsein im Netzzeitalter

Kindheit ist eine Projektionsfläche und ein Produkt der Werbeindustrie und der Medien. Nun ist mit dem Internet und vor allem den sozialen Netzwerken eine neue Kindheitsmaschine entstanden. Hochglanz-Instagram-Posts, Lifestyle-Elternblogs und witzige Tweets konstruieren Kindheit. Was bedeutet das alles fürs Kindsein heute? Berliner Gazette-Redaktionsleiterin Magdalena Taube unternimmt eine Bestandsaufnahme.

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#ChildhoodUnplugged ist ein beliebter Hashtag auf Instagram, der gleichnamige Kanal hat 140.000 AbonenntInnen. Wer die entsprechend markierten Fotos auf dem sozialen Netzwerk anschaut, bekommt Bilder zu sehen von Kindern, die fröhlich im Dreck wühlen oder in magischen sonnenuntergangsfarben durch Felder stromern. Die Bilder zeigen nicht nur schönen “Content”, sie sind vor allem schön anzusehen. Perfekt inszenierte Offline-Kindheit?

Erfunden hat den Hashtag eine Gruppe von FotografInnen, die auch eine Webseite betreiben. Dort erklären sie: “We are a group of photographers who are making a conscious effort to encourage our children to get back to the art of play. Letting go of technology, if only for a little while, to explore once again the magic of imagination and curiosity.”

Der Hashtag und der Kanal zeigen die Widersprüchlichkeit der Kindheit im Zeitalter von Smartphones und Influencer-Marketing: Zurück zur analogen Realität! Und zwar in Form von digital content! Anders gesagt: Der Wunsch nach einem digital Detox für die Kindheit, gepaart mit der permanenten digitalen Dokumentation derselben. Was bedeutet dieses Paradoxon für die Vorstellungen von Kindheit heute und vor allem: Was bedeutet das für das Kindsein?

Immer zusammen und trotzdem einsam

Ein sonntäglicher Besuch bei einer befreundeten Familie: Die beiden Mädchen, 13 und 15 Jahre alt, legen ihr Smartphone kurz aus der Hand, um Kekse und Saft zu servieren, der jüngere Bruder (9 Jahre) zeigt mir ein Spiel, das er seit Tagen ununterbrochen zockt und der Kleine (6 Jahre) guckt beglückt Cartoons auf einem der vielen Digitalgeräte des Haushalts. “Durchatmen”, denke ich, “das ist heute nun mal so.” Spaß macht es nicht gerade und auch die Versuche, wenigstens über die Inhalte ins Gespräch zu kommen, “mit wem chattest du denn so, was schaust du denn da, was spielst du…”, versanden recht schnell.

Ein gewöhnlicher Donnerstagnachmittag in einer Berliner Schule. Computer-AG. Im Computerraum. Das bedeutet: Schwarze Kisten mit Windowsbetriebssystem und einem Internetzugang, der von Chinas großer Firewall inspiriert zu sein scheint. Vor den Computern hocken junge Menschen, die auf ihren Smartphones daddeln. „Wir haben’s Magdalena!“ – „Was habt ihr?“ – „Wir wissen jetzt, wie wir die Computer hacken können!“ – „Ich bin stolz auf euch!“.

Haben Smartphones eine ganze Generation zerstört?

Können Technologien tatsächlich ganze Generationen prägen? Mit den Millennials – die erste Generation, die eine Welt ohne Internet nicht mehr kennt, schien das der Fall zu sein. Nun gibt es die iGen, geboren zwischen 1995 und 2012, die eine Welt ohne Smartphone nicht mehr kennt. Die Generationenforscherin Jean Twenge stellt ihre umfangreichen Analysen und ihr Konzept der iGen in einem Beitrag für The Atlantic vor.

Keine Spur von Kulturpessimismus und kein “Früher-war-alles-besser”, zum Glück. Twenge, selbst Mutter von drei Mädchen, ist sichtlich interessiert an der neuen Teenager-Generation, die viel weniger ausgehen als ihre VorgängerInnen, den Führerschein später machen, später Sex haben und natürlich sehr viel online sind.

Eine erschütternde Beobachtung Twenges ist, dass Teenager heute unglücklicher sind und Depressionen verbreiteter. Obwohl sie ständig online sind, quält sie das Gefühl “left out”, also nicht wirklich dabei zu sein: “Today’s teens may go to fewer parties and spend less time together in person, but when they do congregate, they document their hangouts relentlessly—on Snapchat, Instagram, Facebook. Those not invited to come along are keenly aware of it.”

Twenges Studie ist heftig kritisiert worden. Es seien nicht die Smartphones, die eine ganze Generation zerstört haben, sondern die Helikoptereltern oder die Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen. Klar, man macht es sich zu einfach, wenn man den Smartphones einfach die Schuld in die Schuhe schiebt. Aber wer heute als Erwachsener mit Kindern und Jugendlichen im alltäglichen Leben in Berührung kommt, ob als Eltern, im Bildungsbereich, wo auch immer, der fragt sich: Was ist hier eigentlich los? Was treibt die Kinder an, das zu tun, was sie tun und wie verändert sich die Rolle der Erwachsenen, die in der Verantwortung stehen?

Digitale Ratlosigkeit und dokumentierte Kindheit

„Not on Facebook“ stand auf einem Shirt, das unsere Tochter kurz nach der Geburt geschenkt bekommen hatte. Ein kleiner Gag – natürlich kann ein Baby nicht auf Facebook sein. Kurze Zeit später fand ich heraus, dass Freunde für ihr Kind ein Facebook-Profil angelegt hatten. Das Profil der damals Einjährigen war mit Blick auf ihre Zukunft erstellt worden: So hat sie später auch eine tatsächliche History auf dem Netzwerk. Während für uns von Anfang klar war: Keine Fotos des Kindes im Netz, entschieden sich unsere Freunde für den Angriff nach vorn.

Was bedeutet Kindheit in Zeiten von Social Media und Smartphone-Kameras, die das Rund-um-die-Uhr-Fotografiert-Werden und Rund-um-die-Uhr-Gestreamt-Werden begünstigen? Alles scheint vorbei zu sein, wie einige Listicles uns glauben machen wollen: Die Magie sei futsch von einer Zeit als alle mit dreckigen Füßen draußen spielten, während die Eltern teilnahmslos Zeitung lasen oder mit unangeschnallten Kindern in unsicheren Autos durch die Gegend bretterten. Doch während die „Früher-war-alles-besser“-Memes die digital ausgebrannte Kindheit der Gegenwart beweinen, scheinen sie zumindest genauso sehr mit Nostalgie beschäftigt zu sein, also weniger mit der Kindheit eigener Sprösslinge, sondern mit der eigenen, verloren gegangenen Kindheit beschäftigt zu sein. Können Leute, die in diesem Modus Kinder beim Aufwachsen begleiten, gute Eltern sein? Sind sie in der Lage, ihre Kinder und die Zeit, in der sie leben, so zu nehmen, wie sie sind?

Doch gehen wir nochmal einen Schritt zurück und fragen was ist 2018 wirklich anders? Ich nehme mal mich selbst als Maßstab: Der größte Unterschied zu meiner eigenen Kindheit ist die Menge an Bildern, die (fast) jede Kindheit heute begleiten. Meine Mutter hat für jedes ihrer Kinder genau ein Fotoalbum angelegt. Dort ist alles Wichtige drin: Der erste Termin beim Fotografen, Einschulung, Jugendweihe. Würde man die Fotos unseres Kindes in Alben kleben, wären bestimmt hunderte Bücher voll. Was bedeutet es, dass man so viele Momente festhalten kann? Was bedeutet es, Kindheit als Datenbestand zu verwalten? Was passiert beim Datenverlust?

Social Media und die Allerjüngsten

Ich muss zugeben, dass ich schon etwas überrascht war, als ich neulich bei Facebook eine Freundschaftsanfrage von einem Sechsjährigen erhielt. Jemand, von dem ich ziemlich sicher bin, dass er noch nicht lesen kann. Aber bei Facebook geht es offenbar auch ohne, jedenfalls können etwaige Hürden niemals jene Faszination ausbremsen, die soziale Medien auf Kinder ausüben. Kinder ahmen ihre Eltern gern nach und wenn diese oft am Smartphone kleben, dann denkt sich ein Kind: „Das muss aber spannend sein. Das will ich auch.“

So gibt es in Sachen „digitale Kindheit“ zum einen die Perspektive der Eltern, die das Leben ihres Nachwuchses heute permanent und in Echtzeit dokumentieren; die eigene Timeline wird dabei gut gefüllt mit likeable content. Zum anderen gibt es den Blick des Kindes: ablenkbar, affizierbar, absorbierbar. Doch was passiert, wenn Kinder nicht nur schauen, sondern selbst anfangen, die sozialen Medien zu nutzen? Was macht es mit den jüngsten UserInnen und wie verändert sich die Kindheitserfahrung?

Kulturpessimisten würden jetzt vermutlich vor dem totalen Autonomieverlust warnen und Studien heranziehen, die belegen, wie unglücklich das ständige Chatten, Liken und Bildschirmgucken machen kann. Und aus meiner (romantisierenden) Erwachsenensicht denke ich auch gerne mal: „Ach, es ist doch viel schöner mit Stöckern einen kleinen Staudamm zu bauen anstatt sich Katzenvideos anzuschauen.“ Aber wer sagt eigentlich, dass es immer ein Entweder-Oder geben muss? Wer sagt, das Tablets, Smartphones, etc. immer schlecht sein müssen für Kinder? Kinder leben 2018 und die Digitalisierung können wir nicht mehr zurückdrehen. Also lieber einen Ansatz finden, der Raum lässt, die physische Welt und die digitale Welt gleichermaßen zu erkunden.

Die Bloggerin dasnuf findet in ihrem Beitrag einen Mittelweg, wenn es um die Frage des Medienkonsums bei Kindern geht: Sie betont, dass es wichtig ist, dass Kinder nicht nur passive Konsumenten im Netz sind: „Das ist der Grund warum ich versuche, meine Kinder mit allem was mit Internet und neue Medien zu tun hat, zu ermutigen, den Anteil des reinen Konsumierens möglichst gering zu halten und den Anteil, in dem erschaffen wird, eher auszudehnen und fast gar nicht zu begrenzen.“

Die Albtraummaschine: Das Problem mit “kindgerechten” Inhalten auf YouTube

Es ist ein Traum von AkademikerInnen, dass das Netz das Gute im Menschen hervorbringt und somit auch das Gute in den Kindern. Sie werden zu Bastlern, erschaffen eigene Welten, verbinden sich mit anderen über Grenzen hinweg. So weit der Traum. Der Netzkritiker James Bridle lässt uns davon aufwachen – schweißgebadet wie nach einem Albtraum. Bridle befasst sich mit Inhalten, denen Kindern auf YouTube ausgesetzt werden und nimmt dabei bestimmte YouTube-Themenstränge auseinander und zudem die Kanäle, die hinter den vielen Clips stecken. Am Ende bleibt man fassungslos zurück.

Die überwältigende Masse von Videos ist ein nervenaufreibender Remix aus bekannten Charakteren, beliebten Liedern und Abzählreimen. Wird dieser Content überhaupt noch von Menschen produziert? Wie kann es sein, dass sogar im YouTube-Kinder-Modus verstörende Clips auftauchen, in denen beliebte Charaktere wie Peppa Pig gefoltert werden? Die Clip-Produktion auf YouTube und die gezielte Ansprache von Kindern nimmt Bridle zum Anlass um über den Zustand des Internets im Ganzen nachzudenken. Und ein Satz, der bei mir hängengeblieben ist, ist dieser:

„What concerns me is that this is just one aspect of a kind of infrastructural violence being done to all of us, all of the time, and we’re still struggling to find a way to even talk about it, to describe its mechanisms and its actions and its effects.“

Wir müssen reden. Es ist anstrengend, es macht keinen Spaß, doch wir müssen reden. Mit den Kindern, mit anderen Eltern, mit Erziehern, mit Lehrern. Smartphones verbieten bringt nichts. Digitale Kompetenz fordern und das Kind beim Restaurantbesuch mit dem Tablet ruhigstellen? Vielleicht noch mal hinterfragen.

Anm. d. Red.: Die Fotos im Text stammen von Matthias Ripp und stehen unter eine CC-Lizenz (CC BY 2.0).

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