Blaue Lektionen

Waehrend meines Aufenthaltes in St. Petersburg stellte sich heraus, dass selbst viele Russen die so genannten >Blauen Staedte< nicht kannten bzw. kennen. Denn ein Grossteil dieser Staedte war fuer den gemeinen Buerger nicht zugaenglich, weil geheim aufgrund von Forschungs- oder Militaerinteressen.

Diese Staedte entstanden in der Naehe von Industriestandorten, bei Atomkraftwerken u.ae., als Wissenschaftsstaedte zum Zwecke der Forschung. Sie wurden aber auch im Zuge der Errichtung von Wasserkraftwerken mit verschiedenen Folgeindustrien errichtet. Heute – d.h. seit Ende der Sowjetunion – unterliegen diese Staedte enormen Transformationsprozessen. Der nachhaltige Umbau von Grosssiedlungen ist jedoch nicht nur ein russisches Problem, sondern stellt ein internationales Aufgabenfeld dar.

Die >Blauen Staedte< sind ein Paradebeispiel, ein geradezu optimales Anschauungsobjekt fuer eine wissenschaftliche Untersuchung und ein Lehrbeispiel fuer den Umgang mit dem >sozialistischen Erbe<: Sie stellen zwar das klassische Resultat einer konsequenten und restriktiven Planung und deren Ausfuehrung unter planwirtschaftlichen Bedingungen dar. Aber der gesellschaftliche Wandel foerdert dort post-sozialistische Vorzeichen in viel staerkerem Masse zutage, als zum Beispiel in den Grosssiedlungen der Neuen Bundeslaender Deutschlands. Diese Staedte im Osten Russlands, die Staedte der Taiga sind in ihrem geschichtlichen und raeumlichen Hintergrund Extrembeispiele, sind Laboratorien der Geschichte. Es fehlen staatliche Subventionsprogramme genauso wie Planungsregularien, von einem technischen Planungs-Know-How bis hin zu einer Planungskultur und einer entsprechenden Buergerschaft, deren Beteiligung notwendig ist, um die Prozesse nicht nur oekonomisch, sondern auch oekologisch und sozialvertraeglich, also nachhaltig steuern zu koennen. Der Grundgedanke war: Wenn es moeglich ist, in diesen Staedten Planungsansaetze zu formulieren, die zu einer Verbesserung der staedtebaulichen Situation beitragen koennten, dann muesste es erst recht in Grosssiedlungen an anderen Stellen in der Welt moeglich sein. Die in meinem Buch diskutierten Planungsstrategien und staedtebaulichen Konzepte fuer oeffentliche Stadtraeume in Sibirien lassen sich allerdings nicht ohne weiteres auf andere neue Staedte uebertragen. Die baulichen Ressourcen innerhalb der Staedte, geografische und klimatische Gegebenheiten sowie soziooekonomische Bedingungen mit regionalspezifischen Lebensgewohnheiten und Mentalitaeten sind besondere Standortfaktoren, die fuer eine Erneuerung oeffentlicher Raeume jeweils individuelle Handlungsansaetze erforderlich machen. Bei allen ortsspezifischen Besonderheiten des Fallbeispiels >Blaue Stadt< bieten die gewonnen Erkenntnisse meiner Arbeit jedoch auch die Chance, die Situation in Deutschland zu reflektieren und Kernthemen zu identifizieren, wenn es um die Erneuerung oeffentlicher Raeume auch in deutschen Staedten und Grosssiedlungen geht. Meine Arbeit verweist beispielsweise auf die grossen Potenziale, die in der Einbeziehung liegen von landschaftlichen Elementen fuer die Gestaltung oeffentlicher Raeume in den >Blauen Staedten<. Die Landschaftsraeume in den sibirischen Staedten sind einzigartig und sie besitzen fuer die Bewohner in den Kommunen einen besonderen Stellenwert. Aber auch hierzulande lohnt sich - nicht nur in den Grosssiedlungen - ein Nachdenken ueber ein neues Verhaeltnis von Stadt und Land. Verbunden mit der demografischen Situation einer schrumpfenden und dabei zunehmend ueberalternden Bevoelkerung muesste dies eigentlich Anlass genug sein, neue Konzepte fuer innerstaedtische Gruenraeume und neue Formen der Stadtlandschaften zu entwickeln, um vor allem kinder- und altengerechtes Wohnen in den Staedten zu ermoeglichen und so die Kernstaedte wieder fuer die Menschen attraktiv zu machen. Auch die Debatte um den Stadtumbau Ost - mit grossen Leerstaenden in den Plattenbauwohnsiedlungen, aber auch in einigen Gruenderzeitgebieten - erfordert weniger staedtebauliche als vielmehr landschaftsplanerische Ansaetze fuer die Gestaltung der oeffentlichen Raeume. Warum sollten nicht Formen staedtischer Landwirtschaft auch als hinreichende Konzepte fuer den Umbau der ostdeutschen Grosssiedlung dienen koennen? Und warum sollten nicht Konzepte erfolgreich sein, die im Geiste des New Urbanism eigentlich randstaedtische, durchgruente Wohnformen in die >perforierten< Areale der Gruenderzeitgebiete bringen, wie es derzeit in Leipzig diskutiert wird? Laengst gibt es integrierte Bebauungs- und Gruenordnungsplaene in den Planungsaemtern, doch von einer Integration der Landschaftsplanung in die Studiengaenge der Architektur und Stadtplanung ist in der hiesigen Hochschullandschaft nur wenig zu spueren. Die Ausbildungsprofile in unseren Universitaeten behandeln die Bereiche der Landschaftsplanung stiefmuetterlich, degradieren sie meist zum Nebenfach und beduerfen dringend einer umfassenden Reform angesichts der bevorstehenden Aufgaben. Ein anderes Aufgabenfeld der Uebertragbarkeit bildet der Themenkomplex des Planungsrechts. Der russische Gesetzgeber steht vor der verantwortungsvollen Aufgabe, ein neues Planungsrecht aufzustellen, das einerseits die Kommunen in den Stand setzt, verantwortlich zu handeln und Buergerinteressen adaequat zu beruecksichtigen und gleichzeitig privatwirtschaftliche Interessen fuer die Staedte optimal in Wert setzt. Bei der Ausarbeitung und Praezisierung dieser Reform schauen die Verantwortlichen immer wieder auch nach Deutschland, obwohl doch auch hier Reformbedarf dringend geboten ist. Not macht im besten Fall auch erfinderisch. Das stellen die sibirischen Kommunen taeglich unter Beweis, und wer sich mit der Wirklichkeit in sozialistischen Staedten und postsozialistischen Staedten auseinandergesetzt hat, weiss, dass Mangel nicht nur und unbedingt Verlust bedeutet, sondern durchaus das Potenzial in sich birgt, voellig neue Formen der Kreativitaet und Ideen zu wecken. Die Blauen Staedte Russlands stehen in der Phase des Uebergangs noch ganz am Anfang. Niemand wird fuer diese Staedte in Sibirien in den naechsten Jahren Wunder erwarten angesichts der vorhandenen politischen und oekonomischen Unsicherheiten und Defizite. Die bestehenden gesellschaftlichen und die verwaltungstechnischen Strukturen, die fuer die Erneuerung der Staedte mitverantwortlich sind, werden vermutlich noch ueber laengere Zeit Bestand haben. Vielleicht koennen jedoch die Blauen Staedte in Sibirien, mit ihrem grossen Angebot an kollektiven Flaechen eine Vorreiterrolle bei der Gestaltung oeffentlicher Raeume spielen, wenn es gelingt, Alternativen zu einer kleinteiligen Parzellierung zu entwickeln, die der urspruenglichen Planungsidee dieser Staedte widerspricht.

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